Amerika hat gewählt. Das Ergebnis ist schlecht für die Demokraten und schlecht für Barack Obama. Er verlor die Wahlen, weil er keines seiner Versprechen erfüllte. Von David Meienreis
Zwei Jahre nach dem triumphalen Einzug von Barack Obama ins Weiße Haus musste die Demokratische Partei eine schwere Wahlniederlage einstecken: Die konservativen Republikaner gewinnen mindestens 62 Sitze im Repräsentantenhaus – der größte Zugewinn der Opposition im US-Abgeordnetenhaus seit 1948. Im Repräsentantenhaus stellen sie nun die Mehrheit. Im Senat herrscht ein 49:49 Patt, wobei die beiden Unabhängigen Senatoren eher den Konservativen nahe stehen. Die schlechten Nachricht für Obama hören nicht auf: Die Umfragewerte von Präsident Obama befinden sich auf dem tiefsten Stand, seit er vor zwei Jahren das Amt übernahm. Wie könnte das passieren?
Die Medien in den USA und hier werten dieses Ergebnis als Beleg dafür, dass Obama zu weit nach links gegangen sei, wobei in erster Linie seine Gesundheitsreform und das Ausweiten der staatlichen Verschuldung als klassisch linke Projekte angeführt werden. Die USA seien eben traditionell ein »Mitte-Rechts«-Land, dessen Einwohner »radikale Projekte« und einen allzu liberalen Umgang mit ethnischen Minderheiten, Abtreibung, Atheismus und der Welt außerhalb der USA nicht belohnten. Tragischerweise hat Obama selbst am Tag nach der Wahl dieser Einschätzung Recht gegeben und sich für seine Politik entschuldigt. Doch bei wem eigentlich? Diejenigen die ihn zum Präsidenten gewählt haben, hatten ganz andere Vorstellung welche Politik Obama machen sollten. Obama verlor die Wahlen weil er keines seiner Versprechen im Wahlkampf erfüllte.
Ein Rückblick: Obama führte 2008 seinen Wahlkampf unter Präsident Bush junior. Bush führte das Land in den zeitlich und räumlich undefinierten weltweiten »Krieg gegen den Terror«. Er trieb die Verschuldung des Landes in unbekannte Höhen, drückte die Steuern für Unternehmen und Reiche auf ein historisches Tief und schleifte die letzten Reste des Sozialstaates. Die Mobilisierungen zu Obamas Wahl waren eine spektakuläre Ausnahme in den alle vier Jahre fälligen Show-Veranstaltungen, die üblicherweise ein kleines Häufchen Millionäre und Milliardäre abhalten lassen, um einen von ihnen zum Präsidenten küren lassen. Obama schaffte es, im ganzen Land zehntausende vor allem junge Menschen und traditionelle Anhänger der Demokraten zu mobilisieren. Diese Wahlmobilisierung erinnerte an die 60er Jahre, als der Kampf gegen Rassismus, soziale Ungleichheit und den Vietnamkrieg Massen auf die Straße brachte – damals eher gegen das gesamte politische Establishment einschließlich der Demokraten.
Die Hoffnungen, die die Menschen in Obama setzten, waren enorm. Nach 30 Jahren der Umverteilung von unten nach oben, sinkender Löhne, die immer mehr Menschen zu »working poor« machten und sie zwangen, in zwei Jobs zu arbeiten, inmitten zweier Kriege, die astronomische Summen kosteten, ohne dass der Mehrheit der Bevölkerung oder der eingesetzten Soldaten klar gewesen wäre, wozu sie dienen und ob sie je zu gewinnen seien und im Angesicht eklatanter Korruption, Vetternwirtschaft und Inkompetenz an der Spitze von Wirtschaft und Politik, die der stotternde Milliardärssohn George W. Bush wie kein anderer verkörperte, hofften 80 Prozent der Befragten, dass Obama die Lebensbedingungen der ethnischen Minderheiten und der Armen verbessern würde.
