Volkhard Mosler beleuchtet die Hintergründe des Kosovo-Konflikts und stellt sich die Frage wie der Nationalismus in der Region überwunden werden kann.
Die USA und die EU-Mehrheit unterstützen die Lostrennung des Kosovo von Serbien und die Gründung eines eigenen kosovarischen Staates. Russland und Griechenland unterstützen dagegen den Verbleib des Kosovo bei Serbien. In der Linken gibt es sowohl Stimmen gegen wie für eine Lostrennung. Ich sehe in der Zerschlagung Jugoslawiens und dessen „Balkanisierung" in mehrere Einzel- und Kleinststaaten eine historische Rückwende in den Nationalismus mit verheerenden Auswirkungen auf das Zusammenleben der verschiedenen Völker und Ethnien der Region. Massenmorde, Massenvertreibungen, neue Unterdrückung von nationalen Minderheiten gehen einher mit sozialer Verelendung und kulturellem Niedergang.
Die Ursache hierfür liegt zuerst darin, dass in Jugoslawien seit Ende der 1970er Jahre zunehmend soziale Spannungen in nationalistische Bahnen gelenkt wurden. Nach einer Welle von Streiks in den Jahren 1986/87 hatten zuerst die Präsidenten der Teilrepubliken Serbien und Kroatien (Milosevic, Tudjman) nationalistische Stimmungen geschürt. 1989 führte dies u. a. dazu, dass der Kosovo seinen 1974 erweiterten Autonomie-Statur wieder verlor. Der neue Nationalismus führte zu mehreren Kriegen, in deren Verlauf hunderttausende Menschen ermordet und vertrieben wurden.
Die nationalen Kriege im ehemaligen Jugoslawien waren nicht allein, ja nicht einmal in erster Linie, eine Erfindung imperialistischer Mächte wie Deutschland oder der USA, die diese von außen in einen intakten Mehrvölkerstaat hineingetragen hätten. Wie in allen „staatssozialistischen" Ländern gab es auch in Jugoslawien eine privilegierte Klasse, die schon in den 1980er Jahren, lange vor der militärischen Intervention von außen, die nationalistische Karte im Kampf gegen soziale Bewegungen von unten gezogen hatte.
Aus sozialistischer Sicht frage ich mich, wie dieser Nationalismus nun überwunden werden kann, und wie statt dessen der Geist der Solidarität auf dem Balkan gefördert und somit eine sozialistische Perspektive als Alternative zur nationalistischen Zerfleischung sichtbar werden kann. Dabei gehe ich von folgenden Grundüberlegungen aus, die nicht meine Erfindung sind, sondern in der Tradition eines lebendigen Marxismus ihre Wurzeln haben.
Es ist im Einzelfall zu beurteilen, ob der Kampf um nationale Lostrennung den Imperialismus schwächt oder ihn vielmehr stärkt.
Die Frage ist aus sozialistischer Sicht deshalb wichtig, weil die großen imperialen Mächte weltweit auch diejenigen sind, die über die Mechanismen der Globalisierung der Märkte und der Standortkonkurrenz Sozialabbau und Lohnraub im großen Stil betreiben und die auf dem Weg zu einer anderen Welt das Haupthindernis sind.
Nach diesem Kriterium wäre der nationale Befreiungskampf der Kurden in der Türkei zu unterstützen. Die Türkei ist heute eine Art „subimperialistische" Macht und neben Israel zentrale Säule des westlichen Imperialismus in der Region. Außerdem sind die Kurden in der Türkei, im Unterschied zu den Basken in Spanien oder den Kroaten und Slowenen im ehemaligen Jugoslawien, eine in Sprache und Kultur unterdrückte Ethnie.
Der Nationalismus der Kurden in Nordirak ist dagegen heute leider in eine Bewegung im Dienste des US-Imperialismus verkommen. Niemand hat das Recht, auf Kosten anderer Völker seine Unabhängigkeit dadurch zu erkaufen, dass er sich mit dem mächtigsten Imperialisten der Welt verbündet, den USA. Eben aus diesem Grund ist auch die Unabhängigkeitsbewegung des Kosovo nicht zu unterstützen, die keinerlei fortschrittlichen Merkmale aufweist, die selber zu den Mitteln der Vertreibung und Unterdrückung der nichtalbanischen Minderheiten im Kosovo greift.
Aus ähnlichen Erwägungen haben Marx und Engels sich gegen die Unterstützung der Nationalbewegung der „Südslawen" (Serben) gegen die Habsburger Monarchie gestellt. Sie sahen in deren Nationalbewegung ein Instrument der Stärkung des damals mächtigen Zarenreiches als Vielvölkergefängnis. Die Bestätigung dieser Einschätzung traf spätestens 1914 ein, als die „Schutzmacht" Russland auf der Seite Serbiens in den Krieg gegen die Habsburger Monarchie eintrat.
Die Kosovo-Albaner sind heute ein zuverlässiger Brückenkopf der USA und der EU-Mehrheit auf dem Balkan. Die Truppen der Nato schaffen auf dem Balkan neokoloniale Strukturen, die Kosovo-Albaner sind ihnen dabei behilflich. Es gibt kein abstraktes Prinzip, das befiehlt, diesen Pakt der Kosovo-Albaner mit den imperialen Mächten zu unterstützen. Ein unabhängiges Kosovo würde zwangsläufig mit der Vertreibung der restlichen Serben (noch sechs Prozent) aus deren nördlicher Provinz enden.
