Sherry Wolf erklärt im marx21-Interview, wie die Bewegung für die Gleichberechtigung von Schwulen und Lesben der gesamten amerikanischen Linken Auftrieb gibt.
marx21: Sherry, du arbeitest seit einigen Jahren in der Schwulen- und Lesbenbewegung in den USA. Die hat im vergangenen Jahr ein Revival erlebt. Was ist der Grund?
Sherry Wolf: Bis zum Tag der Präsidentschaftswahl 2008 – jenem Tag, an dem Barack Obama gewann und an dem gleichzeitig im US-Bundesstaat Kalifornien der Bürgerentscheid »Proposition 8« gegen die Homo-Ehe durchkam – befand sich die Schwulen- und Lesbenbewegung in einer Art Todesstarre. Die sie dominierenden Gruppen sind Millionen Dollar schwer, stehen unter dem Einfluss von Konzernen und orientieren auf die Demokratische Partei. Sie hatte seit 1993 keinen Massenprotest mehr in der Haupstadt Washington D.C. organisiert.
An dem Morgen, nachdem »Proposition 8« angenommen worden war, strömten jedoch tausende, hauptsächlich junge, nicht-organisierte Menschen, die bis dahin nicht politisch aktiv gewesen waren, auf die Straßen, um ihrer Empörung Ausdruck zu verleihen.
Wie ich auf der Rundreise zur Vorstellung meines Buches »Sexualität und Sozialismus« feststellte, hatten junge Leute in den amerikanischen Städten – in denen im Allgemeinen ein tolerantes Klima gegenüber Schwulen und Lesben herrscht – keine Ahnung, dass ihre Bürgerrechte einfach abgewählt werden können. Das war ein entscheidender Augenblick für die Schwulen- und Lesbenbewegung. Die gesellschaftliche Akzeptanz Homosexueller im öffentlichen Leben steht in krassem Kontrast zu den offiziellen Gesetzen der USA, und diese schizophrene Lage findet eine neue Generation nicht mehr hinnehmbar.
Du hast dabei geholfen, den landesweiten »Marsch für Gleichheit« (National Equality March) zu organisieren. Worum ging es dabei?
Der Marsch fand am 10. und 11. Oktober 2009 statt und wir forderten die vollständige rechtliche Gleichstellung von Homo-Ehen im ganzen Land. Wir schätzen, dass etwa eine viertel Million Menschen daran teilgenommen haben. Bezeichnend finde ich, dass die Mainstream-Organisationen der Schwulen- und Lesbenbewegung zunächst versuchten, die Veranstaltung zu ignorieren. Als das nicht funktionierte, attackierten sie sie, indem sie erklärten, die Bewegung sollte Obama mehr Zeit geben, um Reformen in unsrem Sinne zu erlassen.
Dieser Marsch kam politisch genau zur richtigen Zeit: Die Regierung Obama sah sich enormen Erwartungen ausgesetzt, den Schaden zu beheben, der in acht Jahren von George W. Bush angerichtet worden war. Aber sie hatte bereits zu verstehen gegeben, dass sie nicht vorhatte, für Schwule und Lesben auch nur einen Finger zu rühren. Der Protest fand großen Zuspruch gerade bei jungen Leuten, bei Linken und im Grunde genommen bei einer großen Zahl homo- wie heterosexueller Amerikaner. Der Marsch übertraf alle Erwartungen. Wir haben fast keine zentralen finanziellen Mittel dafür bereitgestellt. Er wurde »von unten« organisiert und finanziert, ohne dass irgendeine Firma oder prominente Figur aus Hollywood ihn unterstützt hätte.
Was habt ihr erreicht?
Vor dem Marsch hatten sich die meisten Aktivisten darauf konzentriert, einzelne Forderungen durchzubringen: die Homo-Ehe in einem bestimmten Einzelstaat, das Recht Homosexueller, in der Armee zu dienen, ein Ende diskriminierender Arbeitsgesetze etc. Man muss wissen, dass es in den meisten US-Staaten für Arbeitgeber völlig legal ist, Angestellte zu feuern, weil sie homosexuell sind. Aufgrund dieser Rechtslage musste die Bewegung an so vielen Fronten gleichzeitig kämpfen, dass sie sich nicht auf eine breite, landesweite Strategie zur Erkämpfung vollständiger Gleichheit konzentrieren konnte.
