Gáspár Miklós Tamás, prominenter ungarischer Dissident und heute Philosophieprofessor in Budapest, sprach mit Chris Harman über die Entwicklungen in Osteuropa seit dem Sturz des Stalinismus
Chris Harman: Zum zwanzigsten Mal jährt sich jetzt der Zusammenbruch des stalinistischen Regimes in Ungarn und der Fall der Berliner Mauer. In diesem Jahr hat die Weltwirtschaftskrise auch Osteuropa mit verheerenden Folgen erreicht. Sie selbst gehörten vor 1989 zu den Dissidenten in Ungarn. Wie sah die Opposition aus und welchen Weg hat sie nach der Wende eingeschlagen?
Gáspár Miklós Tamás: Die oppositionelle Bewegung in Ungarn war nicht sehr groß. Ich gehörte zu ihren führenden Leuten und war seit Ende der 1970er Jahre an dem Widerstand beteiligt. Als ich mich dazu entschied, das Regime direkt anzugreifen, war ich noch ein Linker, ein libertärer Sozialist. Ich und meine Freunde in der Dissidentenbewegung kamen faktisch alle von der Linken und wurden allesamt zu Liberalen. Einige gingen sehr weit in diese Richtung, einschließlich meiner selbst, andere weniger. Diese Gruppen hatten fast überall in Osteuropa ihre intellektuellen und soziologischen Wurzeln in linker Politik. Unsere ersten Auseinandersetzungen hatten wir nicht mit dem Sozialismus an sich, sondern mit den stalinistischen Regimen.
Zwei Personen waren da sehr typisch: János Kis und ich selbst. János Kis war Schüler der zweiten Generation von György Lukács und verfasste marxistische Werke von hoher Qualität (die leider nicht alle übersetzt wurden).1 Ich war weniger ein Marxist als ein libertärer Sozialist und stand sehr weit links. Wir alle schlugen eine liberale Richtung ein, zusammen mit unseren polnischen und anderen Waffenbrüdern und Waffenschwestern. Und als wir zum Wendepunkt kamen – in Ungarn war das 1988 -, setzten wir auf ein liberales Menschenrechtsprogramm. Das ging fast jedem so.
Miklós Haraszti, der das Buch »Stücklohn«2 schrieb, das einen großen Einfluss auf die Linke in Großbritannien hatte, schlug denselben Weg ein.
Eindeutig! Er war ursprünglich ein Guevarist und hielt sich selbst für einen konsequenten Kommunisten. Heute ist er Beauftragter für Pressefreiheit bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), und ich sah ihn auf einem Foto von einem Treffen slowakischer Figuren der »Koalition der Willigen« mit George W. Bush, als dieser das Land besuchte. Haraszti ist ein kämpferischer Liberaler, wenn es um Pressefreiheit geht, und ein kämpferischer Neokonservativer, wenn es um soziale und wirtschaftliche Fragen geht. Ich schlug schließlich einen anderen Weg ein, aber bis Mitte der 1990er Jahr war ich kein Deut anders als der Rest meiner Generation.
In den über 15 Jahren, die ich in der Opposition verbracht habe, war ich arbeitslos und lebte von Übersetzungen, die ich unter anderem Namen verfasste, und von Schwarzarbeit als Sprachlehrer. Ich war ein oppositioneller Intellektueller, schrieb theoretische Abhandlungen, politische Essays und politische Texte für die Untergrundpresse Samizdat.3 Wir hielten illegale Seminare ab über historische, politische, wirtschaftliche und soziologische Themen. Dann erhielt ich ab 1986 die Erlaubnis, im Ausland zu lehren, in den USA, Großbritannien und Frankreich, und ich machte etwas Forschungsarbeit in Oxford. Anfang 1988 nahm ich teil an der zunehmend organisierten und formalisierten Widerstandsbewegung gegen das Regime. Ich sprach auf Demonstrationen und war aktiver Teilnehmer an Protesten. Es gab ein Aufblühen der Zivilgesellschaft, Tausende neue Gruppen, Diskussionsforen und Klubs entstanden. Es war eine wunderbare Zeit. Wir schliefen nicht sehr viel – ich schlief insgesamt in den Jahren 1988 bis 1992 nur sehr wenig. Viele, viele Leute diskutierten und diskutierten und diskutierten. Es war eine Zeit, in der eine Unzahl gesellschaftlicher Ideen entwickelt wurden, aus denen aber nicht sehr viel folgte, außer dass es ein Moment der vermeintlichen und erhofften Freiheit war. Ich stand im Zentrum all dessen und wurde später als Abgeordneter für den Freidemokratischen Bund gewählt, der damals die Partei der Oppositionellen und die zweitgrößte Partei im Parlament war. Es war eine liberale Partei und ich stand ziemlich weit auf dem rechten Flügel.
»Liberal« eher im europäischen Sinn als im britischen oder nordamerikanischen?
Eigentlich beides. Ich stand ziemlich weit links in Bezug auf Menschenrechte, Minderheitenrechte, kulturelle Freiheiten, gleiche Rechte für Schwule und Lesben und so weiter – in dieser Hinsicht sehr dem amerikanischen Liberalismus ähnlich. Aber wirtschaftlich war ich Neokonservativer. Und auch ich habe eine Mischung dieser Politik empfohlen.
