Der Aufstand in Tunesien hat die Diktatoren der Region ins Mark erschüttert. Anne Alexander beschäftigt sich mit den Wurzeln der Revolution und ihren Folgen
Ohne Zweifel hat der Aufstand in Tunesien die Diktaturen Nordafrikas und des Nahen Ostens in Angst und Schrecken versetzt, während Millionen Menschen in der Region Hoffnung geschöpft haben, dass ihre Kämpfe gegen Arbeitslosigkeit, Armut und Korruption die Staatsmaschinerie der Unterdrückung zerbrechen kann. Straßenproteste und Cyberaktivismus sind – wenn auch verspätet – in die Vorstellungswelt der Medien vorgedrungen. Der revolutionäre Prozess im Januar 2011 macht jedoch deutlich, dass der Wandelt in Tunesien sehr viel tiefer geht.
Der Sturz von Zine Al-Abidine Ben Ali zeigt, dass die Belastungen, denen die Staaten der Region durch die Verbindung von neoliberalen Reformen und Weltwirtschaftskrise ausgesetzt sind, zum Zusammenbruch der Regime führen können, wenn dadurch Volksaufstände ausgelöst werden, die weder durch Kooptation in den Griff gebracht noch durch Unterdrückung zerschlagen werden können. Wichtiger noch ist die Art und Weise, wie die sozialen und politischen Forderungen in den Protesten miteinander verwoben waren, und wie sich die Gewerkschaften zur entscheidenden Kraft in dem Aufstand entwickelten. Das eröffnet die Möglichkeit eines sehr viel weiter reichenden Prozesses einer revolutionären Transformation von unten.
Tunesische Gewerkschaften
Das Vorgehen des tunesischen Gewerkschaftsverbands Générale des Travailleurs Tunisiens (UGTT) war wesentlich für den Sturz Ben Alis, was auch von den verbliebenen Führungspolitikern des alten Regimes verstanden wurde. Sie versuchten sich an die Macht zu klammern, indem sie am 18. Januar ein Koalitionskabinett zusammenstellten, zu dem auch drei Vertreter der UGTT gehörten. Diese Ernennungen waren auf mehreren Ebenen von Bedeutung: Es war die Anerkennung dessen, dass die Entscheidung der UGTT, am 12. Januar einen örtlichen Generalstreik auszurufen und dann einen landesweiten Generalstreik am 14. Januar, eine wichtige Rolle beim Zusammenbruch von Ben Alis Regime spielte.
Die Ernennung von UGTT-Ministern war aber mehr als eine Geste der Kooptation eines mächtigen Gegners, es war auch ein verzweifelter Versuch, eine Partnerschaft zwischen der herrschenden Partei und der Führung der Gewerkschaften wiederzubeleben, die fast in den ganzen 1990er Jahren zur Stabilität von Ben Alis Regime beigetragen hatte. Allerdings scheiterte dieser anfängliche Versuch, das alte Bündnis zwischen der UGTT und der Regimepartei RCD neu zu gestalten. Innerhalb weniger Stunden mobilisierten Oppositionelle wieder auf den Straßen und forderten die Auflösung der RCD. Die Kabinettsminister der UGTT traten zurück, was die Demonstranten weiter ermutigte, denen sich jetzt Polizisten und Mitglieder der Nationalgarde anschlossen.
Doppelter Riss
Der Rückzug aus dem Koalitionskabinett verweist auf einen doppelten Riss, der einerseits zwischen dem alten Regime und der UGTT-Führung verläuft, andererseits aber in der UGTT selbst zwischen den Basisaktivisten und den Funktionären an der Spitze.
