Dr. Habibe Erfan, Frauenärztin und Provinzrätin in Kundus (Afghanistan), sprach mit marx21 über das Bombardement bei Kundus im vergangenen Jahr, die Lage der Betroffenen und die Situation der Frauen im Land. Sie fordert Gerechtigkeit für die Hinterbliebenen des Bombenangriffs.
marx21: Frau Dr. Erfan, können sie uns erzählen was in der Nacht der Bombardierung am 4. September 2009 passiert ist und wie ihre Arbeit in den Tagen danach aussah?
Dr. Habibe Erfan: Ich war eine der Wenigen, die am dritten Tag nach dem Bombardement vor Ort waren und sich ein Bild von dem Unglück machen konnten. Es war eine so unmenschliche Tat. So etwas gab es in der Geschichte von Kundus noch nie. Es gab so viele Opfer, unter ihnen waren Väter, Mütter und Kinder. Sie wurden zu Witwen und Waisen.
Die Opfer waren größtenteils Schaulustige. Sie wollten sich Benzin holen. In Afghanistan leben viele Menschen in bitterer Armut. Sie nutzen jede Möglichkeit, um an Benzin oder andere Brennstoffe heranzukommen.
Es war Ramadam. Die Menschen waren alle wach, sie hatten vor Sonnenaufgang schon das Frühstück zu sich genommen. Sie hörten die Flugzeuggeräusche, aber sie waren für sie nicht beängstigend.
Fugzeuggeräusche sind nichts ungewöhnliches und deuten normalerweise nicht auf eine akute Gefahr hin. Aber die Neugierde der Menschen war geweckt. Immer mehr Menschen, darunter viele Kinder, liefen zu dem in der Sandbank steckenden Tanklaster.
Als Provinzrätin gehörte es zu meinen Aufgaben, nach dem Unglück zu den Betroffenen zu gehen und ihnen mein Beileid zu bekunden und an den Trauerfeiern teilzunehmen. Ich fand die Menschen in einem unbeschreiblichen Zustand vor. Laut klagend wurden die Toten, oft die Ernährer der Familien, betrauert. Eine Mutter konnte von ihrem Sohn noch nicht einmal mehr die Asche vorfinden. In allen Familien herrschte unendlich großes Leid.
Wie sind sie weiter vorgegangen, um den Verletzten und Hinterbliebenen zu helfen?
Wir haben ein sechsköpfiges Rechercheteam aus Provinzräten, Ärztinnen, einem Provinzältesten, einem Entwicklungsingenieur, der beim Wiederaufbau engagiert ist, und mir ins Leben gerufen. Wir haben mit internationalen Hilfsorganisation, der afghanischen Menschenrechtskommission und dem lokalen PRT (Provincial Reconstrucion Team, multinationale Militärbasen, Anm. der Redaktion) und UNAMA (die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan, Anm. der Redaktion) Kontakt aufgenommen. Um die Zahl der zivilen Opfer festzustellen, gingen wir von Dorf zu Dorf. Insgesamt mussten wir 113 Tote und 7 verletzte Zivilisten feststellen. Unter ihnen waren 26 Schulkinder im Alter von 5 bis 16 Jahren.
Die zivilen Opfer konnten anhand der Wahlausweise (Taliban gehen nicht wählen und haben deshalb auch keine Wahlausweise) oder weiterer Ausweisdokumente festgestellt werden. Die getöteten Kinder haben wir anhand von Schulzeugnissen identifiziert. Schulleiter meldeten uns vermisste und fehlende Kinder. Zu diesem Zeitpunkt hat die afghanische Regierung noch jegliche zivilen Opfer geleugnet. Nachdem unser Team die Recherchen vorgelegt hatte, gab die Regierung die Möglichkeit ziviler Opfer zu.
In den Wochen danach haben wir uns regelmäßig getroffen um unsere Ergebnisse und Informationen auszutauschen und haben über einen afghanischen Frauenverein Kontakt mit dem Hamburger Anwalt Karim Popal aufgenommen. Er wurde bei einem Treffen von den Hinterbliebenen beauftragt, ihre Interessen zu vertreten. Wegen der hohen Analphabeten-Rate hat er seine Vollmachten in Form von Fingerabdrücken erhalten.
Was konnten Sie bisher für die Hinterbliebenen erreichen?
Im Winter, der auf das Bombardement folgte, organisierte unser Team eine Soforthilfe für die Hinterbliebenen in Form von Gaskochern, Reis, Decken u.ä., die über die Bundeswehr und das PRT verteilt wurden. Das hat aber nur kurze Zeit geholfen, jetzt leben die Witwen und Waisen wieder in bitterer Armut.