70 Prozent erwarteten Verbesserungen im Bereich des maroden Bildungssystems. Immer noch mehr als 60 Prozent zählten auf ihn, um dem Gesundheitswesen auf die Beine zu helfen, die Wirtschaft aus der Krise zu führen und die Truppen aus dem Irak abzuziehen. Und drei Viertel der Befragten verließen sich darauf, dass er striktere Regeln zum Schutz der Umwelt erlassen würde, nachdem unter Bush Abgasbestimmungen verwässert und die Erschließung von Naturschutzparks für Ölbohrungen auf die Tagesordnung gerückt waren.
Die Geschichte der letzten zwei Jahre ist die einer sofort einsetzenden und bis heute nicht endenden Enttäuschung jeder einzelnen dieser Hoffnungen. An ein Ende des Irak-Krieges ist weiterhin nicht zu denken. 50.000 US-Soldaten sollen dort solange bleiben »wie nötig«. Die Zahl der privaten Söldner, die seit Jahren den Großteil der Kampfhandlungen ausführen und deren Tod die offiziellen Statistiken über die Zahl der getöteten US-Streitkräfte entlastet, wird unbekannt und hoch bleiben. Die umstrittene Gesundheitsreform, um die Obama und sein Team bis zum Schluss kämpfen mussten, erfüllt zwar die schlimmsten Befürchtungen seiner konservativen Kritiker, indem es die staatlichen Ausgaben in diesem Bereich wohl in atemberaubende Höhen treiben wird. An der seit Jahren vorangetriebenen Privatisierung der Gesundheitsversorgung ändert sie allerdings gar nichts, und so wird sich auch die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung nur mäßig verbessern, und dies auch nur, bis eine neue Regierung das Programm aus einsichtigen Kostengründen wieder kassiert. Denn was vollständig fehlt ist eine effektive Preiskontrolle oder auch nur die Festsetzung allgemeiner Qualitätsstandards. Die Gesundheitsreform hat vor allem die Schleusen der öffentlichen Finanzen in Richtung der Pharma-, Krankenhaus- und Geräteindustrie weit geöffnet, indem sie Kostendeckelungen abgeschafft, aber keine Ansprüche darauf definiert hat, was die Gesundheitsindustrie im Gegenzug zu liefern hat.
Und wie die Katastrophe um den Hurrikan Katrina die Unfähigkeit und Abgehobenheit der Bush-Administration unter Beweis stellte, so zeigt die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko – wieder vor der Küste Louisianas – die Ohnmacht und Unfähigkeit des neuen Präsidenten, einen milliardenschweren Konzern auch nur dazu zu bewegen, einen Teil des gigantischen Schadens zu beheben, den dieser bei einem höchst lukrativen Unternehmen aufgrund mangelnder Sicherheitsstandards verursacht hat.
Die USA werden derweil ungebrochen von einer Wirtschaftskrise heimgesucht. Die Schere zwischen Arm und reich klafft noch weiter auseinander. Während 0,1 Prozent der Bevölkerung immer reicher werden, leben mittlerweile 45 Millionen Amerikaner unter die in den USA sehr streng bemessene Armutsgrenze. Waren es in den vergangenen Jahren vor allem Siedlungen für gut betuchte Pensionäre und Glücksritter des Börsen- und Immobilienbooms, die Städte in Nevada, Florida und anderswo in wenigen Jahren um hunderttausende neue Einwohner bereicherten, so sind die am schnellsten wachsenden Ansiedlungen heute die Zeltstädte der Millionen, die aus ihren Häusern geworfen wurden, weil sie ihre Hypothekenschulden nicht mehr bedienen können und ihre Wohnhäuser zwangsversteigern oder an ihre Gläubigerbanken übergeben müssen. Die Zahl der Zwangsübertragungen an die Gläubigerbank lag im September 2010 bei 102.000, dem bisher höchsten Monatswert. Insgesamt rechnen die Banken mit weiteren fünf bis sechs Millionen Haushalten, die ihre Domizile abgeben müssen, nachdem 1,2 Millionen bereits aus ihren vier Wänden gewiesen worden sind. Das Glück der anderen im Moment ist, dass Banken und Makler so viel zu tun haben, dass sie nicht dazu kommen, alle auf die Straße zu setzen, deren Eigenheim sie sich rechtmäßig unter den Nagel reißen können.
