Die Revolution am Nil tritt in eine neue Phase. Der Kairoer Sozialist Sameh Naguib analysiert die religiösen Kräfte aus Sicht der Linken.
Die derzeitigen Diskussionen von Linken und Liberalen über die islamistische Bewegung in Ägypten sind von gewisser Hysterie geprägt. Der Grund dafür liegt unter anderem in der Tatsache, dass wir uns zwar in der ersten Phase der größten Volksrevolution in Ägyptens Geschichte befinden, die Kräfte der Linken aber klein und zersplittert sind, während die Muslimbruderschaft die größte Organisation der ägyptischen politischen Szene darstellt. Diese erregte Stimmung hat sich noch verschärft, weil nun auch die Salafisten und die extremistischen islamistischen Gruppierungen die politische Bühne betreten haben.
Widersprüchliche Islamisten
Die meisten Linken werfen die Islamisten unterschiedlicher Ausrichtung einfach in einen Topf, sie halten sie alle für gleichermaßen reaktionär und konterrevolutionär. Aber dieser Ansatz ist eine oberflächliche Verallgemeinerung, die nichts zu unserem Verständnis der Widersprüche in der islamistischen Bewegung beiträgt. Im Gegenteil führt sie zu Verwirrung und Frustration, denn wie können wir erfolgreich den Islamisten etwas entgegensetzen, wenn sie tatsächlich so organisiert und mächtig sind, wie einige Linke fürchten?
Wichtig ist in der kommenden Phase, weder die Auswirkungen der islamistischen Bewegung auf die Revolution, an der Millionen beteiligt waren, zu überschätzen, noch die Gefahren zu unterschätzen. Wir müssen begreifen, dass ein großer Teil der Massen die Islamisten nicht unterstützt, sondern nach Alternativen sucht, und dass dies die einmalige Gelegenheit für die Linken ist, ihre Anhängerschaft erheblich zu vergrößern oder Organisationen aufzubauen, wo es noch keine gibt.
Die Bruderschaft in der ersten Phase
Die Bruderschaft war an den Demonstrationen vom 25. Januar offiziell nicht beteiligt, sie wies ihre Jugendaktivisten sogar an, sich davon fernzuhalten. Viele junge Bruderschaftsmitglieder konnten sich der revolutionären Flut jedoch nicht entziehen und gingen trotzdem auf die Straße. Die Führung kam sehr schnell unter Druck, als sie begriff, dass die Demonstrationen sich zu einer Volksrevolution entwickelten, und die Organisation begann ihre gesamte Anhängerschaft auf die Straße zu bringen.
Mit dieser Wende wurden aber die Widersprüche und Meinungsverschiedenheiten in der Organisation nicht aufgehoben. Als der ehemalige Geheimdienstchef und kurzzeitige Vizepräsident Omar Suleiman sie zu Gesprächen einlud, kam es zu scharfen Auseinandersetzungen im Leitungsbüro, dem Führungsgremium, die damit endeten, dass die Bruderschaft die Einladung annahm und wir zusehen konnten, wie ihre Führungsleute zusammen mit Suleiman und Rifa'at al-Sa'id, dem Chef der linksgerichteten Sammlungspartei (Tagammu), unter einem riesigen Bild von Husni Mubarak zusammensaßen.
Das brachte der Führung bei ihren jungen Aktivisten, die auf der Straße gegen die Schläger und die Staatssicherheit gekämpft hatten, wenig Sympathie ein. Sie zwangen ihre Führung, die Gespräche einzustellen, und diese behauptete, die skandalösen Treffen hätten ausschließlich stattgefunden, um an Informationen zu kommen.
Typische Schwankungen
Die Bruderschaft war zu Beginn keine konterrevolutionäre Kraft, aber sie konnte sich auch nicht ohne Schwankungen und Spaltungen an der Revolution beteiligen. Das Leitungsbüro agierte vor allem aufgrund des Drucks verschiedener Strömungen in der Organisation und nicht aufgrund einer prinzipiellen Unterstützung der Revolution. Insbesondere wegen des unglaublichen Drucks der Bruderschaftsjugend, die während der Revolution Teil der Massen auf der Straße wurde, musste sie handeln.
Diese Schwankungen und Widersprüche sind für die Bruderschaft nichts Neues, wie die gesamte Geschichte der Organisation zeigt, von der Gründung durch Imam Hassan al-Banna bis heute. Ende der 1940er Jahre gelang es der Monarchie, den Kern der Organisation zu zerstören, trotz ihrer Stärke und ihrer halben Million Mitglieder, indem sie die scharfen Meinungsverschiedenheiten in der Organisation und das Schwanken der Führung im Kampf gegen das Regime ausnutzte. Zu einer ähnlichen Krise kam es in den ersten Jahren der Revolution der Freien Offiziere vom Juli 1952, als die inneren Spaltungen und die schwankende Führung dem Regime Nassers die Möglichkeit verschaffte, die Bruderschaft zu zerschlagen.