Wir waren sofort und unerwartet in einen Kampf mit der konservativen Rechten verwickelt. Unser erster Wahlkampf zielte auf den Hauptfeind, die poststalinistische Partei. Aber diese Partei löste sich auf und spielte eine Zeit lang keine Rolle mehr. Einige ihrer Mitglieder schafften es ins Parlament, hatten aber kaum etwas zu sagen. Und dann plötzlich waren wir mit der konservativen Rechten konfrontiert, mit ihrem Gerede von einer »jüdischen Konspiration«, von »Feinden unserer Rasse« und so weiter. Das war wieder der alte Konflikt zwischen den »Verwestlichern« und »Nationalisten«, »Kosmopoliten« und »Patrioten« – und, ein höchst altmodischer Ausdruck der ungarischen Rechten, »den Fremdherzigen« und den »Altverwurzelten«. Das war im Jahr 1990 und geht bis heute in seiner ganzen Stumpfsinnigkeit weiter. Im Jahr 1988/89 bekamen wir immer noch hier und da Drohungen von der alten stalinistischen Garde – »Ihr werdet hängen« und so ein Zeug. Wir erwarteten eigentlich noch mehr davon. Stattdessen wurden wir von der nationalistischen Rechten angegriffen. Alle meine Wahlplakate wurden mit dem Davidstern und dem Hakenkreuz verunziert. Damals wurden solche Einstellungen allerdings von der Mehrheit der Wählerschaft abgelehnt.
Die Rechte gewann die Wahl, aber es war der gemäßigte Flügel, der die Mehrheitsmeinung repräsentierte. Insofern rückte das Problem für eine Zeit in den Hintergrund. Im Jahr 1994, als ich in höchster Verwirrung aus der Berufspolitik ausstieg, wurden die Wahlen von einem Bündnis aus Sozialdemokraten und Liberalen gewonnen. Die Stimmung hatte sich vollständig gedreht und die rechte nationalistische Gefahr schien vorbei.
Im Rückblick war das wichtigste Ereignis der ersten beiden Jahre, die ich in den höchsten Kammern meines Landes als Gesetzesmacher verbrachte, dass zwei Millionen Arbeitsplätze verloren gingen – und ich glaube, ich habe es nicht einmal bemerkt. Das ist mit die größte Schande meines Lebens. Ich glaube, in den politischen Debatten damals kam es gar nicht vor. Es gab wichtige Diskussion über Verfassungsrechte und republikanische gegen monarchistische Symbole, Auseinandersetzungen über die Kontrolle des Staatsfernsehens und Staatsrundfunks. Ich will damit nicht sagen, dass politische Konflikte nicht wichtig gewesen seien, aber verglichen mit der wirtschaftlichen Katastrophe spielten sie eine geringere Rolle, und wir erkannten die gegenseitige Abhängigkeit der beiden Bereiche nicht. Warum brauchte die herrschende Klasse die Zentralisation der Medienmacht? Weil sie die Unterstützung in der zunehmend verarmenden Bevölkerung verlor. Wir waren absolut naiv und unser Diskurs zu der Zeit war einer des klassischen Liberalismus und ziemlich ineffektiv. Diese liberale Partei wird jetzt vermutlich aus dem Parlament verschwinden – und das zu Recht.
Erst als die Legislaturperiode sich dem Ende zuneigte, begann ich wahrzunehmen, was um mich herum geschah, und ich entschied mich, nicht erneut für das Parlament zu kandidieren. Es handelte sich nicht nur um ein ungarisches Problem. Von Sibirien bis Prag und von Alma Ata bis Ostberlin gab es dieselben Probleme. Was da passierte, war nicht die Transformation der Ökonomie, sondern ihre Zerstörung. Wir schufen nicht einfach einen neuen Kapitalismus, sondern ein schwarzes Loch. Es handelte sich um eins der großen Beispiele für die destruktive Kraft des Kapitalismus.
Die Methoden waren dieselben, wie sie in anderen Gegenden der Welt zu beobachten ist – Schrumpfung und Auslagerung, Privatisierung und Sozialdumping. Auslandskapital kam auf der Suche nach Konsummärkten ins Land, machte verarbeitende Industrien dicht, die es für ein Lied gekauft hatte – der Unterschied war jedoch das Ausmaß. Überall hat es große Verluste bei den Arbeitskräften gegeben, vor allem im Industriesektor, hier jedoch ging eine ganze Lebensweise verloren. Die recht erfolgreichen Landwirtschaftskooperativen verschwanden faktisch; die neuen Familienhöfe waren kommerziell nicht existenzfähig. Auf dem Land herrscht weitverbreitete Arbeitslosigkeit. Ich erinnere mich noch gut an den Bergarbeiterstreik in Großbritannien, als die Leute plötzlich merkten, dass nicht nur die Kohlenindustrie verschwinden würde, sondern mit ihr auch die Kultur Hunderter von Bergarbeiterstädten, sodass Wales danach niemals wieder dasselbe sein würde. Hier aber hatten wir einen qualitativen Wandel, eine Situation, in der eine ganze Kultur verschwand. Seit den 1920er Jahren hatte das stalinistische System – so monströs, tyrannisch und staatskapitalistisch es war – durch Urbanisierung und Industrialisierung den Lebensunterhalt und die Lebensweise von Hunderten Millionen Menschen geprägt. Sie mögen enttäuscht und unzufrieden mit ihrem Leben gewesen sein, aber es war immerhin ihres. Und niemand bereitete sie auf das vor, womit es ersetzt wurde. Es war nicht etwas Besseres, nicht etwas, das wir »Wandel« nennen könnten, sondern das Ende der Wirtschaft als solche.
In weiten Teilen Osteuropas und Eurasiens ging verloren, was wir als Zivilisation kannten und was sehr stark vom Staat abhängig war. Der Staat hat in Putins Russland gerade erst wieder zu funktionieren begonnen – und das auf sehr unschöne Weise -, aber er fängt wieder systematisch an zu arbeiten, archiviert, hat Staatseinnahmen, zahlt den Beamten Gehälter, beantwortet Briefe, empfängt Bürger mit ihren Beschwerden. Anfang der 1990er Jahre gab es nicht einmal das: Es war ein völliges Desaster. Unterdessen feiern wir, die Creme an der Spitze der Gesellschaft, den Triumph der Freiheit und Offenheit und Pluralität und Fantasie und des Vergnügens und all das. Das ist frivol, und ich bin tief beschämt.
