Israelische Soldaten berichten über ihren Einsatz in den besetzten Gebieten. Ihr Buch ist jetzt auf Deutsch erschienen. Paul Grasse hat eine Ausstellung mit ihren Bildern besucht
Die Ausstellung »Breaking the Silence« (Das Schweigen brechen), die für wenige Tage im Berliner Willy-Brandt-Haus gastierte, zeigt die Normalität der israelischen Besatzung, gesehen durch die Augen derer, die konkret für die Umsetzung der Unterdrückung der Palästinenser verantwortlich sind: die israelischen Soldaten. Die meisten von ihnen sind Wehrpflichtige, Teenager, die gerade die Schule verlassen haben.
Dutzende Fotos zeigen in der Westbank und Gaza alltägliche Szenen: willkürliche Durchsuchungen von Passanten, einträchtiges Beisammensein von Siedlern und Soldaten, Besetzungen von Häusern und damit einhergehende Zerstörung, mit gefesselten Menschen posierende Soldaten, Kontrollpunkte mit ewigen Menschenschlangen, auch mehrere persönliche Trophäenfotos mit einem erschossenen palästinensischen Kämpfer.
Moralischer Verfall
Diese Bilder, betont Nadav Bigelman, der durch die Ausstellung führt, zeigen keineswegs die Exzesse der militärischen Kontrolle, sie zeigen die Alltäglichkeit, die »Routine des moralischen Verfalls«. Jeder Soldat, der in den besetzten Gebieten eingesetzt wird, wird zwangsläufig alle roten Linien überqueren, erklärt Nadav.
Die Organisation »Breaking the Silence« wurde 2004 von Soldaten gegründet, die in Hebron eingesetzt waren. Inzwischen haben mehr als 850 israelische Soldaten über das, was sie während ihrer Dienstzeit gesehen und getan haben, berichtet. Die meisten von Ihnen erzählen anonym, weil sie befürchten, angegriffen zu werden und in Israel als Nestbeschmutzer zu gelten. Besonders seitdem Soldaten über Kriegsverbrechen während der Operation Gegossenes Blei, dem Überfall auf Gaza 2009, geschrieben haben, sind die jungen Reservisten und Veteranen unten durch.
Präsenz zeigen
Die israelische Armee verkauft sich und ihre Unterdrückungsmaßnahmen in den besetzten Gebieten als Verteidigung gegen den Terrorismus. Dass dem nicht so ist, wird anhand des Buches »Breaking the Silence« deutlich, das jetzt auch auf Deutsch erschienen ist. Dutzende Berichte sind unter vier Überschriften zusammengefasst, die vier Aspekte der wirklichen Rolle der Besatzungsarmee zusammenfassen: 1) Vorbeugung, 2) Trennung, 3) Lebensstruktur, 4) Ein duales Herrschaftssystem.
Yehuda Shaul war einer der Gründer der Organisation und betont, dass die Besatzung ein offensiver Mechanismus ist, keiner der Verteidigung. Hinter den vier unscheinbaren Begriffen, so führt Yehuda Shaul aus, verbirgt sich eine Verstetigung der Besatzung, ein Netz absoluten Kontrollanspruchs über die palästinensische Bevölkerung.
Einschüchtern und bestrafen
Die sogenannte »Vorbeugung« beinhaltet jeden Angriff israelischer Streitkräfte auf die Palästinenser – von Massenfestnahmen, die oft als Übung am lebenden Objekt dienen, bis hin zu Racheaktionen wie die Ermordung von 15 unbewaffneten palästinensischen Polizisten gilt alles als Vorbeugung gegen Terror. Der wirklich Sinn dahinter ist jedoch die Einschüchterung und kollektive Bestrafung der Palästinenser, das Gefühl, gejagt zu werden, soll die Bevölkerung nicht loslassen, berichtet Yehuda Shaul.
