»Was gesagt werden muss« ist der Titel des von Günter Grass jüngst veröffentlichtem Gedichts, in dem er seine Sorgen wegen der Kriegsdrohungen Israels gegenüber dem Iran ausspricht. Die Welle der über Grass hereingebrochenen Kritik erweckt den bedrohlichen Eindruck eines tatsächlich kriegsgeilen Westens, meint Manfred Ecker
In dem Gedicht rechtfertigt sich Günter Grass für sein bisheriges Schweigen: »meine Herkunft, die von nie zu tilgendem Makel behaftet ist, verbiete, diese Tatsache als ausgesprochene Wahrheit dem Land Israel, dem ich verbunden bin und bleiben will, zuzumuten.«
Seine Kritiker können ihm nicht vorwerfen, er sei ein Gegner Israels, dennoch war dem Schriftsteller von vorhinein klar, dass ihm »Antisemitismus« vorgeworfen werden würde. Das ist seither in zahlreichen Artikeln geschehen. Beate Klarsfeld, eine verdiente Nazigegnerin, unterstellt, dass »wir von dem Blechtrommelspieler die gleiche antisemitische Musik [wie von Hitler, Anmerkung] hören«. Die Welt dichtet ihm an, er würde Israel die Planung eines neuen Holocaust unterstellen und so typisch deutsche Schuldumkehr betreiben. Sie alle haben das Gedicht entweder nicht gelesen oder sich darauf eingeschworen seinen Inhalt zu ignorieren.
Früchte von Netanjahus Kampagne
Vielleicht nicht schwerwiegender, aber in seiner Wirkung schädlicher ist der Vorwurf, der Autor würde die Tatsachen verdrehen. Nicht Israel sei eine Bedrohung für den Frieden, sondern vom Iran bzw. Mahmud Ahmadinedschad gehe die größte Gefahr aus. Die vielen Journalisten und »Fachleute« beweisen an diesem Punkt, wie uninformiert und wie ignorant sie gegenüber den jüngsten Entwicklungen sind.
Ist ihnen nicht aufgefallen, wie entschlossen Israels Premier Benjamin Netanjahu ist, den Iran anzugreifen, obwohl seine Pläne derzeit bei Barack Obama und Hillary Clinton auf wenig Verständnis stoßen? Ist ihnen entgangen, wie Netanjahu den amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf ausschlachtet, in dem sich die republikanischen Kandidaten in Loyalitätsbekundungen für Israel zu übertrumpfen versuchen? Günter Grass macht sich berechtigt Sorgen über einen bevorstehenden Angriff, der schwere Folgen nach sich ziehen würde.
Auch IAEO agiert unseriös
Ihnen ist auch entgangen, dass der Generaldirektor der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) Yukiya Amano von ehemaligem Führungspersonal der Behörde heftig dafür kritisiert wird, wie unverantwortlich er vage Behauptungen über das iranische Atomprogramm als Tatsachen darstellt. Robert Kelley, der ehemalige Leiter der IAEO in Wien und IAEO-Chefinspektor im Irak, erinnert daran, wie der Westen vor dem Angriff auf den Irak einem Konstrukt von Fehlinformationen über angebliche Massenvernichtungswaffen aufgesessen und in Kriegseuphorie versetzt worden ist.
Kelley ist selbst jemand, der glaubt, der Iran könnte ein geheimes Atomwaffenprogramm betreiben, er verlangt nur, dass seriöse Prüfungen höchst zweifelhafter Berichte stattfinden, anstatt ungeprüftes Material als Tatsachen herauszugeben. Aber seit dem Abgang von Mohammed el Baradei und der Übernahme der IAEO durch den Favoriten des Westens, Yukiya Amano, hat sich der Stil der Behörde gewandelt. So wenig Amano sich in der Lage sieht, Japans Atompolitik rund um die Reaktorkatastrophe von Fukushima zu kritisieren, so unvorsichtig äußert er sich gegenüber dem Iran.