Gegensätzliche Klassen
Dieses ständige Schwanken zwischen Opposition und Kompromiss, zwischen Eskalation und Stillhalten liegt in der Natur der Bruderschaft als religiöse Volksgruppierung, in der sich Flügel des städtischen Bürgertums, des traditionellen Kleinbürgertums und der modernen Mittelschicht (Studenten und Universitätsabgänger), Arbeitslose und viele Arme gesammelt haben. Diese Struktur ist in Zeiten politischer und sozialer Ruhe stabil, aber verwandelt sich in Zeiten großer Veränderungen in eine Zeitbombe, wenn es fast unmöglich wird, die unterschiedlichen widerstreitenden gesellschaftlichen Interessen unter einer breiten und vagen religiösen Botschaft zu vereinen.
Diese Widersprüche zeigen sich auch in der Haltung der Gruppe zum Kolonialismus und Zionismus. Wir können Differenzen feststellen zwischen denen, die das Abkommen von Camp David, den Friedensvertrag mit Israel, ganz aufkündigen wollen, und jenen, die erklären, dass die Bruderschaft alle internationalen Verträge achtet. Wir können Reden finden, die sich scharf gegen den US-amerikanischen Kolonialismus wenden, während andere Bruderschaftsmitglieder sich regelmäßig mit US-Beamten treffen (in einem der Wikileaks-Dokumente heißt es, dass wiederholte Treffen und Verhandlungen zwischen den US-Beamten und Muhammad Katatani, einem Mitglied des Leitungsbüros, stattgefunden haben). Es muss betont werden, dass es sich dabei nicht einfach um politischen Opportunismus handelt, sondern um das unvermeidliche Ergebnis der Zusammensetzung der Gruppe und ihrer inneren Widersprüche.
Die Bruderschaft in der zweiten Phase
Volksrevolutionen bewegen sich schnell von einer Phase zur nächsten, aber diese Phasen überlappen sich auf vielschichtige Weise. Was als demokratische Revolution zum Sturz der Diktatur und der Beendigung von Korruption beginnt, verwandelt sich blitzschnell, wenn die ursprünglichen Ziele erfüllt sind, und es folgt eine Vielzahl von Forderungen sozialen und wirtschaftlichen Inhalts, mit denen auch grundsätzlichere Fragen der Demokratie aufgeworfen werden. Genau in diesem Moment ändern die politischen Kräfte plötzlich ihre Positionen. Wer gestern noch ein Revolutionär war, kann über Nacht zum Feind einer Fortsetzung und Vertiefung der Revolution werden.
Eben das konnten wir im Fall der Führung der Muslimbruderschaft erleben. In der Volksabstimmung über die gegen die Demokratie gerichteten Verfassungszusätze, wie sie vom Obersten Rat der Streitkräfte vorgelegt wurden, stellte die Bruderschaft sich an die Spitze einer »Ja«-Kampagne, wobei sie schamlos Religion als Waffe einsetzte. Uns interessiert hier nicht das Benutzen der Religion, was keine neue Taktik ist, sondern das Bündnis zwischen der Führung der Bruderschaft und der Armee, um die Zustimmung zu den Verfassungszusätzen zu sichern, was eine Beleidigung für die ägyptische Revolution ist.
Die Vertiefung der Revolution bedeutet, dass es früher oder später zu einem Zusammenstoß mit der herrschenden Militärjunta kommen wird. Sie wird dann ihr wahres Gesicht zeigen als fester Bestandteil des alten Regimes mit all seiner Gewalt und Bestechlichkeit. Dieses hässliche Gesicht hat sich schon bei den Verhaftungen, bei Folter und der Zerschlagung von Demonstrationen und Streiks gezeigt, insbesondere aber, als das Militär am 8. April mit todbringender Gewalt gegen das Protestlager auf dem Tahrirplatz vorging.
Die Bruderschaft und die Armee
Zu den großen Demonstrationen an jenem Morgen hatte die Muslimbruderschaft voll mobilisiert. Sie drängte darauf, dass der Oberste Rat der Streitkräfte die strafrechtliche Verfolgung der Symbolfiguren des alten Regimes, insbesondere Mubaraks, beschleunigte. Als jedoch ein Teil der Menge, wozu auch eine Gruppe junger Armeeoffiziere gehörte, entschied, ein Sit-in über Nacht fortzusetzen, versuchte die Bruderschaft verzweifelt die Position des Militärrats zu verteidigen und scheute sich nicht, dieselben Lügen zu verbreiten, wie die, dass Soldaten und Sicherheitskräfte, die das Lager in den Morgenstunden gestürmt hatten, nicht mit scharfer Munition geschossen hätten.