Weil der Marsch nur eine klare Forderung hatte, nämlich die nach sofortiger, vollständiger und landesweiter Gleichheit, sind wir jetzt über den schrittweisen Ansatz, Staat für Staat zu gewinnen, hinaus. Wir wollen sofort unsere Bürgerrechte. Das hat die Diskussion im ganzen Land verändert, auch in den Medien. CNN, die New York Times und andere diskutieren jetzt die Gleichstellung der Homo-Ehe als eine politische Forderung. Der Marsch hat die politische Debatte also sowohl innerhalb der Bewegung wie in der Gesellschaft allgemein stark zu unseren Gunsten beeinflusst.
Wie steht es derzeit um die Bewegung?
Als Folge des Marsches existieren nun hunderte kleiner Organisationen im ganzen Land, die sich auf das Engagement der Aktivisten stützen. Diese Gruppen hat es vor einem Jahr noch nicht gegeben. Damals bestand die Bewegung vor allem aus Netzwerken oder Gruppen, die sich auf Lobbying und die Beeinflussung politischer Mandatsträger spezialisiert hatten. Aber jetzt haben wir ein loses Netzwerk von Basisaktivisten, die in ihren Gemeinden Proteste organisieren. Wir versuchen, diese Gruppen im Rahmen der Organisation »Equality Across America« (»Gleichheit in ganz Amerika«) zu bündeln. Das ist die Schwulen- und Lesbenorganisation, die den Marsch organisiert hat. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten haben wir fast in jeder Stadt des Landes aktive Leute, die sich für die Rechte von Homosexuellen einsetzen.
Du hast gesagt, die Führung der Bewegung habe Obamas Wahlkampf unterstützt und sei zögerlich gewesen, ihn politisch unter Druck zu setzen. Das trifft ja auch auf die gesamte Linke in den USA zu. Aber die Schwulen- und Lesbenbewegung ist als einzige in der Lage gewesen, massenhafte Opposition gegen Obamas Politik zu organisieren. Warum ist sie in dieser Hinsicht erfolgreicher als der Rest der Linken?
Zunächst einmal gibt es einen Generationenwechsel. Ich bin Anfang 40, aber die Erfahrungen Homosexueller, die halb so alt sind wie ich, sind völlig anders als meine. Ich bin als lesbische Amerikanerin mit der Erwartung aufgewachsen, keine Rechte zu haben. Die jungen Schwulen und Lesben heute gehen davon aus, zumindest rechtlich völlig gleichgestellt zu sein. Daher waren sie so schockiert, als ausgerechnet in Kalifornien, das als fortschrittlichster Staat der USA gilt, die Homo-Ehe per Referendum abgeschafft wurde. Spontane Proteste brachen in Groß-, aber auch in Kleinstädten im ganzen Land aus, weil jungen Schwulen und Lesben zum ersten Mal klar wurde, dass ihre Rechte einfach abgewählt werden können. Das war einschneidend.
Der Generationenwechsel ist ein Aspekt, aber wir müssen die Entwicklung auch in den größeren Kontext einordnen. Auf dem ersten schwarzen Präsidenten lasten enorme Erwartungen. Obama bediente sich während seines Wahlkampfes der Sprache der Bürgerrechtsbewegung, jetzt im Amt setzt er aber keines seiner Versprechen um.