Jeder Zwang im Zusammenleben von Völkern und Ethnien ist prinzipiell abzulehnen.
Die friedliche Trennung Norwegens von Schweden 1905, die Trennung der Slowakei aus der alten Tschechoslowakei 1993, aber auch die Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten 1990 sind Beweise dafür, dass nationale Lostrennungen oder Vereinigungen nur ein Prinzip dulden: das demokratische. Nicht das Recht auf Scheidung unterhöhlt die Ehe, sondern Ungleichheit und Unterdrückung des einen durch den anderen Partner. Lenin, der diesen Vergleich zur Ehe immer wieder zog, hat sich mit den Fragen nationaler und kultureller Autonomie beschäftigt und in der Freiwilligkeit und der Überwindung von Zwang im Zusammenleben der verschiedener Volksgruppen auch das Prinzip gesehen, das allein geeignet ist, den Nationalismus zu unterhöhlen und dem Internationalismus und der Klassensolidarität über nationale Schranken hinweg den Weg zu ebnen.
Zwang und Unterdrückung schüren den Nationalismus der Unterdrückten, und umgekehrt führt nur das Recht auf nationale Selbstbestimmung zur Schwächung und Überwindung von Nationalismus. Und da Nationalismus in allen Formen der Feind der Klassensolidarität ist, gibt es gerade aus linker Sicht keine Alternative zum Recht auf nationale Selbstbestimmung, das immer auch das Recht auf die Bildung eines eigenen Nationalstaates einschließt und das ohne dieses Recht nicht wirklich besteht. Die Warnung vor einer Lostrennung des Kosovo von Serbien, dies könne den Nationalismus auch anderer kleiner Ethnien in Europa stärken und die Integrität z.B. Spaniens gefährden, ist nicht sehr logisch. Tschechen und Slowaken leben heute einträchtig nebeneinander, ohne nationalistische Spannungen. Das gleiche können wir leider nicht von den Spaniern und den Basken sagen.
Warum sollten sich Linke und Sozialisten zum Fürsprecher der „Integrität" der bestehenden imperialistischen Nationalstaaten in Europa machen? Das nationale Selbstbestimmungsrecht ist in jedem Fall zu unterstützen, auch wenn die Bayern oder die Bundesländern der ehemaligen DDR morgen mehrheitlich in einer Volksabstimmung für die Lostrennung aus der BRD einträten. In einer solchen Abstimmung sollten Linke natürlich gegen die Lostrennung Position beziehen, weil diese keinerlei fortschrittlichen Charakter hätte (siehe Punkt 1), aber sie sollte sich für das Recht darauf einsetzen. Anders ausgedrückt: Weder in Spanien, noch in Frankreich und schon gar nicht in der Türkei sollten sich Linke zu Fürsprechern der Einheit des Nationalstaates machen gegen Minderheiten, die ausscheren wollen.
Schlussfolgerungen
- Wir als Linke sollten für den sofortigen Abzug der Bundeswehr und der Nato aus dem Kosovo und dem Balkan eintreten. Ihre Anwesenheit führt zu neokolonialen Abhängigkeitsverhältnissen und dient dem Aufbau antirussischer Positionen in der Region. Ihre Anwesenheit war in der Vergangenheit kein Schutz für nationale Minderheiten vor Tod oder Vertreibung. So hat das Eingreifen der USA auf der Seite Kroatiens zur Vertreibung von 200.000 Serben aus der Krajina im Süden Kroatiens geführt und die Bundeswehr hat jene Einheiten albanischer Kämpfer mit bewaffnet und ausgerüstet, die die Vertreibung von Serben, Roma und Juden aus dem Kosovo betreiben. Aus dem gleichen Grund sollten wir uns allerdings auch nicht auf die serbische Seite stellen, wie es ein Teil der Linken macht, und die „Integrität" Serbiens verteidigen. Es war eine Schwäche des alten Jugoslawiens unter Tito, dass von allen großen Volksgruppen nur die Kosovo-Albaner nicht das verfassungsmäßige Recht auf Eigenstaatlichkeit besaßen. Aber das demokratische Prinzip auf Lostrennung umfasst auch das Recht der Serben gegenüber der albanischen Mehrheit innerhalb des Kosovo.
- Wir sollten uns für die Überwindung von Nationalismus und Kleinstaaterei einsetzen. Langfristig ist allein die Bildung einer sozialistischen Föderation der Balkanvölker mit vollständiger Gleichberechtigung aller Nationen und Volksgruppen geeignet, den Nationalismus und den Kreislauf von nationaler Unterdrückung, Krieg und Vertreibung zu durchbrechen. Die Aufspaltung Jugoslawiens hat die Region zum Spielball verschiedener imperialer Mächte gemacht, sie führt zu endlosen Kriegen und Konflikten, Vertreibung und neuer Unterdrückung. Die neue Balkanisierung ist eine schreckliche Entwicklung für alle Völker der Region und dient letztlich nur den imperialistischen Mächten wie Russland, Deutschland und den USA.
Volkhard Mosler (Die LINKE, KV Frankfurt/M.)
Mehr im Internet:
- Klaus Henning: Die Großmächte schaffen Kleinstaaten
- Yaak Pabst: Marxismus und die nationale Frage
- Christian Schröppel: Deutsche Truppen auf dem Balkan Friedensdienst oder Militarismus?
- Duncan Blackie: Der Zerfall Jugoslawiens und der Krieg auf dem Balkan