Die Ermordung Benazir Bhuttos Ende letzten Jahres hat Pakistan weiter destabilisiert. Ein Interview mit Haroon Khalid, Sozialist aus Pakistan, über die Lage im Land und die Herausforderungen für die Linke.
Wie wird sich Benazir Bhuttos Tod auf Pervez Musharrafs Chancen, an der Macht zu bleiben, auswirken?
Bhuttos Ermordung hat das Regime Musharrafs stark geschwächt und zunehmend von der Unterstützung durch das Militär abhängig gemacht. Pakistan war schon vor der Ermordung in einer tiefen Krise. Die Armee war in zwei von den vier Provinzen des Landes in Bürgerkriege involviert. Lang andauernde Kriege toben in der Nordwestlichen Grenzprovinz (NWFP) sowie in Belutschistan. Das Militär und der Staat sind aus vielen Gebieten in diesen Provinzen vertrieben. Die USA haben Musharraf dazu gedrängt, hart durchzugreifen, vor allem in NWFP, wo die örtliche paschtunische Bevölkerung mit dem Kampf der Taliban gegen den Westen in Afghanistan sympathisiert.
Bhuttos Tod hat diese Spannungen verschärft. Das Militär ist neuerdings in eine dritte Provinz eingezogen, Sindh, in der die Hafenstadt Karachi liegt, um mit regierungsfeindlichen Unruhen fertig zu werden. Letzte Woche verkündete Musharraf den Verbleib der Truppen in Sindh bis lange nach den angekündigten Wahlen und es werden keine Proteste geduldet. Eine Regierung, die Proteste verbieten muss, ist eine schwache Regierung mit nur wenig Rückhalt in der Bevölkerung. Musharraf hat die Parlamentswahlen auf kommenden Monat verschoben, weil er in der öffentlichen Meinung abgerutscht ist und seine politischen Verbündeten außer Stande sind, eine Kampagne zu organisieren. Er hätte die Wahlen wahrscheinlich verloren.
Aber anstatt die Instabilität in Pakistan einzudämmen, werden die kommenden Wahlen die Spannungen voraussichtlich noch vergrößern. Keine der Hauptparteien kann die durch Neoliberalismus und den „Krieg gegen Terror" heraufbeschworene Krise lösen. Die landesweiten politischen Krisen häufen sich. Die herrschende Klasse macht einen zunehmend instabilen Eindruck. Die US-amerikanische herrschende Klasse, die Bhutto als Retterin präsentieren wollte, hat nun keine Strategie mehr für Pakistan. Die Schwäche der herrschenden Klasse eröffnet der Demokratiebewegung großartige Möglichkeiten.
In welcher Verfassung befindet sich die Demokratiebewegung in Pakistan heute?
Die Bewegung erreichte ihren Höhepunkt letztes Jahr mit der Kampagne zur Wiedereinstellung des obersten Richters, nachdem Musharraf ihn geschasst hatte. Sie genießt die Unterstützung vieler Rechtsanwälte, Journalisten, Bürgerrechlter und Studenten. Sie gingen auf die Straße in großer Anzahl und wurden durch die Staatsmacht brutal angegriffen.
Zu ihrer Schande haben sich die wichtigsten Oppositionsparteien – unter ihnen Bhuttos Pakistanische Volkspartei (PPP) – geweigert, sich ihnen anzuschließen. Sie wollten die Tür zu Gesprächen mit der Regierung nicht zuschlagen. Damit war die Bewegung der Repressionswelle ausgeliefert. Fast die gesamte Bewegung der Rechtsanwälte landete im Knast. Nun hat diese den Rückzug angetreten, nachdem der Staat den Notstand Ende letzten Jahres wieder aufgehoben und Wahlen verkündet hat. Die Führung der Rechtsanwaltsvereinigung war gespalten in der Frage, ob sie ihre Kampagne bis zur Entfernung Musharrafs fortsetzen oder sich damit begnügen sollte, wieder bloß als Standesorganisation zu fungieren. Die Studenten aber sind ein neues, viel versprechendes Feld für die Demokratiebewegung, auch wenn sich ihre Anzahl in Grenzen hält.