Olivier Piot, der für Le Monde diplomatique berichtete, reiste in den Wochen vor dem Sturz Ben Alis durch Tunesien. Er stieß auf örtliche UGTT-Aktivisten, die ständig darüber diskutierten, ob und wie sie die nationale Führung zwingen könnten, mit dem Regime zu brechen. Am 7. Januar erzählte ihm der Ortssekretär der UGTT in Tozeur, dass die nationale Führung vorhabe, in drei Wochen zu einem landesweiten Streik der Lehrerinnen und Lehrer aufzurufen. Angesichts des verblüfften Schweigens des Journalisten ergänzte er: »Ich weiß, bis dahin dauert es noch ziemlich lange, und ich weiß nicht, ob es dann zu spät ist. Ich habe das den Gewerkschaftsführern gesagt, aber sie sind eng mit den Staatsbehörden verflochten. Aber ich denke, wir riskieren ab jetzt, dass die armen Bezirke der Städte Zentraltunesiens und des Südens in Flammen aufgehen werden.«
Die US-amerikanische Wissenschaftlerin Eva Bellin weist darauf hin, dass der tunesische Staat seit der Unabhängigkeit 1956 im Umgang mit den Gewerkschaften immer geschwankt hat zwischen Unterdrückungsstrategien und Kooptation. Die UGTT spielte eine entscheidende Rolle im Kampf gegen die französische Kolonialherrschaft in den 1950er Jahren, und auch wenn ihre Mitgliedschaft sich weitgehend mit der der größten nationalistischen Partei, der Néo-Destour (Neue Verfassungspartei), überschnitt, ging sie in die Zeit nach der Unabhängigkeit mit einer eigenen unabhängigen Basis.
Kooptation der Gewerkschaften
Habib Bourguiba, eine führende Persönlichkeit des antikolonialen Kampfs und Tunesiens erster Präsident nach der Befreiung, unterstellte die Führung der UGTT schließlich dem Staat nach einer Reihe von Zusammenstößen in den 1950er und 1960er Jahren. Einer Zeit der Kooptation folgte ein Ausbruch von Arbeiterprotesten und Streiks in den 1970er Jahren und weitere Unterdrückung in den Schlussjahren des Regimes von Bourguiba in den 1980er Jahren.
Ben Alis Putsch gegen Bourguiba im Jahr 1987 kennzeichnete den Beginn einer neuen Phase von Beziehungen zwischen der UGTT und dem Staat. Ben Ali war sich der Gefahr der wachsenden islamistischen Bewegung, vor allem der Ennahda-Partei, bewusst und stärkte die UGTT als Gegengewicht. Er war auch in den Anfangsjahren seiner Herrschaft bemüht, sich als Demokrat hinzustellen, im Gegensatz zu Bourguiba. Ben Ali ließ Gewerkschafter aus den Gefängnissen frei, gab der UGTT konfisziertes Vermögen zurück, wies den Gewerkschaften eine erweiterte Rolle bei der Beratung des Regimes in wirtschaftlichen und sozialen Fragen zu und unterstützte regelmäßige Lohnerhöhungen für die Arbeiterinnen und Arbeiter, obwohl er zur selben Zeit ein Reformprogramm verfolgte, mit dem der Einfluss des Staats auf die Wirtschaft beschränkt werden sollte.
Sozialproteste gegen Ben Ali
Ben Alis neoliberale Umstrukturierung erhielt Lob von Weltbank und westlichen Regierungen, aber das Versprechen auf Wohlstand für alle konnte er nicht einhalten. Die offizielle Durchschnittsarbeitslosenquote von rund 14 Prozent verbarg sehr viel höhere Arbeitslosigkeit in Städten wie Sidi Bouzid, wo der Aufstand begann, ebenso wie ein extrem hohes Niveau von Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen und Hochschulabgängern. Der Aufstand in den Phosphatbergwerken der Region um Gafsa Anfang 2008 zeigte auf lokaler Ebene, wie Proteste der Arbeitslosen Widersprüche in der UGTT zutage förderten, die zu einer breiteren sozialen Revolte führten. Am 5. Januar 2008 besetzten junge Arbeitslose die Zentrale der UGTT in der Region Gafsa.
