Ein zügiger Atomausstieg ist möglich. Dafür müssen weder die Stromkunden noch das Klima belastet werden. Von Frank Eßers
Der Alte meldet sich nicht oft zu Wort, und wenn er es tut, brennt es bei den Konservativen. So auch diesmal: Die verlängerten AKW-Laufzeiten entwickeln sich gegenwärtig zum Super-GAU für die Regierung Merkel.
Also kommt Ex-Kanzler Helmut Kohl zur Hilfe: In der Bild hat er einen Artikel veröffentlicht mit dem Titel »Warum wir die Kern-Energie (noch) brauchen«. Kohl redet nicht um den heißen Brei herum: »Die Lehre aus Japan muss zunächst einmal sein, dass wir akzeptieren: Was in Japan passiert ist, ist schrecklich, aber – in aller Brutalität – es ist auch das Leben. Das Leben ist ohne Risiken nicht zu haben«.
Reaktorkatastrophen wie die in Tschernobyl oder Fukushima als unvermeidliches Pech? Das ist menschenverachtender Unsinn. Atomkraft gehört ins Technikmuseum, Abteilung: Kuriositäten.
Kohle und Atomkraft sind unvereinbar mit erneuerbaren Energien
Kernenergie ist überflüssig. Um das zu wissen, muss man nicht bei der Antiatombewegung nachfragen. Es reicht, auf den »Sachverständigenrat für Umweltfragen« zu hören, auch bekannt als Umweltrat. Er berät die Bundesregierung in der Umweltpolitik. In seinem Sondergutachten »Wege zur 100 % erneuerbaren Stromversorgung«, das er im Januar vorgelegt hat, stellt der Umweltrat unmissverständlich klar: »Weder eine Verlängerung der Laufzeit von Atomkraftwerken noch der Bau neuer Kohlekraftwerke mit Kohlendioxidabscheidung und -speicherung sind notwendig.«
Seiner Einschätzung nach sind Kohle- und Atomkraftwerke ein Hindernis für den Umstieg auf erneuerbare Energien. Ab einem gewissen Anteil regenerativer Energien an der Stromproduktion sei der Betrieb atomar-fossiler Großkraftwerke »technisch problematisch«. Sie seien unflexibel und könnten nicht schnell hoch- oder heruntergefahren werden, um Schwankungen bei Wind- und Sonnenenergie ausgleichen zu können.
Ein weiteres Problem ist laut Gutachten, »dass über zunehmend längere Zeitfenster Überkapazitäten im System entstehen«. Diese könnten »entweder die zeitweilige Abschaltung regenerativer Kapazitäten erfordern oder zu kostspieliger Unterauslastung konventioneller Kapazitäten führen und damit die Kosten des Übergangs unnötig erhöhen«. Das Urteil des Umweltrats könnte für Schwarz-Gelb nicht vernichtender sein: »Eine generelle und deutliche Verlängerung der Laufzeiten von Kernkraftwerken ist deshalb mit den hier vorgestellten Szenarien für den Übergang zur regenerativen Vollversorgung nicht vereinbar.«
Versorgungssicherheit
Doch ist die Zeit wirklich reif für die Erneuerbaren? Können sie Atomstrom schnell ersetzen, ohne die Versorgungssicherheit zu gefährden? Sehen wir uns zunächst die Eckdaten der deutschen Elektrizitätswirtschaft an: In den letzten zehn Jahren ist der Atomstromanteil an der Stromproduktion von 29 auf 22,6 Prozent gefallen. Aus regenerativen Energien stammt bereits ein Anteil von 16,5 Prozent, Tendenz steigend. Um den Zeitpunkt für den Abschluss des Atomausstieges zu bestimmen, muss man aber noch berücksichtigen, welche Reserven im nichtatomaren Teil der Kraftwerksparks vorhanden sind und wie viel Strom Deutschland exportiert.
An sicheren Reserven sind zwischen 11 und 13 Gigawatt vorhanden. Zum Vergleich: Die Nettoleistung der acht derzeit abgeschalteten AKWs beträgt 8,4 Gigawatt. Aufgrund von »Pannen« und Stillständen lieferten diese Reaktoren in den vergangenen Jahren allerdings real nur rund 6,5 Gigawatt. Sie sind also leicht ersetzbar und das Potential für weitere Abschaltungen ist vorhanden. Dass Stromkonzerne trotzdem mit Preissteigerungen drohen, dient lediglich dem Zweck, Verbraucher zu verunsichern, die Politik unter Druck zu setzen und einen Atomausstieg zu verhindern.
Auch der Verzicht auf den Export von Strom würde weitere Kapazitäten für einen Ausstieg bringen. Im vergangenen Jahr betrug die Menge des exportierten Stroms 17 Milliarden Kilowattstunden. Das entspricht der Leistung von zweieinhalb Kernkraftwerken.