Der Chef der 16 US-Geheimdienste, James R. Clapper, dem dasselbe Material wie der IAEO vorlag, äußerte sich viel umsichtiger: Bei einer Anhörung vor dem US-Senat im März 2011, sagte er aus, dass der Iran mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit derzeit keine Atomwaffen baue und dass aktuelle Berichte mit denen aus dem Jahr 2007 übereinstimmen würden, dass der Iran sein Atomwaffenprogramm bereits 2003 aufgegeben habe.
Arabische Revolutionen
Die Kritiker von Günter Grass beunruhigt es auch nicht, dass – wie es im Gedicht heißt – aus Deutschland »als Wiedergutmachung deklariert, ein weiteres U-Boot nach Israel geliefert werden soll, dessen Spezialität darin besteht, allesvernichtende Sprengköpfe dorthin lenken zu können, wo die Existenz einer einzigen Atombombe unbewiesen ist.«
Ein Angriff auf den Iran ist in den letzten Monaten tatsächlich wahrscheinlicher geworden, aber nicht weil sich die Beweise für iranische Atomwaffen seriöser darstellen, sondern weil die Lage Israels seit den arabischen Revolutionen prekärer geworden ist. Ein Fundament für die Existenz Israels auf besetztem Territorium war die willige Kooperation arabischer Diktatoren von Mubarak über Assad bis zu den Sauds, ungeachtet ihrer öffentlich geübten Rhetorik. Durch den wahrhaft heroischen Befreiungskampf der Menschen im arabischen Raum ist dieses Standbein Israels gefährdet.
Kritik an Israel unterdrücken
Was Günter Grass getan hat, kratzt an einem anderen Standbein Israels: der bedingungslosen und unkritischen Unterstützung des Westens. Wobei es hier große Unterschiede gibt. Die erwähnte Kritik an der IAEO etwa sucht man vergebens in deutschsprachigen Medien, sie stammt aus dem englischen The Guardian.
In Deutschland und Österreich bewirkt der von Grass beschriebene »nie zu tilgende Makel« leider kein größeres Unrechtsbewusstsein, er erlaubt stattdessen die Lieferung von U-Booten an die einzige Atommacht im Nahen Osten, die entschlossen um seine atomare Monopolstellung kämpft.
Günter Grass bleibt ein großer Dichter
Die Kritiker von Grass denken, der Autor habe sich durch sein verspätetes Geständnis – er hatte sich erst 2006 öffentlich dazu bekannt, als 16-Jähriger bei Kriegsende zur Waffen-SS eingerückt zu sein – seiner moralischen Glaubwürdigkeit beraubt. Aber das späte Geständnis ändert überhaupt nichts an seinem aufrechten Antifaschismus und der machtvollen Kritik, die er mittels seiner Bücher am Nazireich geübt hat.
Sein Werk war entscheidend daran beteiligt, das von oben verordnete Vergessen in der Nachkriegszeit zu durchbrechen. Henryk M. Broder, ein bekannter Journalist, der inzwischen vor allem für seinen notorischen islamfeindlichen Rassismus bekannt ist, greift bei seiner Attacke gegen Grass in diese Schublade: »Damals war er ein SS-Mann, heute schreibt er wie einer«!
Man muss mit Grass nicht immer einer Meinung sein: Die Beschreibung des iranischen Volks als von einem Maulhelden unterjocht und zum organisierten Jubel gelenkt, empfinde ich als beleidigend und eine den komplexen Realitäten der iranischen Gesellschaft nicht gerecht werdende Polemik. Aber die Unterstützung für seine Sorgen vor einem neuen Krieg im Nahen Osten bleibt davon unberührt. Und es bleibt auch die Verwunderung und Abscheu gegenüber der unfairen Kritik, die sein Gedicht »Was gesagt werden muss« ausgelöst hat.
(Zuerst erschienen auf Linkswende.org)
Mehr auf marx21.de:
- Israel auf dem Kriegspfad: Die arabische Revolution macht Demokratie und Freiheit im Nahen Osten möglich. Doch die israelische Regierung sieht das vor allem als Bedrohung an, meint Stefan Ziefle
- Warum dem Iran ein Krieg droht: Der Westen beschließt Sanktionen gegen den Iran. Angeblich soll das Land so daran gehindert werden, Atombomben zu bauen. Doch ginge es wirklich darum, würden USA und EU ganz anders handeln, zeigt Frank Renken.