Schnell kamen Witwen von Bergarbeitern und Familien hinzu und lösten so eine Streikwelle und Proteste aus, die Arbeiter und Arbeitslose, Schüler und örtliche Bevölkerung vereinigte. Die Ursache der Proteste von Gafsa waren nicht die niedrigen Löhne, sondern die große Arbeitslosigkeit, die dazu geführt hat, dass immer mehr Familienmitglieder ohne Einkommen abhängig sind von einem Arbeiter im Bergwerk. Die örtliche UGTT-Führung spielte eine wesentliche Rolle bei der Protestbewegung, obwohl die Gewerkschaft immer wieder korrupte Abkommen mit der Gafsa-Phosphat-Gesellschaft geschlossen hat, um die Zahl der Neueinstellungen in den Bergwerken zu beschränken. Etliche UGTT-Aktivisten, wozu auch Adnane Hajji gehörte, der zum bekannten Sprecher der Bewegung wurde, erhielten lange Haftstrafen, allerdings wurden Hajji und andere im Jahr 2009 von Ben Ali begnadigt. (siehe auch http://www.amnesty.de/jahresbericht/2009/tunesien)
Der Aufstand der Bergarbeiter von 2008 wurde am Ende unterdrückt und weitete sich nicht über die Region Gafsa hinaus aus. Im Gegensatz dazu lösten die Demonstrationen in Sidi Bouzid wegen der Behandlung von Mohamad Bouazizi, einem 26 Jahre alten Gemüsehändler, der sich selbst verbrannte, nachdem die Polizei seinen Handkarren beschlagnahmt hatte, sehr viel länger anhaltende Proteste aus. Studenten spielten eine wichtige Rolle bei den Demonstrationen, weshalb die tunesischen Behörden Schulen und Universitäten schlossen, um die Proteste einzudämmen. Den Studenten schlossen sich Anwälte an, 95 Prozent haben nach Berichten an einem Generalstreik am 6. Januar teilgenommen, um gegen Angriffe der Polizei auf ihre Kollegen bei früheren Demonstrationen und Kundgebungen zu protestieren.
Spontaneität und Organisation
Es gab also schon sehr früh eine Dialektik zwischen Spontaneität und Organisation bei der Entwicklung des Aufstands, was es für den Staatsapparat schwierig machte, ihn aufzuhalten. Einzelne Verzweiflungstaten, wie Bouazizis Selbstverbrennung, wurden Auslöser für lokale Solidaritätsproteste und manchmal fanden sie dank der Berichte in den Medien und sozialen Netzen ein Echo im ganzen Land. Dennoch bedurfte es des Eingreifens von Organisationen, die landesweit mobilisieren konnten, so wie die Anwaltsvereinigung und schließlich die UGTT, die letztendlich das Kräfteverhältnis zwischen Staat und Oppositionsbewegung zugunsten Letzterer verschoben.
Die Frage lautet jetzt, ob die Arbeiterbewegung in Tunesien nicht nur den Prozess weitertreiben kann, die ganze alte politische Ordnung hinwegzufegen, sondern ob sie auch beginnt, gegen die wirtschaftlichen Wurzeln der Ausbeutung vorzugehen. Es gibt Berichte von einigen Betrieben, in denen die Arbeiter die korrupten Manager des Regimes Ben Ali rausgeworfen haben. Aber erst wenn sich das in eine Bewegung für Arbeiterkontrolle in den Betrieben entwickelt, verbunden mit der Geltendmachung der sozialen und wirtschaftlichen Forderungen, die zum Auslöser der Intifada von Sidi Bouzid wurden, kann die Bewegung dem Kapitalismus selbst an den Kragen gehen.