Tag und Nacht gab die Bruderschaft den Unsinn über den Patriotismus der Armee und ihrer Führung wieder, über eine angebliche »rote Linie« um die Armee, über ihre Bemühungen, die Revolution zu schützen und dass jede Bewegung gegen die Armee ein Verrat an der Revolution sei. In einer Erklärung auf der Website der Bruderschaft können wir folgenden Absatz lesen:
»Die Armee versucht einen Grad von Disziplin in ihren Reihen aufrechtzuerhalten, und das ist auch richtig so, denn wenn sie ihre eigene Disziplin nicht einhalten kann, kann sie auch die Menschen nicht schützen. Im Moment ist die Armee die einzige organisierte Kraft in Ägypten und es liegt nicht in unserem Interesse, sie zu schwächen. Wir werden auch nicht zulassen, dass sie von anderen geschwächt wird. Wir wissen, wer so vorgeht und was ihre Absichten und Ziele sind. Die Muslimbruderschaft will den Erfolg der Revolution sehen, und wir sind uns völlig im Klaren darüber, dass die Position unserer großen Armee im Verhältnis zur Revolution der entscheidende Faktor für ihren Erfolg ist. Denn die Armee hat den Menschen von der ersten Minute an gesagt: ›Ihr könnt eure Meinung frei äußern und tagsüber demonstrieren, aber nicht nachts während der Ausgangssperre, die mehr als einmal auf nur drei Stunden verkürzt wurde.‹«
Gegen Streiks
In Bezug auf die gesellschaftliche Vertiefung der Revolution mit der großen Streikwelle, die durch den Aufstand ausgelöst wurde, nahm die Bruderschaft dieselbe Haltung ein wie die Regierung und der Militärrat. Sie forderte »die Rückkehr zur Arbeit, um die ägyptische Wirtschaft zu retten. Die Muslimbruderschaft ruft alle Flügel des ägyptischen Volks auf, die Räder der Produktion und Entwicklung nicht stillstehen zu lassen. Demonstrationen für Teilforderungen sind zwar ein Grundrecht, aber der Produktion abträglich und schaden der Wirtschaft, insbesondere da die Revolution auch dazu da ist, den Motor der Wirtschaft am Laufen zu halten. Die Bürger müssen das Gefühl haben, ihre Opfer nicht für hohles Geschwätz erbracht zu haben, als sie sich auf die Suche nach einem würdigen Leben machten. Das ägyptische Volk muss beweisen, dass es fähig ist zu weiteren Errungenschaften über die Revolution hinaus, mit anderen Worten: Ägypten aus der Wirtschaftskrise zu holen.«
Solche Einstellungen sind natürlich nicht auf die Bruderschaft beschränkt. Liberale Kräfte beteiligen sich ebenfalls mit großer Begeisterung an diesen Doppelkampagnen: absolute Unterstützung für den Militärrat und eine erregte Kampagne gegen Streiks der Arbeiterinnen und Arbeiter, damit »die Produktion weiterläuft«. Amr Hamsawi, einer der Stars des Liberalismus, appellierte sogar an die Jugend und an öffentliche Persönlichkeiten, sich zu organisieren und unter der Arbeiterschaft Propaganda gegen Streiks zu machen. Eine große Zahl von Intellektuellen und Revolutionären von gestern stacheln im Rahmen der Kampagne gegen die zweite Phase der Revolution auf zur Zerschlagung von Streiks mithilfe der Armee.
Konterrevolutionäre Schläger
Viele Linke sehen die Muslimbruderschaft und die Salafisten als zwei Seiten einer Medaille an, aber das ist falsch. Es stimmt, dass es einen salafistischen Flügel in der Bruderschaft gibt, und ja, es gibt ideologische Ähnlichkeiten zwischen ihnen, aber das sollte uns nicht blind machen für die Besonderheiten des Salafismus und seine derzeitige Rolle bei dem Versuch, die Revolution zu sabotieren.
Salafisten sind im Moment der islamische Flügel der »Baltagija«, der konterrevolutionären Schläger, die die Demonstranten auf dem Tahrirplatz angegriffen haben, und ihre Beziehungen zum Sicherheitsapparat des ehemaligen Regimes sind viel wichtiger als ihre Beziehungen zur Muslimbruderschaft. Seit im Jahr 2006 das Regime Mubarak die Einrichtung salafistischer Satellitensender zuließ, dürfen sie ihre vergiftenden Ansichten, einen permanenten Strom reaktionärer, antichristlicher, frauenfeindlicher Propaganda in den Äther schicken, auch Agitation gegen Muslime, die ihre Ansichten nicht teilen, um die Massen zurück ins Mittelalter zu ziehen.
