{nomultithumb}Karl Marx‘ Ideen sind heute aktuell wie nie, meint der britische Literaturtheoretiker Terry Eagleton. Jetzt erscheint sein neues Buch »Warum Marx recht hat« auf Deutsch
Marx zu loben mag so verdreht klingen, wie ein gutes Wort für einen Mörder einzulegen. Waren Marx‘ Ideen nicht verantwortlich für Tyrannei, Massenmord, Arbeitslager, wirtschaftliche Katastrophen und den Verlust der Freiheit für Millionen Menschen?
War nicht einer seiner ergebenen Schüler ein paranoider Bauer aus Georgien mit dem Namen Stalin und einer anderer ein brutaler chinesischer Diktator, an dessen Händen wohl das Blut von rund 30 Millionen Menschen klebt?
Marx ist unschuldig
Die Wahrheit ist, dass Marx für die monströse Unterdrückung in der kommunistischen Welt nicht mehr Verantwortung trägt als Jesus für die Inquisition. Zunächst einmal hätte Marx die Vorstellung weit von sich gewiesen, dass der Sozialismus in so erbärmlich armen, chronisch rückständigen Gesellschaften wie Russland oder China aufgebaut werden könnte. Der Versuch müsste darin enden, was er den »verallgemeinerten Mangel« nannte, womit er meinte, dass alle Not leiden würden, nicht nur die Armen. Er würde eine Neuauflage des »alten schmutzigen Geschäfts« bedeuten oder, wie er es an einer Stelle nannte, der »ganzen alten Scheiße«.
Der Marxismus ist eine Theorie darüber, wie wohlhabende kapitalistische Länder ihre gewaltigen Ressourcen einsetzen könnten, um für alle Menschen Gerechtigkeit und Wohlstand zu erreichen. Er ist kein Programm, mit dem Nationen, denen es an materiellen Ressourcen, einer lebendigen Kultur des öffentlichen Lebens, einer demokratischen Tradition, einem hohen Stand der technischen Entwicklung, liberaler Traditionen der Aufklärung und einer qualifizierten, gut ausgebildeten Arbeiterschaft mangelt, sich in die Moderne katapultieren können.
Für Gerechtigkeit und Wohlstand
Marx wollte nachdrücklich, dass Gerechtigkeit und Wohlstand auch in solchen bedauernswerten Ländern herrschen. Er schrieb mit Zorn und großem Wissen über mehrere der zugrunde gerichteten britischen Kolonien wie nicht zuletzt Irland und Indien. Und die politische Bewegung, die sein Werk angestoßen hat, hat mehr dazu beigetragen, dass kleine Nationen sich ihrer imperialistischen Herren entledigt haben, als jede andere politische Strömung. Aber Marx war nicht so verrückt zu glauben, dass der Sozialismus in solchen Ländern aufgebaut werden könne, ohne dass die weiter entwickelten Länder ihnen zu Hilfe kämen.
Und das bedeutete, dass die einfachen Menschen in diesen entwickelten Staaten ihren Herrschern die Produktionsmittel entreißen und sie in den Dienst der Verzweifelten dieser Erde stellen müssten. Wenn das im Irland des 19. Jahrhunderts geschehen wäre, dann hätte es keine Hungersnot gegeben, die eine Million Menschen das Leben kostete und weitere zwei bis drei Millionen dazu zwang, in alle Welt zu fliehen.
Marx‘ peinliche Fragen
In gewissem Sinne ist Marx‘ Werk um eine kleine Anzahl peinlicher Fragen aufgebaut: Wie kommt es, dass der kapitalistische Westen mehr Ressourcen angehäuft hat, als es das in der Menschheitsgeschichte je gegeben hat, und trotzdem unfähig scheint, Armut, Hunger, Ausbeutung und Ungleichheit zu überwinden? Durch welche Mechanismen scheint der Wohlstand einer Minderheit ein hartes und unwürdiges Leben für die Mehrheit hervorzubringen? Wieso scheint privater Wohlstand Hand in Hand mit öffentlicher Armut zu gehen?
Ist es tatsächlich so, wie die gutherzigen liberalen Reformisten versprechen, dass wir einfach noch nicht dazu gekommen sind, diese letzten Überbleibsel der Armut zu beseitigen, das aber beizeiten tun werden? Oder ist es plausibler anzunehmen, dass es irgendwie in der Natur des Kapitalismus liegt, Mangel und Ungleichheit mit derselben Sicherheit hervorzubringen, wie Charlie Sheen für Schlagzeilen sorgt?