Irgendwie wusste ich, dass es Probleme gab. Das spiegelte sich in meinen Schriften wider. Aber die Analyse, die ich anbot, war politisch sehr oberflächlich. Es gab Anzeichen – zum Beispiel die US-amerikanische Politik gegenüber den Balkanländern, der Golfkrieg, die allgemeine Unzufriedenheit, dass es nicht gut lief. Aber das wurde als Übergangserscheinung gesehen: Der Übergang war schwierig, aber am Ende wäre alles bestens – genauso funktionierte der »rechte Glaube« der Kommunisten an den Stalinismus. Heute schreckliche Opfer und dann, in der strahlenden Zukunft, »Les lendemains qui chantent« (Ein Lied von kommenden Tagen)4.
Aber es war nicht alles in Ordnung und würde es auch nicht sein. Als jemand, der beruflich mit theoretischer Forschung befasst war, fühlte ich, dass ich das verstehen müsste. Also begann ich mich erneut in Theorie und Wirtschaftswissenschaften zu vertiefen, in empirische Soziologie und Geschichte, und versuchte zu begreifen, was da vor sich ging, versuchte herauszufinden, was an den Grundlagen unserer Ideen falsch war und auch einen Weg daraus zu finden. Ich machte sogar einen Abstecher zu der konservativen Literatur, die sich kritisch mit dem Liberalismus auseinandersetzt, und von dort aus war es nur ein Sprung zum Marxismus. (Witzigerweise bahnte mir die konservative Kritik frommer Liberaler wie Michael Oakeshott und Leo Strauss den Weg zum Marxismus.) Ich verbrachte also Jahre mit Lernen – oder besser Wiedererlernen, denn ich war vorher nie ein wirklicher Marxleser gewesen – und ging wieder in die Schule. Ich versuchte sehr langsam und gründlich den Charakter des vorherigen Regimes zu verstehen, warum der Übergang zur Marktwirtschaft auf diese Weise vonstatten ging und warum Marktformen weder im Allgemeinen noch für die lokalen hausgemachten Probleme des osteuropäischen Staatskapitalismus ausreichend waren.
Das dauerte lange, und noch länger dauerte es, meine Erkenntnisse öffentlich und politisch zu formulieren und meinen Diskurs, meine Sprache, mein Vokabular zu verändern. Es war wie eine lange Krankheit und eine lange Genesung. Aber ich denke, dass ich schließlich vor einem neuen Lebensanfang stehen könnte.
Für mich ist das außerordentlich wichtig, nicht nur in Bezug auf Sie als Individuum, sondern mit Blick auf den gesamten Ostblock, wo Zehntausende von Menschen sich einem liberalen demokratischen Wandel verschrieben hatten und glaubten, dieser könne durch den Markt erreicht werden. Wir besuchten Polen während der Streiks im Jahr 1988 und sprachen mit Menschen, die im Allgemeinen zur Linken gehörten. Ich erinnere mich an Gespräche mit Menschen in Poznan, die einen Wandel nach skandinavischem Modell vor Augen hatten. Es gab keine Vorstellung davon, dass es auch ein völlig anderes Modell der kapitalistischen Welt sein könnte.5 Dann war ich Anfang 1989 in Leningrad, heute St. Petersburg, und sprach mit mutigen Menschen, die ihre Flugblätter zu den Wahlen noch auf der Schreibmaschine tippten. Sie konnten sich nicht vorstellen, was die westliche Form des Kapitalismus hieß. Sie glaubten, das bedeute Freiheit und Wachstum und so weiter.
Wir waren besser informiert. Wir waren Linke. Wir waren gegenüber den Verbrechen des modernen Kapitalismus nicht blind. Die Führer der ungarischen Oppositionsbewegung waren allesamt in den 1980er Jahren in den Westen gegangen und konnten selbst sehen, was das hieß. Wir konnten sehen, was Ronald Reagan bedeutete. Wir wussten, was 1973 in Chile passiert war, und können leider nicht einmal für uns in Anspruch nehmen, unwissend gewesen zu sein. Wir waren es nicht. Viele von uns lasen begeistert das britische Magazin Spectator (ich schrieb sogar dafür), den US-amerikanischen Weekly Standard und das Monatsmagazin Commentary. Wir akzeptierten den Kapitalismus mit all seinen Schandflecken, und unsere Vorstellung davon hieß nicht Skandinavien, sondern die Vereinigten Staaten. Zu dieser Zeit hatte sich der Wohlfahrtsstaat schon lange aufzulösen begonnen. Wir traten in dieses Kapitel mit weit geöffneten Augen ein. Natürlich waren Leute in Polen und der Sowjetunion viel mehr vom Westen abgeschnitten als wir und die Jugoslawen. Aber für uns gibt es keine Entschuldigung.
Es gab untergeordnete Überlegungen. Wir konnten sehen, wie die letzte Arbeiterbewegung, die die Menschen begeistert hatte, Solidasrność in Polen, von der deutschen Sozialdemokratie fallen gelassen wurde. Herbert Wehner und Helmut Schmidt, die damaligen Führer der deutschen SPD, und Bruno Kreisky, der österreichische sozialdemokratische Parteichef, fragten, »Warum greifen die Russen nicht ein?«. Sie hatten Angst, dass die Bewegung auf Ostdeutschland übergreifen und es zu sich ausweitenden Arbeiterunruhen kommen könnte. Dann gab es die Menschen in der Friedensbewegung, die im Kalten Krieg auf der Seite der Sowjetunion standen (siehe »einseitige Abrüstung«), und es schien uns, dass die nichtkommunistische Linke nicht an der Befreiung Osteuropas vom stalinistischen System interessiert war. Ich habe immer Respekt für die antistalinistische linke Tradition empfunden und ich denke, auch den anderen geht es so. Ich habe immer noch großen Respekt vor linken Kommunisten und rätekommunistischen Traditionen.