Nach einer zurückhaltenden Einschätzung des Umweltbundesamtes vom 17. März könnten neun AKWs sofort abgeschaltet werden. Berücksichtigt man allerdings Exportüberschuss und Kraftwerksreserven, ist noch mehr möglich. Die Grünen gehen von 15 Atomkraftwerken aus, die kurzfristig ersetzt werden können. Als Zeitpunkt eines vollständiges Ausstieges nennt die Partei das Jahr 2017.
Auch DIE LINKE plädiert für einen schnellen Ausstieg. Die Bundestagsfraktion hat bereits im Jahr 2009 ein Konzept zur Stilllegung der 17 deutschen Atomkraftwerke innerhalb von vier Jahren vorgelegt. In diesem Zeitrahmen bewegt sich auch das Ausstiegskonzept von Greenpeace, vorgestellt in der Studie »Klimaschutz: Plan B«. Demnach könnte im Jahr 2015 Atomkraft der Vergangenheit angehören.
Brückentechnologien
Bis sämtliche Energie aus erneuerbaren Quellen stammt, sind so genannte »Brückentechnologien« notwendig. Kernkraft- und Kohlekraftwerke gehören nicht dazu. Die »Brücke« kann stattdessen aus einem dezentralen Netz flexibler Erdgaskraftwerke bestehen. Gas- und Dampfkombikraftwerke (GuD) könnten innerhalb eines Jahres gebaut werden, haben einen hohen Wirkungsgrad (= weniger Energieverluste bei der Produktion), können sich schnell an Laständerungen im Stromnetz anpassen und schnell gestartet werden. Damit würden sie Schwankungen von Windkraft und Solaranlagen ausgleichen. Geeignet sind sie sowohl als Grund- als auch als Mittellastkraftwerke (erhöhter Strombedarf) und sie können auch Bedarfsspitzen im Stromverbrauch abdecken.
In Frage kommen auch Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen (KWK). Solche Kraftwerke sind in der Lage, gleichzeitig Strom und Heizwärme zu liefern. Ein Betrieb von Erdgaskraftwerken mit Biogas ist ebenfalls möglich.
Warum Erdgasanlagen bauen, wenn es doch bereits Kohlekraftwerke gibt? Weil Erdgas der fossile Energieträger ist, bei dessen Verbrennung die geringste Menge Treibhausgas entsteht. Will man den Atomausstieg nicht mit Schädigung des Klimas »erkaufen«, kommen Stein- und Braunkohle nicht in Frage.
Um beim Klimaschutz voranzukommen, muss in regenerative Energien und Technologien zu deren Speicherung investiert werden. Zudem muss das Stromnetz aus- und umgebaut und Energie gespart werden. Ein schneller Ausstieg aus der Kernkraft könnte als Motor des Umbaus wirken, weil Atomstrom dann nicht mehr das Stromnetz »verstopfen« würde. Denn im bestehenden Netz hat Grundlaststrom aus fossilen und atomaren Anlagen faktisch »Vorfahrt«. Das behindert die Einspeisung von Strom aus erneuerbaren Quellen. Ob ein zügiger Atomausstieg zu mehr Treibhausgasausstoß führt oder nicht, hängt in erster Linie davon ab, wie schnell und konsequent solche Maßnahmen eingeleitet werden.
»Atomstrom hat keine strompreisdämpfende Wirkung«
Es liegt auf der Hand, dass der Umbau des Energiesystems Geld kostet. Werden also wieder einmal die Stromkunden zur Kasse gebeten? Wie eine Litanei wiederholen Atomkraftbefürworter, dass Kernkraft billig sei. Dem widerspricht der Umweltrat. Dass die Kosten für Atomenergie »langfristig sinken werden, kann als unwahrscheinlich betrachtet werden«, heißt es in der bereits zitierten Studie. Während die Kosten für Energie aus atomaren und fossilen Quellen steigen, würden die für erneuerbare Energien weiter fallen. Der Grund: Kohle, Erdgas und Uran sind begrenzte Ressourcen. Sie gehen zur Neige. Wind und Sonne hingegen sind unerschöpflich. Je weiter erneuerbare Energien entwickelt und je mehr sie genutzt werden, desto preiswerter ist ihre Produktion.
Mit Recht weist die Bundestagsfraktion der LINKEN darauf hin: »Atomstrom hat keine strompreisdämpfende Wirkung. Die Preisbildung an der Strombörse orientiert sich am teuersten Kraftwerk, das zur Deckung des Strombedarfs zugeschaltet werden muss. So wird vermeintlich billig produzierter Atomstrom an der Strombörse teuer verkauft. Die Energiekonzerne streichen so jährlich Gewinne von über 300 Millionen Euro pro AKW ein.«
Atomenergie wird zudem vom Staat subventioniert. Diese Förderung taucht zwar nicht auf der Stromrechnung auf, wird aber von den Steuerzahlern aufgebracht: Sie beträgt 3,9 Cent pro Kilowattstunde Atomstrom.