Mehr Lob als das Wall Street Journal
Marx war der erste Theoretiker, der diese Fragen stellte. Dieser mittellose jüdische Emigrant, ein Mann, der einmal anmerkte, dass niemand außer ihm so viel über Geld geschrieben und dabei selbst so wenig davon gehabt habe, hat uns die Sprache gegeben, mit der wir das System, unter dem wir leben, als Ganzes begreifen können. Seine Widersprüche wurden analysiert, seine innere Dynamik offengelegt, seine historischen Ursprünge untersucht und sein möglicher Niedergang beschrieben.
Dabei hat Marx den Kapitalismus keinen Augenblick lang einfach als etwas Böses angesehen wie Bewunderung für Sarah Palin oder Kindern Tabakrauch ins Gesicht zu blasen. Er war im Gegenteil voll des Lobes für die Klasse, die ihn erschaffen hat, und über diese Tatsache sehen seine Kritiker ebenso geflissentlich hinweg wie seine Anhänger. Kein anderes Gesellschaftssystem, schrieb er, habe sich als so revolutionär erwiesen. In nur wenigen Jahrhunderten hatten die kapitalistischen Mittelschichten jede Spur ihrer feudalen Gegner aus der Welt geschafft.
Sie hatten kulturelle und materielle Reichtümer angehäuft, die Menschenrechte erfunden, die Sklaven befreit, Diktatoren gestürzt, Imperien zerstört, für die menschliche Freiheit gekämpft und ihr Leben gelassen und die Grundlage für eine wahrhaft globale Zivilisation gelegt. Kein Dokument, nicht einmal das Wall Street Journal, bedenkt diese gewaltige historische Leistung mit so überschwänglichem Lob wie das Kommunistische Manifest.
Barbarei gehört zum Kapitalismus
Das war allerdings nur der eine Teil der Geschichte. Manche sehen die Geschichte der Moderne einfach als eine beeindruckenden Fortschritts, andere als einen lang gezogenen Alptraum. Marx sah sie in seiner üblichen Verdrehtheit als beides. Jeder Fortschritt der Zivilisation war mit neuen Möglichkeiten zur Barbarei einhergegangen. Die großen Losungen der Revolution der Mittelschicht – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – dienten auch ihm als Leitfaden. Er stellte nur einfach die Frage, warum diese Vorstellungen nie ohne Gewalt, Armut und Ausbeutung in die Tat umgesetzt werden konnten.
Der Kapitalismus hat die menschlichen Kräfte und Möglichkeiten über jedes bekannte Maß hinaus entwickelt. Aber er hat diese Möglichkeiten nicht dazu eingesetzt, die Menschen von fruchtloser Arbeit zu befreien. Sie mussten im Gegenteil schwerer als je zuvor schuften. Die reichsten Zivilisationen der Erde mussten sich ihr Brot genauso im Schweiße ihres Angesichts erarbeiten wie ihre Vorfahren in der Steinzeit.
Eigenartig widersprüchlich
Das, überlegte Marx, war nicht mit natürlicher Knappheit zu begründen. Es lag vielmehr an der eigenartig widersprüchlichen Art und Weise, in der das kapitalistische System seinen Wohlstand hervorbrachte. Gleichheit für einige bedeutete Ungleichheit für andere, und die Freiheit einiger brachte Unterdrückung und Unglück für andere.
Die blindwütige Gier des Systems nach Macht und Profit verwandelte fremde Nationen in versklavte Kolonien und Menschen in Spielsteine wirtschaftlicher Kräfte, die sich ihrer Kontrolle komplett entzogen. Es überzog den Planeten mit Umweltzerstörung, millionenfachem Hunger und grauenhaften Kriegen.
Mit zweierlei Maß
Einige von Marx‘ Kritikern verweisen geradezu wutentbrannt auf die Massenmorde im kommunistischen Russland und China. An die völkermordähnlichen Verbrechen des Kapitalismus erinnern sie sich meist nicht mit derselben Entrüstung: die Hungersnöte in Afrika und Asien, an denen Ende des 19. Jahrhunderts unzählige Millionen zugrunde gingen; das Gemetzel des Ersten Weltkriegs, bei dem die imperialistischen Staaten ihre Arbeiter im Kampf um globale Ressourcen massakrierten; und das Grauen des Faschismus, eines Regimes, auf das der Kapitalismus gern zurückfällt, wenn er mit dem Rücken zur Wand steht. Ohne die Opfer, die die Sowjetunion und andere brachten, wäre das Nazi-Regime womöglich immer noch an der Macht.