Mit Hilfe der Armee
Fernsehkanäle wie al-Rahma und al-Nas sind praktisch zu Propagandawerkzeugen für sogenannte salafistische Prediger wie Muhammad Hassan, Abu Ischaq al-Huwaini und Muhammad Jakub geworden, die so ihre Ansichten unter breiten Schichten Jugendlicher verbreiten können. Sie haben diese reaktionären und gefährlichen Ansichten erfolgreich populär gemacht – zurzeit gibt es 91 Facebook-Gruppen allein für Muhammad Hassan. Die Programme dieser Kanäle haben inzwischen die höchsten Zuschauerzahlen in Ägypten.
All das findet mit der Hilfe der Armee statt, die die Salafisten ermutigt, nicht nur mit den Muslimbrüdern zu konkurrieren, sondern auch das religiöse Gesicht der Konterrevolution zu organisieren. Kein Wunder also, dass es zunehmend schärfere Angriffe auf Kopten und ihre Kirchen schon vor der Revolution gab, auch nicht, dass jetzt Salafisten und Sicherheitskräfte gemeinsam daran arbeiten, ein Klima der Konterrevolution zu schaffen.
Abstrakter Säkularismus
Einige Linke glauben, dass die politischen Kräfte in ein säkulares und ein islamistisches Lager gespalten sind. Einige dieser Linken haben sich sogar dazu hinreißen lassen, Artikel 2 der Verfassung infrage zu stellen, in dem der Islam als »Religion des Staats« und »islamisches Recht als Hauptquelle der Gesetzgebung« festgeschrieben sind. Das war eine wertvolles Geschenk an die Islamisten, die diese Diskussionen dazu benutzten, Panikstimmung zu schüren, als ob der Islam selbst in Gefahr sei, weil die Diskussion über Artikel 2 eröffnet wurde.
Natürlich muss die Linke mit Blick auf die Trennung von Religion und Staat und zur Verteidigung eines weltlichen Staats ihre Prinzipien verteidigen. Wir müssen aber auch wissen, wann und wie wir in die Schlacht ziehen, und mit wem. Der Säkularismus selbst als abstraktes Prinzip ohne Verbindung mit den Interessen der Arbeiterklasse und der Armen ist bedeutungslos, und faktisch dient die Verteidigung des abstrakten Säkularismus einzig den Islamisten.
Konterrevolution lauert
Die derzeitige Phase der Revolution erfordert klar zu machen, dass der Oberste Rat der Streitkräfte gebildet wurde, um der Revolution eine Niederlage beizubringen, da er Teil des alten Regimes bleibt. Diese Aufgabe erfordert die Vertiefung der sozialen Seite der Revolution durch Schaffung von Organisationen an der Basis der Gesellschaft, die im Kampf für die Forderungen der Arbeiterinnen und Arbeiter und der Bauern eine Rolle spielen. Dies ist auch die Phase der Revolution, in der wir sehen werden, wie die Bruderschaft und die Liberalen die Reihen der Revolution verlassen und zur Konterrevolution übergehen werden.
Es wird jedoch auch eine Phase mit allen möglichen Wendungen und Spaltungen sein, die die Linke nutzen muss, um gegen die Konterrevolution vorzugehen. Und während die Muslimbruderschaft und die Liberalen das Lager wechseln werden, werden die Überreste der Sicherheitsorgane des alten Systems ihre Schläger einsetzen und die Salafisten werden gemeinsam mit der Militärjunta ein Klima von Chaos schaffen.
Klarheit schaffen
Die jetzige Phase wird sehr schwierig sein, und ihr Erfolg hängt von der Klarheit über die verschiedenen politischen Kräfte ab, insbesondere über die Muslimbrüder und die Liberalen, ebenso über die Widersprüche und Spaltungen und Krisen, die sie zu erwarten haben, wenn sich das wahre Gesicht der Armeeführung zeigt.
Solange die Massen revolutionär bleiben und auf ein besseres Morgen und ein Leben in Würde hoffen, und solange die Linke am Aufbau von Massenorganisationen arbeitet, von unabhängigen Gewerkschaften über revolutionäre Volkskomitees bis hin zu radikalen politischen Organisationen, werden die Feinde der Revolution die Massen nicht hintergehen können, und die politischen Kräfte, die im Moment mit der Armee im Bunde sind – an der Spitze die Muslimbruderschaft -, werden zerbrechen.
Zu diesem Artikel:
Der Sozialist Sameh Naguib war schon gegen Mubarak lange politisch aktiv. Sein Artikel erschien zuerst auf Arabisch beim Zentrum für sozialistische Studien in Kairo. Dieser Artikel basiert auf der englischen Übersetzung im britischen Magazin Socialist Review. Aus dem Englischen von Rosemarie Nünning.
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