Ich bin mit den Werken von Boris Souvarine und Victor Serge aufgewachsen – eins der ersten Bücher, die ich auf Französisch las, war Verratene Revolution. Wir haben also niemals gesagt: »Das ist dasselbe, jeder Marxist ist ein Gulaganhänger, jeder Kommunist ein blindgläubiger Stalinist.« So dumm waren wir nicht. Aber es schien uns, dass Versuche, das Sowjetsystem von links zu überwinden, zum Scheitern verurteilt waren, und dass wir den Preis des Kapitalismus zahlen müssten, um der Diktatur ein Ende zu setzen. Zunächst sagten wir, dass dies ein Preis war, den wir zahlen müssten, und dann wurde es, leider, zu einer Liebe.
Aber sie hielt nicht. Mein eigener Fall ist ein prominentes Beispiel dafür in Ungarn, weil ich als führender Dissident bekannt war, und dann war ich gleichzeitig Vorsitzender der liberalen Partei. Ich war als jemand, der für Zeitungen mit hohen Auflagen schrieb und immer noch schreibt und der im Fernsehen auftrat, sehr bekannt. Das hieß nicht, dass mein Fall wichtig war, aber er war sichtbar.
Ich glaube nicht, dass es für mich möglich gewesen wäre, zurück zu derselben Art konfuser libertärer Linkspolitik zu gehen, der ich mich in den 1980er Jahren verschrieb.6 Ich glaube auch immer noch nicht, dass das zum Teil erfolgreiche sozialdemokratische Modell des Wohlfahrtsstaats wiederbelebt werden kann. Ich glaube auch nicht, dass die verschiedenen Modelle davon erstrebenswert sind. Ich habe nicht die Absicht zu vergessen, dass 1968, der revolutionärste Moment der neueren Geschichte in Westeuropa, aus Protest gegen den Wohlfahrtsstaat ausbrach. Wir sind geneigt, die Probleme des Wohlfahrtsstaats zu vergessen, und selbst wenn es möglich wäre, ihn wiederzuerschaffen, würden sie nach wie vor existieren: der Dirigismus, Konformismus und das autoritär-hierarchische Modell politischen Handelns. Es ist hinterhältig, wenn die Neokonservativen den Wohlfahrtsstaat kritisieren, aber das heißt nicht, dass die wohlfahrtsstaatliche Version von Kapitalismus so attraktiv ist, auch wenn er in vieler Hinsicht der heutigen Version überlegen war, egalitärer, und ein Minimum an Gegenmacht und Gegenhegemonie erlaubte. Es war schließlich ein System des Kompromisses, während dies ein System der völligen Dominanz des Kapitals ist.
Ich glaube nicht, dass es noch so viele andere Versionen von Kapitalismus gibt, die das System hervorbringen könnte, um den Menschen, die kein Kapital besitzen und nicht durch den imperialistischen Staat geschützt sind, auch nur ein verheißungsvolles Versprechen zu geben. Wenn du also heute mit dem Kapitalismus brichst, wirst du dich vermutlich sehr viel weniger Illusionen hingeben als bei den vorherigen Fällen. Wir haben all die Kompromisse schon erlebt: den alten sozialdemokratischen Kompromiss im Jahr 1914, die stalinistische Konstruktion eines tyrannischen Staatskapitalismus, den Caudillismo von rechts wie von links, den New Deal, den Nationalsozialismus, militärische Systeme, nationalistische Systeme, katholischen Korporatismus à la Seipel/Dollfuß, à la Salazar, Neokonservativismus. Die meisten vorstellbaren Versionen wurden ausprobiert, und die Probleme tauchen immer wieder auf.
Als ich begann, mit dem bürgerlichen Mainstream zu brechen, gab es keinen Ersatz mehr, also musste ich zum revolutionären Marxisten werden. Ich konnte keine andere intelligente und glaubwürdige Lösung erkennen. Man muss den Fakten ins Gesicht sehen. Es ist keine bequeme Wahl oder eine Wahl, die die Mehrheit der Bevölkerung trifft, aber das ist egal. Ich denke, alle anderen Möglichkeiten haben sich erschöpft.
Das liegt jetzt angesichts der aktuellen Krise offen zutage. Wenn die Herren des Universums mit verschiedenen Mischungen kalter Lösungen experimentieren und sogar weniger intelligent und weniger radikal sind als in den 1930er oder 1950er Jahren, wer könnte dann noch glauben, dass sie den Kapitalismus auf humane Weise von seinen schlimmsten Aspekten retten könnten? Das scheint einfach nicht möglich zu sein. Hätte ich früher mit dem Liberalismus gebrochen, wäre ich vielleicht Sozialdemokrat geworden. Wo aber ist die Sozialdemokratie? Sie ist tot. Sie ist eine Tradition, aber keine lebendige politische Alternative. Die Menschen wählen immer noch Labour und Sozialdemokratie, weil diese für sie traditionell das Sinnbild eines Heims der Arbeiterklasse und unteren Mittelschicht war und für größere Gleichheit einzutreten schien. Aber das ist eine Gewohnheit, keine Idee, und das ist der Unterschied.
Ein paar mehr Fragen über Ungarn. In den 1980er Jahren wurde Ungarn als Modell des Marktsozialismus präsentiert, das sich auf schwere Auslandskredite stützte und im Jahr 1988 und 1989 scheiterte, und ihr Dissidenten übernahmt die Regierung.
Das haben wir nicht getan. Wir blieben in der Opposition.
Die Nichtkommunisten übernahmen das Geschäft. Aber die Kernstrukturen des Staats blieben dieselben – die Polizeichefs, die Chefs der Streitkräfte, die Unternehmensmanager?