Marxisten warnten vor den Gefahren, die vom Faschismus ausgingen, als die Politiker der so genannten freien Welt sich noch immer darüber berieten, ob Hitler tatsächlich so ein schlimmer Kerl sei, wie es hieß. Fast alle Anhänger von Marx verurteilen heute die Untaten von Stalin und Mao, während viele nicht-Marxisten weiterhin leidenschaftlich die Zerstörung Dresdens oder Hiroshimas verteidigen.
Zwei 11. September
Die modernen kapitalistischen Nationen sind in ihrer Mehrzahl Ergebnisse einer Geschichte von Völkermorden, Gewalt und der Ausrottung von Bevölkerungsgruppen, die in ihrem Schrecken den Verbrechen des Kommunismus in nichts nachsteht. Auch der Kapitalismus wurde in Blut und Tränen geformt, und Marx erlebte das als Zeitzeuge. Das System besteht nur schon so lange, dass die meisten von uns davon nichts mehr wissen.
Die Selektivität der politischen Erinnerung nimmt mitunter eigenartige Formen an. Nehmen wir zum Beispiel den 11. September, und zwar den ersten. Ich meine den 11. September, der sich fast 30 Jahre vor dem Einsturz des World Trade Center ereignete, als die USA dabei halfen, die demokratisch gewählte Regierung von Salvador Allende in Chile gewaltsam zu stürzen, um an ihrer Stelle einen schlimmen Diktator einzusetzen, der sich dann daran machte, weit mehr Menschen ermorden zu lassen, als an diesem verhängnisvollen Tag in New York und Washington ums Leben kamen. Wie viele Menschen in der westlichen Welt wissen das? Wie oft wird darüber im Fernsehen berichtet?
Realistisch die Welt verbessern
Marx war kein verträumter Utopist. Er begann seine Karriere im Gegenteil in der scharfen Auseinandersetzung mit den verträumten Utopisten, die ihn umgaben. Er hat an einer perfekten Gesellschaft ungefähr so wenig Interesse wie die Charaktere, die Clint Eastwood spielt, und verwendet an keiner Stelle solche absurden Begriffe. Er glaubte nicht daran, dass reale Menschen den Erzengel Gabriel an Gutmütigkeit überflügeln können.
Aber er glaubte, dass es sehr wohl möglich sei, die Welt ganz deutlich zu verbessern. Darin war er ein Realist, kein Idealist. Die moralischen Straußenvögel dieser Welt, die ihren Kopf tief in den Sand gesteckt haben, bestreiten, dass irgendeine radikale Veränderung möglich sein könnte. Sie benehmen sich, als ob es noch im Jahre 4000 Gute Zeiten, Schlechte Zeiten und bunte Zahnpasta geben werde. Die gesamte Geschichte der Menschheit belegt das Gegenteil.
Ein Prophet im biblischen Sinn
Radikale Veränderung, das sollte klar sein, muss keine Verbesserung bedeuten. Möglicherweise ist die einzige Form von Sozialismus, die wir je erleben werden, eine, die Menschen aufgezwungen wird, wenn sie nach einem Atomkrieg oder einer Umweltkatastrophe aus ihren Schutzbehausungen kriechen. Marx spricht bitter von der Möglichkeit der »gemeinsamen Untergangs« aller Beteiligten. Wer die Grauen des Frühkapitalismus in England erlebt hatte, konnte kaum Illusionen in seine Mitmenschen hegen. Was er nur meinte, war, dass es auf dem Planeten mehr als genug Ressourcen gibt, um die meisten unserer materiellen Probleme zu lösen, genau wie es in Großbritannien 1840 weit mehr als genug Nahrungsmittel gab, um die hungernde Bevölkerung Irlands zu versorgen.
Entscheidend ist, wie wir unsere Produktion organisieren. Marx ist bekannt dafür, dass er uns keine Blaupausen darüber lieferte, wie wir die Dinge anders betreiben sollten. Er hat beeindruckend wenig über die Zukunft zu sagen. Das einzige Bild der Zukunft ist das Versagen der Gegenwart. Er ist kein Prophet, der in eine Glaskugel schaut. Er ist ein Prophet in dem ursprünglichen biblischen Sinne, jemand, der uns warnt, dass wir unseren Pfad der Ungerechtigkeit verlassen müssen, wenn die Zukunft nicht zutiefst unangenehm werden soll. Oder es gar keine Zukunft mehr geben wird.