Hauptgrund für die Kreditnot der Hausbesitzer ist das Steigen der Arbeitslosigkeit und die klägliche Einkommensentwicklung der Lohnabhängigen. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt in diesem Monat bei 9,6 Prozent, was für die USA ein im Vergleich der letzten Jahrzehnte hoher Wert ist. Diese Zahl beruht jedoch auf der Zählung aller Jobs, wobei auch solche in die Statistik eingehen, von denen man aufgrund geringer Löhne oder Wochenstundenzahlen nicht leben kann. Sie gibt daher keine Auskunft darüber, wie viele Menschen tatsächlich in Anstellung sind, denn weiterhin und verstärkt haben Amerikaner mehr als einen Job. Umgekehrt werden als Arbeitslose nur jene gezählt, die sich bei den Arbeitsämtern melden, auch wenn sie womöglich nach den Reformen der Clintonjahre gar keinen Anspruch auf Unterstützung mehr haben. Würde die heutige Arbeitslosigkeit nach den statistischen Maßstäben gemessen, die noch 1980 galten, läge sie bei 27 Prozent, und zwar landesweit.
Hatte Obama 2008 noch versprochen, sich für jene einzusetzen, die sich den Sprit für ihr Auto nicht mehr leisten können, so hat sein Programm zur Unterstützung in Not geratener Eigenheimbesitzer (HAMP), nach Schätzungen des Kongresses bisher 168.000 von ihnen vorläufig geholfen, indem es ihnen eine Stundung ihrer Schulden erlaubt. Sicherlich eine gut gemeinte Geste. Im Sturm des allgemein spürbaren wirtschaftlichen und sozialen Niedergang des Landes und in erster Front seiner Lohnabhängigen droht sie in der Wahrnehmung der Betroffenen und der einstigen Obama-Anhänger unterzugehen.
Vom Anwachsen der Angst und der Wut auf die gesellschaftlichen Zustände und ihre Profiteure in den Chefetagen profitieren in Abwesenheit einer organisierten linken Alternative die Konservativen mit ihren traditionellen Schelte des Staates, der mächtigen Bürokraten und der Immigranten sowie eine rechtspopulistische Neugründung innerhalb der Republikanischen Partei, die Tea Party, die ihren Namen bei einem Ereignis Ende des 18. Jahrhunderts in Boston entlehnt, bei dem die empörten amerikanischen Siedler eine Schiffsladung Tee ins Hafenbecken warfen, um gegen die hohen Steuern zu protestieren, die die britische Krone darauf erhob. Dieser Akt zivilen Ungehorsams gilt als Schlüsselereignis im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, und in diesem Sinne möchten die Begründer der modernen Tea Party ihre Strömung als Hort des Widerstandes gegen einen unterdrückerischen, gierigen Zentralstaat verstanden wissen. Die Tea Party vereinigt ideologisch in sich das Schlimmste, was es in konservativen Oberschicht an Ressentiments gegen ethnische Minderheiten, Arme und allen gesellschaftlichen Fortschritt gibt. Was ihre sozial-, umwelt- oder wirtschaftspolitischen Vorstellungen angeht, wärmt sie eine Karikatur der reaktionären Vorstellungen eines George W. Bush oder Ronald Reagan auf und paart sie mit Rassismus und xenophober Paranoia.