Ja. Aber die wichtigste Institution des Staats war die Partei, und die gab es nicht mehr. Die Veränderungen waren also enorm, selbst im Staatsapparat. Die Partei war das Rückgrat der Staatsstrukturen, sowohl territorial als auch in allen Wirtschaftszweigen (also horizontal und vertikal), und schuf in jeder Hinsicht eine Einheit in der staatlichen Lenkung des Lebens. In klassischen kapitalistischen Ländern bleibt die Staatsbürokratie außerhalb der Fabrik. Aber die Partei war dieselbe in der Regierung und im Unternehmensmanagement, ein Instrument zur Aufrechterhaltung der Ordnung und ein Instrument zur Modernisierung. Es war eine Struktur, die Disziplin bot, und Kultur und Freizeit, die das Leben so vieler prägte und Mittel der Förderung wie Indoktrination bot, ein Gefühl von Ort, ein Gefühl der Zugehörigkeit und ein anscheinend solides Projekt für die Zukunft. Man kann also nicht sagen, dass alles gleich blieb. Wir sollten die Veränderungen nicht unterschätzen, auch wenn die Politik der kommunistischen Parteiführung in den 1970er und 1980er Jahren dogmatisch die Marktwirtschaft verfolgte.
Gleichzeitig sollten wir aber die wesentlichen Elemente der Kontinuität nicht vergessen. Der Staatskapitalismus nach sowjetischer Art war eine warenproduzierende, auf Lohnarbeit gestützte ungleiche, hierarchische, repressive Geldwirtschaft und eine Klassengesellschaft, die alle Klassengesellschaften in den Schatten stellte und extrem effizient den proletarischen Widerstand unterdrückte. Revolten gegen das Regime waren immer sozialistische Revolutionen, im Jahr 1956 die Arbeiterräte in Ungarn, im Jahr 1968 der humanistische Sozialismus in der Tschechoslowakei. Solidarność war faktisch keine Gewerkschaft, sondern ein Netzwerk territorial organisierter Arbeiterräte, das ursprünglich eine sich selbst verwaltende proletarische Republik eines sich selbst regierenden Volks anstrebte, ehe die Repression es in eine tief konservative, pessimistische und katholische Bewegung verwandelte, die im Moment des politischen »Sieges« zusammenbrach. Der zentraleuropäische Stil des »aufgeklärten Absolutismus«, die Reformen von oben, ausgedacht von wissenschaftlich und philosophisch geschulten Eliteplanern, hat sich seit dem 18. Jahrhundert nicht verändert. »Kommunistische« Wirtschaftsplaner wurden problemlos umgemodelt in neokonservative monetaristische Planer. Für sie war »Sozialismus« auf charakteristisch positivistische Weise nur ein Irrtum der Wirtschaftsrechnung. Die Theorie des »Grenznutzens« schien »moderner« als die Arbeitswerttheorie – und Bürokraten gehen bereitwilliger mit der vorherrschenden Mode mit als Modeschöpfer.7
Und die Menschen aus der Kommunistischen Partei behielten ihre Macht?
Ja, vor allem in den Provinzen – in den Stadträten, in der Polizei, im Wirtschaftsleben, in den Handelskammern und den bürgerlichen Parteien. Eine der Schwierigkeiten meiner liberalen Partei bestand darin, dass sie mit ihrem Ursprung bei den Dissidenten keine ehemaligen Mitglieder der Kommunistischen Partei anzog. Auf diese Weise blieb sie ohne diese Wurzeln in der Lokalverwaltung, bei örtlichen Bossen und örtlichen Cliquen.
Was die Wirtschaft in den 1980er Jahren betrifft, war Ungarn nicht nur von Auslandskrediten abhängig gewesen, sondern auch beteiligt an den gut geschützten Handelsmechanismen des Comecon.8 Selbst ziemlich rückständige Technologien und Billigprodukte konnten in die Sowjetunion mit ihrem riesigen inneren Markt exportiert werden. Das hielt die überalterte Fabrikationsindustrie am Leben, während sie gleichzeitig Investitionen über Westkredite anzog. Der Verkaufsmarkt in der Sowjetunion und die Auslandsinvestitionen brachten also Vorteile mit sich. Der Markt war für die anderen »stalinistischen« Länder da, aber ohne die Kredite.
Ein Grund, warum das Regime überall zusammenbrach, lag darin, dass die Kommunistische Partei nicht ohne ihre Ideologie und ihr Gefühl der Identität überleben konnte. Wie sehr sie auch ein Instrument der Macht und Kontrolle war, hing sie wesentlich ab von dem freiwilligen Einsatz der Parteimitglieder, und die Partei versuchte, ihre Mitglieder ideologisch zu kastrieren. Marxismus war für sie unbequem, denn wenn du den Marxismus am Leben erhieltst, dann produziertest du Rebellen. Deshalb kastrierten sie marxistische Forschung und Denken auf verschiedene Weise – in Ungarn durch Weber’sche »Modernisierungstheorien« und wilden Ästhetizismus, in Polen und Rumänien durch Nationalismus. Zweifellos war der Marxismus in den 1980er Jahren die Weltanschauung einer Minderheit, beschränkt auf die alten Genossen, die keine Rolle bei der Sozialisation der neuen Parteikader spielten. Die heute Vierzig- oder Fünfzigjährigen in den osteuropäischen sozialistischen Parteien, die aus der alten Staatspartei kamen, haben niemals in ihrem Leben ein marxistisches Buch gelesen. Überall in Osteuropa, einschließlich natürlich in der Sowjetunion, hat die Partei ihren ideologischen Kern verloren. Sie funktionierte eine Zeit lang ohne ihn, völlig entleert, wobei Macht die Rechtfertigung war, aber sie fiel in sich zusammen mit der ersten echten Herausforderung, einer ziemlich banalen – der von Menschenrechtsliberalen und demokratischen Nationalisten. Sie hatten kein Wort zu sagen. Ihre Haltung war: »Wir wollen dasselbe (also liberalen Kapitalismus), nur ein bisschen langsamer.«
Am 16. Juni 1988 sprengte die Partei höchst gewalttätig eine Demonstration zum Gedenken an den Tod von Imre Nagy (und verprügelten Sie vor laufenden Fernsehkameras), aber nur zwölf Monate später brach sie zusammen, als große Zahlen von Ostdeutschen nach Ungarn kamen, um von dort über die österreichische Grenze in den Westen zu gelangen.