Die Natur des Menschen
Der Sozialismus braucht also keine wundersame Veränderung der menschlichen Natur. Einige der Verteidiger des Feudalismus predigten im späten Mittelalter, dass der Kapitalismus nie funktionieren werde, weil er der menschlichen Natur zuwider laufe. Einige Kapitalisten behaupten heute das Gleiche vom Sozialismus. Bestimmt gibt es im Amazonasbecken irgendwo einen Stamm, der davon überzeugt ist, dass keine Gesellschaftsordnung überleben kann, in der jemand die Frau seines verstorbenen Bruders heiraten darf. Wir tendieren alle dazu, unsere eigenen Lebensbedingungen zu verabsolutieren.
Im Sozialismus gäbe es wohl weiterhin Rivalitäten, Neid, Aggressionen, Besitzansprüche, Herrschaftssucht und Konkurrenz. Die Welt hätte weiterhin ihre kleinen Tyrannen, Betrüger, Quälgeister, Trittbrettfahrer und gelegentlichen Psychopathen. Es wäre nur so, dass Rivalität, Aggressionen und Konkurrenz nicht die Form annehmen würden, dass Banker sich beschweren, weil ihre Boni auf ein paar magere Millionen reduziert wurden, während Millionen anderer auf der Welt mit weniger als zwei Dollar am Tag um ihr Überleben kämpfen müssen.
Der moralische Marx
Marx war ein zutiefst moralischer Denker. Er spricht im Kommunistischen Manifest von einer Welt, in der »die freie Entfaltung des Einzelnen die Bedingung der freien Entfaltung aller ist«. Dieses Ideal kann uns als Leitfaden dienen, auch wenn wir es nie vollständig erreichen werden können. Die Formulierung ist dennoch bedeutsam. Als guter Humanist der Romantik glaubte Marx an die Einzigartigkeit des Individuums. Diese Vorstellung zieht durch sein gesamtes Werk. Er hatte eine Leidenschaft für das sinnlich Einzigartige und eine ausdrückliche Abneigung gegen abstrakte Vorstellungen, wie notwendig er sie auch gelegentlich fand.
Sein so genannter Materialismus dreht sich im Kern um den menschlichen Körper. Wieder und wieder spricht er von der gerechten Gesellschaft, in der jeder Mann und jede Frau seine und ihre besonderen Kräfte und Fähigkeiten in ihrer besonderen Art ausleben und umsetzen kann. Sein moralisches Ziel ist vergnügliche Selbstverwirklichung. Darin ist er sich mit seinem großen geistigen Ziehvater Aristoteles einig, der verstand, dass es in der Morallehre darum geht, wie der Mensch am vollständigsten und lustvollsten gedeihen kann, und nicht in erster Linie (wie in der Moderne fatalerweise angenommen wird) um Gesetze, rechtliche und moralische Pflichten und Verantwortung.
Sozialismus ist Liebe
Inwiefern unterscheidet sich dieses moralische Ziel vom liberalen Individualismus? Der Unterschied besteht darin, dass Marx annimmt, dass Menschen die wahre Erfüllung ihres Selbst in und durch andere finden müssen. Es geht nicht nur darum, dass jeder und jede isoliert von andern ihr eigenes Ding machen. Das wäre nicht einmal möglich. Der Andere muss die Grundlage der eigenen Selbstverwirklichung werden, wie wir diese Grundlage für ihn bieten. Auf der zwischenmenschlichen Ebene ist das als Liebe bekannt. Auf der politischen Ebene heißt es Sozialismus.
Sozialismus bedeutete für Marx einfach die Anordnung von Institutionen, die dieser Gegenseitigkeit die größtmöglichen Entfaltungsmöglichkeiten einräumen würde. Denken wir an den Unterschied zwischen einem kapitalistischen Unternehmen, in dem die Mehrheit für den Nutzen einiger weniger arbeitet, und einer sozialistischen Kooperative, in der meine eigene Beteiligung an dem Projekt dem Wohlergehen aller nützt, und umgekehrt. Das ist keine Frage moralistischer Selbstaufopferung. Der gegenseitige Nutzen ist in die Struktur der Einrichtung eingebaut.