Von den Energiekonzernen wird als Grund für Preiserhöhungen gerne das Erneuerbare-Energien-Gesetz genannt. Was die Konzerne nicht sagen: Regenerative Energien senken an der Strombörse den Preis, wenn viel Strom aus Solar- und Windkraftanlagen produziert wird – eben weil dann das Angebot steigt. Die Verbraucher haben davon allerdings nichts, weil Preissenkungen nicht an sie weitergegeben werden.
Früher existierte eine Preisaufsicht der Bundesländer, die im Jahr 2007 von der damaligen schwarz-roten Bundesregierung abgeschafft wurde. Seitdem haben es die Energiemonopole einfacher, ihre Stromkunden zur Kasse zu bitten. Um Abzocke zu mildern und zu verhindern, dass armen Haushalten der Strom abgedreht wird, fordert DIE LINKE »eine wirksame Preisaufsicht sowie eine soziale Tarifgestaltung«. Das wäre ein guter erster Schritt.
Wenn man den Energiekonzernen hingegen weiter freie Hand lässt, werden zwei Dinge geschehen: Es wird keinen Atomausstieg und keinen Umstieg auf erneuerbare Energien geben (jedenfalls nicht, bevor der letzte Krümel Kohle verfeuert ist) – und trotzdem werden die Strompreise weiter steigen.
Wer den Umstieg zahlen sollte
Um den Umstieg auf regenerative Energien zu finanzieren, sollten Konzerne, Banken und Millionäre stärker besteuert werden. Schließlich sind sie die Profiteure der massiven neoliberalen Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben.
Damit ein Umstieg nicht nur beschlossen, sondern auch unumkehrbar wird, führt letztlich kein Weg daran vorbei, die Macht der Energiekonzerne zu brechen – also Stromnetze und Energiekonzerne zu verstaatlichen und darüber hinaus eine Kontrolle der Energieversorgung durch Verbraucher und die in der Energieproduktion abhängig Beschäftigten sicher zu stellen.
Warum Verstaatlichung? Weil der deutsche Strommarkt von nur vier Konzernen beherrscht wird: Eon, Vattenfall, RWE und EnBW. Sie besitzen die Mehrzahl aller Kraftwerke, kontrollieren das Stromnetz und diktieren ihren Kunden die Preise.
Und warum Kontrolle durch Beschäftigte und Verbraucher? Weil Verstaatlichung nicht ausreicht. Vattenfall ist ein schwedisches Staatsunternehmen und verhält sich wie ein privates Unternehmen: Der Profit zählt, nicht Mensch und Umwelt. Ähnliches gilt für EnBW: 45,01 Prozent der Unternehmensaktien gehören seit Januar dem Land Baden-Württemberg. Weitere 45,01 Prozent sind in Besitz der Oberschwäbischen Elektrizitätswerke (OEW), ein Zusammenschluss von Gebietskörperschaften und Kommunen im südlichen Baden-Württemberg. Kontrolliert wird die OEW von CDU-Politikern. Seit der Landtagswahl streiten Grüne und SPD auf der einen und die CDU auf der anderen Seite um die Macht bei EnBW. Ein Regierungswechsel alleine wird nicht reichen, um die bisherige Unternehmenspolitik sozial und ökologisch zu gestalten.
In Deutschland nähmen die Energiekonzerne faktisch den Rang eines Staatsorgans ein, beklagte der im vergangenen Oktober verstorbene SPD-Bundestagsabgeordnete und Präsident von Eurosolar Hermann Scheer. Traditionell sind die Verbindungen zwischen Politik, besonders dem Wirtschaftsministerium, und den Energiemonopolisten eng – und zwar unabhängig davon, welche Parteien regieren.
Spielfeld dieser Energiekonzerne sind die Märkte, die blind für wirksamen Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit sind. Um die Macht der Stromriesen zu brechen, ist massenhafter Widerstand von unten nötig – und der Kampf für eine nicht-kapitalistische Gesellschaft, die sozial und ökologisch nachhaltig ist.
Zum Autor:
Frank Eßers ist Online-Redakteur von marx21.de. Er ist aktiv bei »Anti Atom Berlin« und Mitglied der LINKEN in Berlin-Neukölln.
Zum Text: Der Artikel ist eine Veröffentlichung aus marx21, Heft 20, April/Mai 2011. Das Hefte rscheint am 18. April 2011.
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Mehr auf marx21.de:
- marx21-Dossier: Anti-Atom-Widerstand / »ökologische« Marktwirtschaft
Mehr im Internet:
- Sondergutachten des Sachverständigenrates für Umweltfragen: »Wege zur 100 % erneuerbaren Stromversorgung«, Januar 2011
- Kurzanalyse des Öko-Institutes: »Schneller Ausstieg aus der Kernenergie in Deutschland«, März 2011
- DIE LINKE: »Atom-Stopp – Konzept zur Stilllegung der 17 Atomkraftwerke in Deutschland«, Juli 2009