Um die Ostdeutschen am Grenzübertritt zu hindern, wäre eine echte Machtdemonstration nötig gewesen, was sie nicht tun konnten. Im Großen und Ganzen verliefen die Veränderungen in Osteuropa ohne Blutvergießen – mit ein paar Ausnahmen, zum Beispiel in Rumänien. Niemand wollte schießen, und auch in den alten »kommunistischen« Parteien gab es niemand, der dafür sein Leben opfern wollte. Niemand hat auch nur den kleinen Finger zur Verteidigung des Systems gerührt, das immerhin nach der Oktoberrevolution von 1917 geschaffen worden war. Es gab keine ernsthafte Motivation, sich dem Wandel entgegenzustellen. Was wäre die Staatsräson für die herrschenden »kommunistischen« Parteien gewesen? Der Unterschied zwischen einem monetarisierten und marktwirtschaftlich orientierten Staatskapitalismus und dem echten Kapitalismus ist verschwindend gering. Sie hätten den chinesischen Weg wählen können (ungezügelter Kapitalismus plus Einparteienherrschaft), aber dafür mangelte es ihnen an wirtschaftlicher Autarkie und den echten revolutionären Wurzeln, wie sie die chinesische Kommunistische Partei hatte. Die treibende Kraft in Osteuropa war ganz einfach der Westen. Die »kommunistischen« Parteiführer hatten nichts zu sagen und modelten sich selbst unbekümmert in »sozialliberale« parlamentarische Wichtigtuer um. Diese unterscheiden sich von anderen Parteien nur wegen der Vergangenheit ihrer Mitglieder, nicht wegen ihrer Gegenwart. Die politischen Programme und Manifeste dieser ehemaligen »kommunistischen« Parteien sind nicht anders als die der übrigen.
Ich erinnere mich, als ich in einer Nachwahl 1989 in das alte Parlament als erstes und einziges Oppositionsmitglied gewählt wurde und ich eine Rede hielt, in der ich dem »kommunistischen« Ministerpräsidenten ins Gesicht sagte, er sei ein Lügner, und das wurde live im Fernsehen übertragen. Es war das erste Mal seit 40 Jahren, dass jemand so etwas öffentlich aussprach, und es verursachte große Aufregung. Aber dann kam der Generalsekretär im Foyer auf mich zu, stellte sich mir vor (wir waren uns natürlich nie zuvor begegnet) und sagte mir zu meiner großen Überraschung, dass ich absolut recht hätte. Die Risse waren sichtbar geworden. Selbst die Fassade begann zu bröckeln. Die Nummer eins im Staat machte die Nummer zwei vor dem Volksfeind herunter …
Erzählen Sie mir etwas über das heutige Ungarn.
Während Industrie und Landwirtschaft zusammenbrachen, sagten die herrschenden politischen Kräfte, dass sie Ungarn in ein Finanzservicecenter der Welt verwandeln wollten. Das war Unsinn. Nach dem völligen Zusammenbruch Anfang der 1990er Jahre gab es einige Auslandsinvestitionen, und angesichts der reichlich vorhandenen billigen Arbeitskräfte wurde auch hier und dort ein Bauprojekt verwirklicht. Aber bei den Aufkäufen ging es hauptsächlich darum, Konkurrenten zu liquidieren und die Konsummärkte für die Multinationalen zu bereinigen. Als die Arbeiter ihre Jobs verloren, verflüchtigten sich natürlich die Träume von diesen Konsummärkten. Inzwischen packen die Multinationalen wieder ihre Sachen und hauen ab. Im Großen und Ganzen war es immer noch der Staat, der irgendwie versuchte, sich um die wachsende Zahl von mittellosen Menschen zu kümmern. Wir haben viel mehr Rentner als gewinnbringend beschäftigte Menschen im Privatsektor. Der Lebensstandard ist abgestürzt, die Arbeitzeit wurde für die noch Beschäftigten verlängert, und Arbeitslosigkeit grassiert überall, und das bei einer Arbeitslosengeldzahlung für nur sechs Monate. Viele Menschen hungern, und das ist etwas, das sie nicht kennen. In den 1970er und 1980er Jahren war Ungarn verglichen mit der übrigen Region ein blühendes Land, vor allem in den 1970er Jahren, als der Lebensstandard stieg. All das bricht zusammen.
Was die politischen Konflikte hier bestimmt, ist ein verzweifelter Kampf um schwindende Staatsressourcen. Es ist ein Kampf zwischen der Mittelschicht und den übrigen. Das ist die Basis für die Rechtsradikalen. Es gibt nicht genug für jeden. Es gibt ein verzweifeltes Schachern um Sozialhilfe, Einkommensunterstützung, Sozialwohnungen, europäische Zuschüsse etc., und die Politik der »sozialistischen« Regierung, die aus Einschnitten und noch mehr Einschnitten und dann ein paar Einschnitten besteht. Das bringt die Mittelschicht gegen die »Modernisierer« auf, die das multinationale Kapital repräsentieren, und also gegen »Ausländer«.
Die Gegnerschaft zu der neoliberalen Globalisierung nimmt überwiegend nationalistische Formen an. Es ist notwendig, in einem mehr oder weniger demokratischen Land der Nation zu erklären, wie und warum die Regierung sich traut, den Bedürftigen solche Mittel zu verweigern. Die Antwort heißt, den Konflikt über Kriminalisierung und Schüren von Rassismus auszutragen, also zu sagen, dass all die Menschen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, sich rassisch von uns unterscheiden, dass sie rassisch minderwertig sind im Fall der Roma, oder faule Versager, stützeabhängige Schmarotzer im Fall des »White Trash«, des weißen Mülls. Die Antwort lautet dann, mehr Gefängnisse zu bauen, mehr Polizei einzusetzen und das Proletariat, das Prekariat und die Unterklasse an ihrem Platz als Minderwertige zu halten. Es ist ziemlich verblüffend, wie sehr die allgemeine Antwort auf die Krise, die galoppierende Gesetzlosigkeit und die sich ausbreitende Armut antiplebejisch sind. Der offene Hass gegen alte Rentner, die Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger als »Parasiten« findet sein Gegenstück in dem Hass auf die herrschende Ordnung des Kapitals als »ausländisch«. Die westlich-liberale Kritik am osteuropäischen Rassismus, an Fremdenfeindlichkeit und Neofaschismus wird als Finte verstanden, den »nationalen« Widerstand einem wurzellosen kosmopolitischen Finanzkapital und lebenszerstörender »politischer Korrektheit« auszuliefern. Die Stärkung der Rechten heißt nicht nur, dass alte widerliche, quasifaschistische Traditionen wiedererstehen, sondern es ist auch eine Antwort auf sozialen Zusammenbruch und Auflösung. Die Rechte verspricht Ordnung, sozialen Zusammenhalt und das Überleben der Mittelschicht, vor allem für junge weiße, christliche Mittelschichtfamilien.