Die von der deutschen Regierung versprochenen 5000 Euro Entschädigung sind zum größten Teil bei den Frauen gar nicht angekommen. Sie durften das Geld bei den offiziellen Stellen nicht abholen, sie wurden wieder weggeschickt. Mit der Abholung sollten sie einen Mann beauftragen. Sehr oft wurden die Frauen nicht von den öffentlichen Stellen benachrichtigt, sondern ein männlicher Verwandter. Sie haben nicht erfahren, dass sie eine Entschädigung erhalten sollten und die meisten Männer haben das Geld für sich behalten.
Wie kann die Hilfe wirksam bei den Frauen ankommen?
Man müsste ein zentrales Konto einrichten auf das die Entschädigungen eingezahlt werden können. Frauen haben die Möglichkeit, in eine Bank zu gehen, können aber nicht zu offiziellen Stellen wie dem PRT oder der Provinzregierung gehen. Diese Lösung ist aber bisher von allen ignoriert worden. Allerdings reichen einmalige Entschädigungszahlungen nicht aus, um die Not der Hinterbliebenen zu lindern. Von 5000 Euro kann eine Familie in Afghanistan ein halbes Jahr leben. Danach ist das Geld aufgebraucht. Die Hinterbliebenen leben in völliger Hilflosigkeit. Sie haben teilweise den Haupternährer und ihr Obdach verloren. Sie fordern und brauchen eine dauerhafte, nachhaltige Hilfe z.B. in Form von Land oder Feldern, die sie bearbeiten können. Die Menschen wollen langfristige Projekte, in denen die Witwen arbeiten können um ihre Familie zu ernähren. Sie wollen Obdach, Land, eine Hilfe zur Selbsthilfe.
Können die Mütter, die ihre Kinder und Männer verloren haben, irgendwo Hilfe finden um ihre Trauer zu verarbeiten?
Die Lage der Mütter ist wirklich schlimm, ich habe selbst sieben Kinder und das Leid der Frauen geht mir sehr nah. Es gibt für diese Mütter auch keine ärztliche oder psychologische Betreuung. Psychologen kann man mit Glück in Pakistan finden. Die Dorfgemeinschaft hält zwar zusammen und auch in den Moscheen finden sie Halt, aber, es ist zu viel Leid auf einmal, sie können es nicht ertragen. Ärzte wie ich fungieren auch als Seelsorger, aber eigentlich können wir das nicht leisten.
Wie gefährlich ist die Lage momentan für die Bevölkerung? Hat sie sich durch das Bombardement verändert?
Vor zwei Jahren war die Sicherheitslage noch ganz gut, nach dem Bombardement hat sie sich sehr verschlechtert. Auch haben die Taliban nach dem Bombardement verstärkt Zulauf bekommen. Die Menschen suchen nach Antworten.
Allgemein glaube ich, hat sich die Sicherheitslage durch die Anwesenheit der Nato, vor allem der Amerikaner, verschlechtert. Die Deutschen waren eigentlich immer sehr angesehen in Afghanistan, es bestand eine lange Freundschaft zwischen den beiden Ländern, dass diese Bombardierung von den Deutschen initiiert wurde, hat die Menschen geschockt.
Was ist das für ein Gefühl, vor dem Untersuchungsausschuss des Landes auszusagen, dass dieses Leid verursacht hat?
Dieses Land hat die Menschenrechte verletzt, dafür muss es eine Wiedergutmachung geben. Die Afghanen sind nicht weniger wert als andere Menschen.
Ich plädiere für einen zivilen Wiederaufbau. Die Lösung der Probleme muss langfristig wieder in die Hände der Afghanen gelegt werden. Zur Zeit ist Afghanistan dazu noch nicht in der Lage, deshalb brauchen wir die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft insbesondere beim Wiederaufbau.
Ist überhaupt ein ziviler Alltag möglich? Wie steht es um die Rechte der Frauen?
Es ist wichtig zu wissen, dass die Frauen gerne wählen möchten. Aber sie haben Angst, weil sie deshalb bedroht und unterdrückt werden. Frauen, die für das Parlament kandidieren wollen, haben dies unter schwierigsten Umständen gemacht, im Wahlkampf war ihr Leben ständig bedroht.
Sich in der patriarchalischen Struktur in den Familien zu behaupten, ist für die Frauen oft schon schwer genug – und durch die Kriegsjahre wurden sie noch um eine lange Zeit zurückgeworfen. Aber sie kämpfen trotzdem unermüdlich weiter für ihre Rechte. Die gesamte kulturelle Entwicklung wurde durch den Krieg weit zurückgeworfen Die Bildung gerade der Frauen ist durch den Krieg auf einem sehr niedrigen Niveau.