Zudem bedeutet die wirtschaftliche Situation für Millionen Amerikaner, besonders für die jüngeren, einen totalen Zusammenbruch. Jugendliche wuchsen in der Erwartung auf, einmal ein bequemes Mittelschichtsleben zu führen. Nun sehen sie sich gezwungen, bei Freunden oder der Familie einzuziehen, weil sie kaum genug zum Überleben verdienen. Die Wirtschaftskrise bildet den entscheidenden Hintergrund für die Debatte um Schwulen- und Lesbenrechte. Denn es herrscht zurzeit eine gewisse Unentschlossenheit oder Zögerlichkeit, den Staat oder die Konzerne direkt dafür anzugreifen, dass sie das Leben der Menschen zerstören. Wirtschaftskrise bedeutet, dass die Menschen Angst um ihre Zukunft haben und ihre Zuversicht schwer erschüttert ist. Direkt in der Produktion den Kampf aufzunehmen, scheint im Moment zu gewagt. Jedoch ist es derzeit besser möglich, Kämpfe um soziale Gerechtigkeit anzufangen, weil sie machbar und gewinnbar scheinen. Man erfährt sogar die Solidarität und Sympathie von Kollegen, Nachbarn und Freunden – unabhängig von deren sexueller Orientierung. Das hat eine Rolle dabei gespielt, diese Auseinandersetzung vor anderen zu führen.
Und nicht zuletzt gibt es historische Zufälle. Der Film »Milk« war kommerziell wie ideologisch phänomenal erfolgreich. Er basiert auf der Biographie von Harvey Milk, einem Bürgerrechtler der Schwulen- und Lesbenbewegung, der erste offen Schwule, der in ein öffentliches Amt in Kalifornien gewählt wurde. Der Film hat zu einem geschärften Bewusstsein über die rechtliche Benachteiligung von Homosexuellen geführt. Die Leute erkennen, dass Harvey Milk schon vor 30 Jahren ermordet worden war, weil er sich für Ziele einsetzte, für die wir noch immer eintreten. Die Tatsache, dass Cleve Jones, ein alter Mitstreiter von Harvey, den »Marsch für Gleichheit« organisierte, hat uns viel Aufmerksamkeit gebracht.
Angesichts der Tatsache, dass Obama seine Versprechen bricht, wird deutlich, dass es eine von den Demokraten unabhängige linke politische Formation geben muss. Eine solche Organisation entsteht nicht über Nacht. Welche Chancen siehst du für die Linke?
Langsam, langsam! Was wir zurzeit sehen, sind die ersten Embryonalformen einer Abspaltung von der Demokratischen Partei. Obwohl Obama als Person sehr beliebt bleibt, werden seine politischen Entscheidungen doch genauer unter die Lupe genommen. Und zwar nicht nur von Leuten auf der radikalen Linken, die nie Illusionen in die Demokraten hatten, sondern auch von reformorientierten Linken, die in den USA als Liberale bezeichnet werden. Obama wird jetzt kritisch von Leuten beobachtet, die sich mit Enthusiasmus in seinen Wahlkampf gestürzt haben und die nun feststellen, dass er nichts liefern wird, wenn er nicht dazu gezwungen wird. Das ist eine neue Entwicklung, aber sie hat sich noch nicht zu einer unabhängigen Massenbewegung ausgewachsen.
Die Kampagne der Schwulen- und Lesbenbewegung ist eine landesweite. Sie mag keine Massenbewegung sein, aber in fast jeder amerikanischen Stadt gibt es aktive Gruppen. Diese bestehen zwar nicht aus hunderten von Aktivisten, die sich wöchentlich treffen, aber es sind in der Regel 20 bis 30 Leute, die regelmäßig zusammenkommen. Das ist ein gewaltiger Fortschritt für die Bewegung. Wir hatten Gewerkschaftsaktivisten auf dem Marsch, Aktivisten für die Rechte von Einwanderern und sogar eine ganze Reihe schwarzer Bürgerrechtler. Das ist neu. Nichtsdestotrotz müssen wir uns darüber klar bleiben, dass dies bislang nur der Anfang ist.
In den USA ergeben sich gerade eine Reihe von Möglichkeiten, die noch nicht voll entwickelt sind. Aber man sieht, wohin die Reise gehen kann. Und die gesellschaftliche Offenheit für linke Politik ist enorm. Ich kann sagen, dass in den 26 Jahren, die ich jetzt aktiv bin, die Dinge nie so gut aussahen wie derzeit.
Zur Autorin:
Sherry Wolf ist als Sozialistin in den USA aktiv, war Mitorganisatorin des »National Equality March« für sexuelle Gleichberechtigung im Oktober 2009 und ist Autorin des Buches »Sexuality and Socialism« (Haymarket Books 2009).