Die meisten Studenten, die sich der Bewegung angeschlossen haben, besuchen Elite-Universitäten. Sie haben ihre Proteste in den Hochschulen und auf den Straßen fortgesetzt. Die Arbeiterklasse hat bislang nur eine sehr geringe Rolle in der Demokratiebewegung gespielt. Trotz eines begrenzten Aufschwungs von Streiks und Betriebskämpfen in den letzten Jahren, haben jahrelange Militärunterdrückung, Privatisierungen, Entlassungen und Preiserhöhungen das Selbstvertrauen der Arbeiter, sich zur Wehr zu setzen, untergraben. Viele Arbeiter unterstützten still die Bewegung der Rechtsanwälte in der Hoffnung, ihr würde der Durchbruch gelingen und es entstünden dadurch neue Spielräume auch für die Gewerkschaften. Man kann aber jedenfalls sicher sein: Hätten die Führungen der wichtigsten Oppositionsparteien die Menschen auf die Straße gerufen, dann hätten die Arbeiter das nötige Selbstvertrauen zu handeln gehabt und das Regime wäre gestürzt.
Was für eine Meinung von Benazir Bhutto hatten die meisten Menschen und wen halten sie für schuldig an ihrer Ermordung?
Die Erwartungen an Benazir Bhutto waren sehr hoch, vor allem unter Arbeitern und den Armen, die hofften, sie hätte eine Lösung für ihre drängendsten Wirtschaftsprobleme. Die Menschen hofften wirklich, sie bürge für Veränderungen und sie stehe auf ihrer Seite. Das trotz der Tatsache, dass ihre beiden früheren Amtsperioden als Premierministerin von Korruption und Habgier gekennzeichnet waren. Bei ihrer jüngsten Rückkehr nach Pakistan versuchte Bhutto, an die ursprüngliche Ära der PPP 1967 anzuküpfen, als ihr Vater unter der Parole „Kleidung, ein Haus und genug zu essen für alle" kandidierte.
In den meisten Reden sprach sie von der Notwendigkeit, angemessene Arbeitsplätze zu schaffen und den Lebensstandard der Mehrheit zu erhöhen. Viele schenkten ihr Glauben. Die herrschenden Klassen Pakistans und der USA sehen politische Führer mit Massenanhang als äußerst gefährlich an. Und, trotz ihrer Vergangenheit, hatte Bhutto sehr viel Unterstützung unter den Massen. Die USA spürten, dass Musharraf an Boden verlor, und sie entschlossen sich, Benazir mit ins Boot zu holen, in der Hoffnung, sie würde Pakistan als Bündnispartner im „Krieg gegen den Terror" halten können. Sie versprachen, Musharraf zu einer Teilung der Macht mit ihr zu zwingen. Als klar wurde, dass dieses Arrangement nicht funktionieren würde, wurde Bhutto ermordert. Viele Pakistaner sehen darin Musharrafs Hand im Spiel, nicht die der Islamisten.
Westliche Berichterstatter erzählen gerne, Musharraf sei die letzte Schutzwahl gegen eine Machtergreifung durch „islamische Fundamentalisten". In welcher Beziehung stehen die Islamisten zum Staat?
Die Regierung pflegt dieses Image ganz bewusst, sowohl daheim als auch im Ausland. Es gibt terroristische Aktivitäten – oftmals als Erwiderung auf pakistanische Militäropperationen in den Stammesgebieten, wie beispielsweise die jüngsten Luftangriffe auf ein Dorf, bei denen mehr als 50 Menschen getötet wurden. Der Staat ist schnell bei der Sache, sie als „Selbstmordattentate" zu klassifizieren. Aber nur in den allerwenigsten Fällen wird belegt, wer für den Anschlag verantwortlich und was ihr Motiv war. In vielen Gebieten ist der Staat dermaßen unbeliebt, dass Beamte vor Ort nicht einmal ihren grundlegenden Aufgaben nachkommen können, und ihre Büros und Schulen bleiben zu. In diesen Gebieten gibt es häufige Angriffe, aber es wäre eine vollkommene Übertreibung zu behaupten, dass „Extremisten" drauf und dran wären, den zentralen Staatsapparat zu übernehmen.
Die wichtigsten islamischen politischen Parteien sind allesamt konservativ. Sie unterscheiden sich in Unterstützer und Gegner des Musharrafregimes. Die Regimegegner unter ihnen berufen sich gern auf ihre Ablehnung der regierungsseitigen Unterstützung für den „Krieg gegen den Terror". Aber islamische Parteien waren in der NWFP-Regierung während der Zeit der militärischen Angriffe, so dass sie zunehmend unbeliebt sind.
Das Interview erschien zuerst in der englischen Wochenzeitung Socialist Worker . Aus dem Englischen von David Paenson.