Die Trennung als zweiter Aspekt bezieht sich nicht darauf, dass Israel irgendwie daran interessiert wäre, eine Zwei-Staaten-Lösung zu erreichen, sondern auf die alte Regel des Teilen und Herrschen. Die wahre Trennung in den besetzten Gebieten, die durchgesetzt wird, ist die zwischen Palästinensern auf allen Ebenen, zwischen ihnen und ihrem Land, zwischen verschieden privilegierten und benachteiligten Palästinensern durch ein komplexes und gleichzeitig nicht verbindliches System von Erlaubnissen und Verboten.
Teilen und Herrschen
Als Drittes werden Berichte zusammengestellt, die belegen, dass die Besatzungsmacht versucht, sämtliche Ebenen des zivilen Lebens der Palästinenser unter absoluter Kontrolle zu halten – die Lebensstrukturen. Das Kapitel über das Herrschaftssystem belegt, dass es tatsächlich ein Apartheidsystem ist, mit dem die Palästinenser kontrolliert werden.
Es existieren zwei vollkommen unterschiedliche Rechtssysteme in der Westbank: Während für die mittlerweile 700.000 Siedler das normale israelische Zivilrecht gilt, für dessen Durchsetzung die Polizei verantwortlich ist, müssen die Palästinenser sich dem Militärrecht beugen, welches ein Konglomerat aus jordanischen, britischen und osmanischen Versatzstücken ist und von der militärisch kontrollierten so genannten Zivilverwaltung umgesetzt wird.
Diese Zivilverwaltung besteht aus Siedlern, die den stationierten Soldaten Befehle geben, berichtet Shaul. Es gibt also nicht nur unterschiedliche Lebensstandards, Straßennetze, Diskriminierung im Alltag, sondern tatsächlich gelten auf dem gleichen Gebiet für verschiedene Gruppen zwei Rechtsprechungen.
Besatzung im Hinterhof
Im alltäglichen Leben haben sich die meisten Israelis entschieden, die Besatzung einfach auszublenden, weil sie nichts darüber wissen wollen. Nur 10 Prozent der israelischen Rekruten dienen in den besetzten Gebieten.
Nadav Bigelmann erklärt den Besuchern der Ausstellung, dass er, obwohl aus einem linksliberalen Elternhaus stammend, mit dem Beginn seines Wehrdienstes zum ersten Mal die Besatzung wirklich wahrgenommen hat. Es war auch das erste Mal, dass er Palästinensern gegenüberstand, dann jedoch nicht auf Augenhöhe, sagt er. Er habe nie gelernt, die Palästinenser als Menschen, geschweige denn als Zivilisten zu betrachten.
Politisch gewollt
Diese Entmenschlichung will »Breaking the Silence« öffentlich machen. Die Verbrechen der Besatzungsmacht sind zwar Taten einzelner Soldaten, folgen aber einem System und sind politisch gewollt. Zum Abschluss der Runde durch die Ausstellung wird ein Ausbildungsvideo der israelischen Armee gezeigt, das den normalen Umgang mit Palästinensern am Checkpoint Huwara in der Westbank zeigt.
Grundlos und offen werden Palästinenser wieder und wieder von Soldaten geschlagen. Als das Video an die Öffentlichkeit kam, leitete die Armeeführung plötzlich einen Prozess gegen den Soldaten ein, der am brutalsten vorging, obwohl sie sein Verhalten vorher offenbar für beispielgebend gehalten hatte.
Dieses Bild, dass die alltägliche Brutalität nur Resultat individuellen Fehlverhaltens ist, versucht die Armeeführung zu erhalten. Dahinter jedoch, betonen die Aktivisten, steckt die ganze politische Logik aus Besatzung, Besiedlung und staatlichen Verbrechen. »Siedlungen sind nicht kosher«, sagt Yehuda Shaul zum Abschied.
Mehr im Internet:
Das Buch:
Breaking the Silence
Israelische Soldaten berichten von ihrem Einsatz in den besetzten Gebieten
Ullstein Verlag, 2012
416 Seiten
19,99 Euro
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