Und das geschieht zu einer Zeit, da die Arbeiterklasse keinerlei politische Vertretung hat, nicht einmal eine Minderheitsvertretung oder eine Avantgarde, die in einer Konfliktsituation einen Unterschied machen könnte. Es gibt nicht einmal eine symbolische Repräsentation wie die Sozialdemokratie oder eine radikale Minderheitenrepräsentation wie eure Socialist Workers Party. Die Arbeiterklasse hier schweigt. Sie ist ein schlafender Riese. Sie ist die einzige Klasse in Osteuropa, die abwartet, die gar nichts tut, die politisch nicht existiert. Sie schließt sich weder den Rechtsextremen und ihrem heldenhaften Kampf gegen die Unterklasse an noch irgendeiner sozialistischen oder sozialdemokratischen Opposition, weil so etwas nicht existiert. Die Gewerkschaften sind zu Tode verängstigt, dass sie ihre Privilegien und ihre üblichen Verhandlungspositionen verlieren.
Ich weiß nicht, wie lange das so bleiben wird. Zurzeit ist der einzige sichtbare Kampf der der Mittelschicht gegen die Unterschicht und gegen die Krise, die als Konspiration von außen begriffen wird, als etwas, das der Westen uns aufgezwungen hat durch die plutokratische, kosmopolitische, antiungarische, antipolnische Weltordnung. Einerseits haben wir neokonservative Parteien an der Macht, die den globalen kapitalistischen Flügel der herrschenden Kräfte repräsentierten; andererseits eine »nationalkonservative« Rechte, die symbolisch die Interessen der Mittelschicht vertritt, aber sich nicht offen dazu bekennt. Die Spannung ist riesig, aber die echten politischen Bedingungen werden der öffentlichen Meinung nicht präsentiert. Dagegen versuchen einige von uns zu kämpfen, aber es ist ein harter Kampf, der im Moment nur aus Propaganda und Aufklärung besteht. Wir könnten es am Ende schaffen, aber vielleicht zu spät.
Du hast eine kleine Gruppe von Menschen um dich, und du bist an einem Wahlprojekt beteiligt.
Es gibt eine informelle Gruppe Linksintellektueller, die versuchen, den Gewerkschaften bei ihrer Arbeit zu helfen – mit kostenloser Öffentlichkeitsarbeit und indem sie die Gewerkschaften in der Mehrheitsgesellschaft, wo sie stigmatisiert sind, hoffähig machen. Das sind die Leute, die Feste zum 1. Mai organisieren mit Luftballons und Würstchen und Bier. Sie werden mit größter Verachtung bedacht. Die Menschen in dieser Gesellschaft halten mit ihrer blanken Verachtung für jene, die körperlich arbeiten, nicht hinter dem Berg, und selbst sogenannte Mitte-links-Publikationen machen sich öffentlich lustig über Leute mit schmutzigen Händen. Das ist wie in den 1920er Jahren: antidemokratisch und gegen die Arbeiterklasse gerichtet und scharf antikommunistisch, angesichts der völligen Abwesenheit einer sozialistischen Linken.
Wir sagen also nicht nur, dass wir die Ungleichheit grundsätzlich nicht mögen. Wir gehen zu Eisenbahnarbeitern und Metallarbeitern und versuchen zu helfen, mit ihnen zu reden und zu lernen. Ich habe diese neue Wählergruppe nicht gegründet. Ich wurde von Führern einer der kleinen orthodoxen Nachfolgergruppen der Kommunistischen Partei plus Grünen und Feministinnen gebeten, ihre Kandidatenliste bei den Europawahlen anzuführen. Ich habe lange gezögert. Es ist schwierig für mich, als halsstarriger Kämpfer gegen das frühere System mich mit noch so moderaten, nichtbezahlten, völlig unschuldigen Erben des Systems zu verbinden. Nicht, dass sie jemals Macht gehabt hätten, der Chef der Partei ist ein junger Ingenieur, der zwanzig Jahre alt war, als das System sein Ende fand. Ich habe schließlich ja gesagt. Inzwischen haben sich uns andere Gruppen angeschlossen: Attac Ungarn, linke »zivilgesellschaftliche« Gruppen, und wir haben vorsichtige gewerkschaftliche Unterstützung. Wir machen eine Kampagne mit sehr geringen Mitteln und ohne große Erwartungen. Dennoch ziehen wir gewisse Aufmerksamkeit auf uns. Unseretwegen horchen vielleicht Leute auf, und dann nehmen sie vielleicht unsere Literatur und fangen irgendwas an.9
Wir bilden also den Anfang überhaupt einer linken, sozialistischen marxistischen Art von Organisation, aber immerhin haben wir angefangen. Das ist ein langsamer und schwieriger Kampf, aber ich bin überzeugter denn je, dass es absolut notwendig ist. Es gibt einen scharfen Klassenkampf von oben nach unten. Da sind die Bourgeoisie und die Mittelschicht, multinationales Kapital und die heimische Mittelschicht, mit sehr unterschiedlichen aber sich zum Teil überschneidenden Interessen, die das Proletariat und die Unterschicht angreifen, und es gibt keine Antwort darauf – aber es muss eine Antwort geben.