Besonders dramatisch ist die Situation für Frauen, wenn sie ins Gefängnis müssen. Niemand draußen würde sich um ihre Kinder kümmern, sie müssen zusammen mit den Kindern ins Gefängnis. Wer Geld hat, kann sich aus dem Gefängnis freikaufen, die Mehrheit aber, die armen Frauen, verbringen den Rest ihres Lebens im Gefängnis. Eine inhaftierte Frau war so verzweifelt, dass sie mich bat ihre Kinder zu verkaufen, um die Situation für alle erträglicher zu machen.
Es wird so viel über Frauenrechte geredet, aber das ist alles blanke Theorie! In der Praxis haben Frauen keinerlei Rechte. In Afghanistan herrscht Anarchie, es ist kaum zu fassen, welche Belastungen die Menschen ertragen müssen. Auf dem Land ist die Lage noch verheerender als in den Städten. Vielerorts werden Frauen noch gegen Tiere getauscht.
Sie sind als Frauenärztin tätig. Auf welche Probleme stoßen sie bei ihrer Arbeit?
Ich habe in Pakistan studiert, während meine Familie dort als Flüchtlinge gelebt hat. Mittlerweile habe ich eine eigene Praxis. Das vorherrschende Problem ist sicher der große Andrang. Wir haben zu wenig Ärzte, zu wenig Frauenärztinnen. Das hat schlimme Folgen, einmal gab es sogar eine Totgeburt in der Warteschlange vor meiner Praxis. Durch den großen Andrang habe ich von den einsetzenden Wehen dieser Frau nichts mitbekommen und konnte ihr nicht mehr rechtzeitig helfen.
Wie gehen die Frauen und ihre Familien mit den Themen Verhütung und Abtreibung um?
Es gibt kaum Abtreibungen, die Pille wird fast gar nicht genommen. Je mehr Kinder eine Frau bekommt, desto besser ist es. Das ist immer noch die vorherrschende Meinung. Ich will darüber aufklären, dass zu viele Kinder auch sehr viele Nachteile bedeuten können. Das ist aber nur sehr schwer zu vermitteln. In den letzten fünf Jahren hat die Aufklärung Früchte getragen, es gibt immerhin etwas mehr Interesse an Verhütung. Aber Frauen, die durch eine Vergewaltigung schwanger werden, werden oft nach der Geburt des Kindes von ihren eigenen Eltern getötet!
Sind sie als politisch engagierte Frau gefährdet?
Ich habe oft Angst vor Angriffen, wir müssen uns oft verstecken, oft umziehen, woanders leben – um zu überleben. Auch meine noch in Afghanistan lebenden Kinder führen deshalb ein Nomadenleben. Bei einem Anschlag vor Jahren wurde mein Bruder getötet, es ist gut möglich, dass der Anschlag mir gegolten hat. Meine Kinder machen sich Sorgen um mich und haben mich wiederholt aufgefordert mein Engagement zu beenden, aber ich kämpfe auch für ihre Zukunft weiter.
(Die Fragen stellten Natalie Dreibus und Lisa Hofmann)
Zur Person:
Dr. Habibe Erfan ist Frauenärztin, Provinzrätin in Kundus /Afghanistan und hat für das afghanische Parlament kandidiert. Sie war maßgeblich daran beteiligt die Folgen des Bombardierung der Bundeswehr auf zwei Tanklaster in Kundus am 4. September 2009 aufzuklären. Am 29. Oktober 2010 sagte sie als erste Afghanin und erste Frau vor dem Untersuchungsausschuss zu der Bombardierung im deutschen Bundestag aus.
Spendenaufruf:
Die Hinterbliebenen der Bombardierung verklagen mit der Hilfe deutscher Anwälte die Bundesregierung, um eine gerechte Entschädigung zu bekommen. Um diese Klage einzureichen müssen pro Kläger 10.000 Euro hinterlegt werden. Hierfür werden dringend Spenden benötigt. Mehr Informationen und Kontodaten im Spendenaufruf (PDF, 114 KB)
Mehr auf marx21.de:
- Reisebericht aus Afghanistan: »Mehr Soldaten, mehr Probleme«: Anfang des Jahres bereisten die LINKE-Bundestagsabgeordneten Christine Buchholz und Jan van Aken Afghanistan. Dort haben sie mit Opfern des deutschen Luftangriffs in Kundus gesprochen, bei dem im September vergangenen Jahres über 140 Menschen getötet oder verletzt worden sind. marx21 dokumentiert ihren Reisebericht.
Mehr im Internet:
- Hintergrund zur Bombardierung bei Kundus (Broschüre anlässlich einer Gedenkveranstaltung; PDF, 1,4 MB)