Ihr Führungspersonal rekrutiert sich wie Sarah Palin, die unglückliche Kandidatin auf das Amt der Vize-Präsidentin in der Wahl 2008, aus den oberen Reihen der Republikanischen Partei und erhält finanzielle Unterstützung aus denselben Konzernquellen wie diese und die Demokraten. Ihre Basis besteht aus verängstigten und frustrierten Mitgliedern der Mittelschicht, der freie Berufe, Angestellte des öffentlichen Dienstes, kleine Selbständige mit einem vergleichsweise hohen Altersdurchschnitt. So sehr die Ähnlichkeiten zu faschistischen Parteien ins Auge fallen, ist die Tea Party eher ein rechtspopulistischer Ausleger einer bürgerlichen Partei und würde in ihrer deutschen Ausgabe womöglich Leute wie Thilo Sarrazin zu ihren Aushängeschildern zählen.
Ihre Orientierung ist rein parlamentarisch, ihre Strukturen dementsprechend locker und ohne Verbindung zu organisierten Schlägertrupps oder den eindeutig faschistoiden bewaffneten »Militias«, die es in den USA seit eh und je gibt. Ihre politische Unterstützung schätzen Umfragen auf fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung. Ihr – medialer – Erfolg speist sich aber daher, dass zu diesen prominente und einflussreiche Mitglieder der herrschenden Klasse wie Rupert Murdoch, der Eigentümer des gleichnamigen Fernsehsenders, gehören. Ob diese Bewegung an Einfluss gewinnt, wird zum einen davon abhängen, ob auf die sozialen Sorgen und Nöte der US-Bevölkerung eine alternative linke Antwort geboten wird, wie sie in vereinzelten Streiks und Protestaktionen immer wieder zum Ausdruck kam. Zum anderen sicherlich auch davon, wie stark und wie schnell das Führungspersonal der Tea Party seine Anhänger nach den Wahlen vor den Kopf stößt. Steuererleichterungen für die Reichen allein werden die Tea Party-Basis, die auf eine Überwindung der wirtschaftlichen Krise angewiesen ist, nicht zufriedenstellen.
Der Raum für politische Alternativen ist derweil groß und tut sich vor allem links von Obama und den Demokraten auf. Die Kriege in Afghanistan und im Irak werden von 60 bzw. 80 Prozent der Bevölkerung abgelehnt. Die ganz mehrheitliche Ablehnung der Obama´schen Gesundheitsreform speiste sich nur zu 20 Prozent aus einer Kritik der größeren Verantwortung des Staates für die Versorgung der Armen. 40 Prozent gaben an, dass ihnen die Reform nicht weit genug gegangen sei. Der Hass auf BP und seine Förderer in den Reihen der Spitzenpolitiker geht im Süden der USA quer durch die Bevölkerung. Und einer jüngeren Umfrage des konservativen Instituts Rasmussen Reports zufolge gab ein volles Drittel der Befragten an, positive Assoziationen mit dem Begriff Sozialismus zu verbinden.
Um die zahlreichen, berechtigten und drängenden Anliegen zu befriedigen, die Obama vor zwei Jahren zu seinem Wahlerfolg verhalfen, wird es allerdings mehr bedürfen als eines Regierungsamtes oder einer Parlamentsmehrheit. Woran Obama gescheitert ist und was er vielleicht eines Tages wie Clinton vor ihm in seinen Memoiren deutlicher aussprechen wird, das ist die geballte Macht des amerikanischen Monopolkapitals, das gerne auch als Wall Street oder die großen Konzerne bezeichnet wird. Diesen Leuten gehört nicht nur in ihrem ganz klaren Selbstverständnis, sondern tatsächlich das Land, die Häuser, die darauf stehen, die Fabriken, Krankenhäuser, Schiffe, Banken und das Geld. Um ihnen die Kontrolle hierüber zu entwinden, braucht es eine echte »Tea Party« und einen neuen »Unabhängigkeitskampf«, um mit der Unterdrückung und der systematischen Gier des Kapitalismus Schluss zu machen.