Es wird auch im Interesse eines Teils der Mittelschicht sein, ein Bündnis mit neuen proletarischen Kräften einzugehen, wie in alten Zeiten, wenn sie nicht eine Art autoritärer nationalistischer Halbdiktatur wollen. Die Menschen werden das irgendwann merken, aber ich fürchte, es könnte dann zu spät sein. Denn was uns jetzt bedroht, ist ein Bündnis von Konservativen und Rechtsradikalen, die das Diktat des globalen Kapitals akzeptieren werden und das mit nationalistischer Parolenschmiederei kaschieren, mit der Kriminalisierung des proletarischen Widerstands und rassistischen Spaltungen.
Du kannst sehen, wie dieses bürgerliche Establishment versucht, jeden rauszudrängen, der am Rande zu stehen scheint. Schwulen- und Lesbenclubs, Frauengruppen werden angegriffen – abgefackelt – ebenso wie die Roma. Es gibt straff organisierte neonazistische, terroristische Gruppen, die schon einige »Zigeuner« ermordet und versucht haben, Sozialisten und liberale Politiker umzubringen. »Nationalkonservative« Politiker zögern im Großen und Ganzen, solche Vorgänge zu verurteilen. Ungarn hat die einzige nationalsozialistische Tageszeitung und den einzigen nationalsozialistischen Fernsehsender in Europa, vielleicht in der ganzen Welt. Hunderte offen antisemitische Kommentare werden täglich auf den Webseiten von angesehenen Mitte-links-Zeitungen gepostet, ganz zu schweigen von anderen Foren. Eine autoritäre Bildungsreform mit körperlicher Züchtigung von Kindern wird befürwortet – etwas, das seit 1945 verboten ist. Es gibt Rufe nach Wiedereinführung der verrufenen Gendarmerie, deren Eifer und Grausamkeit bei der Deportation ungarischer Juden im Jahr 1944 sogar Eichmann verblüffte. Noch so schüchterne Maßnahmen zur Aufhebung von Segregation an Schulen werden heftig bekämpft und von den örtlichen Behörden abgelehnt. Dunkelhäutige Kinder haben ihre eigenen miesen »Bildungseinrichtungen«. Moderne Kunst wird auf eine Weise niedergemacht, wie wir es seit den 1930er Jahren nicht mehr erlebt haben. Die Aufklärung und das modernistische Erbe werden wieder als degeneriert und teuflisch dargestellt. In all diesen Dingen wird ein rebellisches Potenzial gewittert. All die reaktionären Klischees kommen hoch.10 Die Reaktion lehrt die Osteuropäer, wie diese Kämpfe zusammenhängen. Wir lernen es auf die harte Tour. Uns muss niemand erzählen, dass Sozialisten und Feministinnen, schwule und lesbische Aktivisten, Aktivisten für Minderheitenrechte und Gewerkschafter zusammengehören, weil wir alle von demselben Feind verprügelt werden.
Aus dem Englischen von Rosemarie Nünning
Literatur
Haraszti, Miklós, Stücklohn, Rotbuch Verlag, Berlin 1975.
Rakovski, Marc, Towards an East European Marxism, Macmillan, London 1978.
Tamás, Gáspár Miklós, L’Oeil et la Main, Editions Noir, Genf 1985.
Tamás, Les Idoles de la Tribu, Editions de l’Arcantère, Paris 1989.
Tamás, »Ethnarchy and Ethno-Anarchism«, Social Research, Band 63, Nr. 1, Frühjahr 1996.
Tamás, »On Post-Fascism«, Boston Review, Sommer 2000, www.bostonreview.net/BR25.3/tamas.html.
Tamás, »Ein ganz normaler Kapitalismus«, Grundrisse 22, Wien 2007, http://www.grundrisse.net/grundrisse22/Gaspar_Miklos_Tamas.htm.
Tamás, »Konterrevolution gegen eine Konterrevolution«, Westfälisches Dampfboot, 22. 10. 2007, http://www.linksnet.de/de/artikel/20807.
Zebrowski, Andy, und andere, »Solidarity at the Crossroads«, International Socialism 41, London, Winter 1988.
Fußnoten
1János Kis war gemeinsam mit György Bence Verfasser des Buchs, das unter dem Pseudonym Marc Rakovski-Rakovski im Jahr 1978 erschien. Bence, Kis und ihr früherer Lehrer György Márkus versuchten sich in den 1970er Jahren an einer systematischen Kritik von Marx’s »Kapital« in einem wichtigen Buch, das in Ungarn erst 1989 erschien und bisher nicht übersetzt wurde.
2Haraszti, 1975. Siehe auch die englische Besprechung unter: http://www.marxists.org/history/etol/newspape/isj/1977/no103/barkere.htm.
3Samizdat war der russische Name für unzensiertes Untergrundmaterial der Opposition.
4So lautete die Parole der französischen Kommunisten im Zweiten Weltkrieg.
5Eine Mitschrift eines Teils dieser Diskussion findet sich in Zebrowski und andere, 1988.
6Siehe Tamás, 1985.
7Siehe Tamás, 2007, S. 66-75, and Tamás, 2008, S. 61-67.
8Der Comecon war der von den Russen beherrschte »Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe«.
9Seit diesem Interview ist es der ungarischen Grün-Linken gelungen, die notwendigen 20.000 Unterschriften zu sammeln, um zu kandidieren. Sie wurden jedoch durch bürokratische Trickserei an der Teilnahme gehindert. Das führte zu einem riesigen internationalen Skandal, wobei die deutsche Partei Die Linke bei allen Stellen Protest einlegte. Die Organisation rief ihre Anhänger dazu auf, quer über den Stimmzettel »Grün-Linke« zu schreiben und somit als stiller Protest ungültig zu stimmen. Selbst in den Massenmedien gab es einen Grad von Solidarität.
10Siehe Tamás, 1989; Tamás, 1996, S. 147-190, Tamás, 2000.