Gerade die Möglichkeit, dass dieser Prozess, der in Sidi Bouzid begann, auf Algier, Kairo und darüber hinaus überspringt, hat die Unterdrückerregime der Region alarmiert. Noch vor dem Sturz Ben Alis kam es wegen steigender Lebensmittelpreise zu Aufständen in Algerien, und der Zusammenbruch seines Regimes öffnete die Tür zu einer Protestwelle, in der sich soziale und politische Forderungen vermischen und die bis in den Jemen und nach Jordanien reichte. Die Auswirkungen der tunesischen Revolution auf Ägypten werden von den USA und ihren Verbündeten besonders genau beobachtet werden. Es gibt viele strukturelle Ähnlichkeiten zwischen den Regimen von Ben Ali und Husni Mubarak – beide haben Wirtschaftsreformen eingeleitet, die Privatisierungen und den Zufluss von Auslandsinvestitionen mit sich brachten und ihnen bis vor Kurzem das Lob der Weltbank sicherten.
Arbeitslosigkeit in Nordafrika
Ägypten wie Tunesien leiden unter hoher Arbeitslosigkeit vor allem bei Jugendlichen und Universitätsabgängern und unter außer Kontrolle geratenen Lebensmittelpreisen. Das Regime Mubarak hat versucht, die sozialen und politischen Proteste durch eine Reihe von Mechanismen einzudämmen, unter anderem durch die Manipulation von Lebensmittelsubventionen – auch wenn der Prozess der neoliberalen Reformen das zunehmend erschwert hat. Die Beziehung zwischen dem ägyptischen Gewerkschaftsverband ETUF und Mubaraks Partei NDP weist viele historische Parallelen auf zwischen der Führung der UGTT und Ben Alis Partei. In beiden Fällen hat das Regime die nationale Gewerkschaftsführung durch eine Mischung aus finanziellen Anreizen und Integration in die herrschende Partei in das Regime kooptiert.
Im Gegensatz zu Tunesien jedoch gehört zu den wichtigsten Erfolgen der letzten Streikwelle in Ägypten die Entstehung von jungen, unabhängigen Gewerkschaften, während es keine ernsthaften Anzeichen für einen Bruch in der ETUF gibt. Aber es ist auch klar, dass neoliberale Wirtschaftsreformen die ETUF als eine Schlüsselinstitution des Regimes von Mubarak ausgehöhlt haben, weil dadurch die Gewerkschaft ihren Mitgliedern zunehmend weniger Vergünstigungen und Arbeitsplätze verschaffen kann. Die für September 2011 angesetzten ägyptischen Präsidentenwahlen werden auch die Spannungen in und außerhalb der Regierungspartei über die Nachfolge wiederbeleben, da ein Ersatz für den alternden Mubarak gefunden werden muss.
Es gibt zu Tunesien Unterschiede in der Anordnung der ägyptischen Oppositionskräfte, die die künftigen Ereignisse gestalten werden. In Tunesien gibt es beispielsweise keine Oppositionsgruppe des sozialen und politischen Gewichts der Muslimbruderschaft, und der Rückzug der Bruderschaft von dem Konflikt mit dem Staat hat es für die anderen Oppositionsgruppen schwerer gemacht, auf den Straßen zu mobilisieren.
Trotzdem ist die Chance, dass die Volksaufstände nach einem Jahrzehnt des Aufblühens einer Protestkultur die Risse im Regime vertiefen, in Ägypten größer als wir es in Tunesien erleben konnten. Und je größer der Wandel in Tunesien, desto mehr Möglichkeiten wird es für eine ähnliche Protestdynamik in Ägypten und anderen Ländern geben. Je länger der Druck von unten sichtlich die Entscheidungen der Regierung in Tunis beeinflusst, sie sogar diszipliniert oder zerbricht, desto größer wird das Selbstbewusstsein derer werden, die ihren Staat in den Straßen von Kairo, Amman und vielleicht sogar London herausfordern.
Zum Text:
Der Text erschien noch vor Beginn der Proteste in Ägypten in Englisch in der Zeitschrift »Socialist Review«. Übersetzung ins Deutsche: marx21
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