Auf den ersten Blick erscheint die Affäre um den Bundespräsidenten Wulff als schäbige Beziehungskiste. Arno Klönne sieht genauer hin und fördert ihren klassenpolitischen Inhalt zutage
Für das Regierungs- und Parteiengeschäft hat es kaum Bedeutung, ob der Bundespräsident Wulff oder Köhler oder womöglich demnächst Töpfer oder Lammert heißt. Nicht einmal der Erfolg oder Misserfolg der parteipolitischen Angebote bei den nächsten Bundestagswahlen hängt davon ab: Umfragewerte sind kurzlebig.
Die Bundeskanzlerin hat andere, weitaus kräftigere Stützen für ihre administrative Arbeit im Interesse des Finanzmarktes als diesen oder jenen Mann im repräsentativen Präsidentenamt. Dennoch sind in der Wulffiade Sachverhalte enthalten, die Machtmechanismen erkennbar machen.
Systemtreue verinnerlicht
Erstens: Der politische Aufstieg des noch amtierenden Bundespräsidenten mitsamt dessen Einbindung in ein bestimmtes Milieu ist exemplarisch: Ein Provinzpolitiker rangelt sich in der innerparteilichen Konkurrenz nach oben und dann nach ganz oben dank unternehmerischer Unterstützung und der Begleitung durch einflussreiche kommerzielle Medien.
Oben fühlt er sich dann angenommen und handlungsfähig. Selbstverständlich will er, soweit er etwas mitzuentscheiden hat, seinen ehrenwerten Gesellschaftern Loyalität leisten, ihnen Dankbarkeit erweisen. Systemkritisches ist von ihm nicht zu erwarten. Nicht einmal dann, wenn der eine oder andere seiner vermeintlichen Freunde ihn in die Pfanne haut. Er hat die Milieutreue verinnerlicht.
Dieser Politikertyp ist keine Spezialität der CDU. Ob ihm sein Glück als Staatsmann oder später als privatwirtschaftlicher Berater hold bleibt, hängt freilich auch ein bisschen vom persönlichen Geschick ab. Damit ist der Niedersachse, über den wir jetzt reden, nicht sonderlich ausgestattet. Das unterscheidet ihn von einem seiner Vorgänger im Amt des niedersächsischen Ministerpräsidenten.
BILD gegen Islam
Zweitens: Eine Zeitung wie BILD hat, das ist ja kein Geheimnis, knallharte Geschäftsinteressen. Das Hochhieven und auch das Demontieren von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, auch des politischen, ist im Medienmarkt profitabel. Aber ein solches Blatt hat auch systemstabilisierende Aufgaben. Will es diese erfüllen, muss es mediale Macht immer mal wieder demonstrieren. Es hat Politiker das Fürchten zu lehren.
Wulff ist da ein besonders geeigneter Fall. Nebenbei auch aus Gründen des politischen Wertekanons: Der unbeholfene Mann hat doch 2010 tatsächlich behauptet, der Islam sei ein Teil Deutschlands. Er hat dann versucht, das wieder zurechtzurücken – aber Strafe muss sein.
Kleines Geld und großes Geld
Drittens: Seit längerem schon rumort im Volke der Zorn über Auswüchse der kapitalistischen Ökonomie, speziell über die Allüren der Banken und des so genannten Finanzmarktes. Da wird Ablenkung gebraucht.
Die Erregung über die Wulffschen Kreditmanöver ist sehr geeignet, Wahrnehmung zu verlagern – weg von dem wirtschaftlichen Krieg, den das große Geld gegen die niederen Klassen führt. Und so leistet der gar nicht sturmfeste Niedersachse, nun unfreiwillig, seinen Dienst für die Herrschaften, die ihm in seine Ämter halfen, wenn auch nur befristet.
Ersatzpräsident Gauck
Übrigens hat man im Hause Springer ja noch einen Fastbundespräsidenten in der Hinterhand. Der hat Sarrazin für dessen Mut gelobt und den Protest gegen Banken albern genannt. Auch Sozialdemokraten und Grüne müssten ihn anstandshalber erneut wählen.
Das wäre eine Situation, an der die BILD ihr Vergnügen hätte. Die Bundeskanzlerin jedoch wird wohl den selbsternannten Freiheitshelden zu vermeiden wissen. Und so können wir hoffen, dass uns eine Gauckiade erspart bleibt.
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