Die Befreiung der Arbeit
Marx‘ Ziel ist frei verfügbare Zeit, nicht harte Arbeit. Der beste Grund, Sozialist zu sein – abgesehen davon, dass man damit Leute nerven kann, die man nicht mag – ist, dass man den Zwang zur Arbeit verabscheut. Marx fand, dass der Kapitalismus die Produktionskräfte so weit entwickelt hatte, dass es unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen möglich sei, die Mehrheit der Menschen von den erniedrigendsten Formen der Arbeit zu befreien.
Was, meinte er, sollten wir danach tun? Was auch immer wir wollen. Falls wir wie der große irische Sozialist Oscar Wilde uns entschließen sollten, den lieben langen Tag in wallenden tiefroten Kleidern herumzulungern, Absinth zu nippen und einander die eine oder andere Seite aus Homer vorzulesen, dann soll es so sein. Allerdings sollten diese kreativen Tätigkeiten allen offen stehen. Wir würden nicht länger eine Situation tolerieren, in der eine Minderheit freie Zeit hätte, weil eine Mehrheit schuftet.
Ein großer Ketzer
Was Marx mit anderen Worten letztlich interessierte, war, wie man es etwas irreführend nennen könnte, das Geistige, nicht das Materielle. Die materiellen Bedingungen müssten verändert werden, um uns von der Tyrannei des Wirtschaftslebens zu befreien. Marx selbst war unglaublich belesen, freute sich an Kunst, Kultur und anregenden Unterhaltungen, genoss Humor und ausgelassenes Vergnügen und wurde einmal von einem Polizisten gejagt, weil er im Zuge einer Kneipenrangelei eine Straßenlaterne zerbrochen hatte.
Er war selbstverständlich Atheist, aber man muss nicht religiös sein, um eine spirituelle Ader zu haben. Er war einer der großen jüdischen Ketzer, und sein Werk steckt voll der großen Themen des Judaismus: Gerechtigkeit, Emanzipation, der Tag der Abrechnung, das Reich der Freiheit und des Überflusses, die Erlösung der Armen.
Ein Revolutionär für Reformen
Wie steht es aber mit dem gefürchteten Tag der Abrechnung? Ruft Marx‘ Vision für die Menschheit nicht nach einer blutigen Revolution? Er selbst glaubte, dass einige Länder wie Großbritannien, die Niederlande und die USA den Sozialismus friedlich erreichen könnten. Obgleich er Revolutionär war, war er ein großer Anhänger von Reformen.
In jedem Fall meinen die Leute, die sich gegen Revolutionen aussprechen, normalerweise, dass sie gegen bestimmte Revolutionen sind, nicht aber gegen andere. Haben Amerikaner, die gegen Revolutionen sind, genau so viel gegen die amerikanische Revolution einzuwenden wie gegen die in Kuba? Drücken sie den jüngsten Erhebungen in Ägypten und Libyen die Daumen oder denen, die in Afrika und Asien die Kolonialmächte verjagten?
Wir sind selbst Produkte revolutionärer Erhebungen in der Vergangenheit. Einige Reformprozesse waren weit blutiger als die Akte von Revolutionen. Es gibt genau so samtene wie gewaltsame Revolutionen. Die bolschewistische Revolution war bemerkenswert unblutig. Die Sowjetunion, die aus ihr hervorging, zerfiel 70 Jahre später, fast ohne dass Blut geflossen wäre.
Für die Befreiung der Frau
Einige Marx-Kritiker lehnen eine vom Staat beherrschte Gesellschaft ab. Aber das haben sie mit ihm gemein. Er verabscheute den politischen Staat genau so leidenschaftlich wie die FDP, aber aus weniger konservativen Gründen.
War er, wie Feministinnen fragen, ein viktorianischer Patriarch? Mit Sicherheit. Aber, wie einige (nicht-marxistische) moderne Forscher betonen, waren es Männer aus den sozialistischen und kommunistischen Bewegungen, die bis zum neuen Aufleben der Frauenbewegung in den 1960er Jahren die Gleichberechtigung der Frauen als entscheidend für andere Formen der politischen Befreiung ansahen.
Das Wort Proletarier meint ursprünglich Menschen in den Gesellschaften des Altertums, die zu arm waren, um dem Staat irgendetwas anderes zu geben als die Früchte ihre Schoßes. »Prol« heißt ursprünglich Nachwuchs. In den Sweatshops und auf den kleinen Bauernhöfen der Dritten Welt sind die typischen Proletarier auch heute noch Frauen.
Und die antikoloniale Befreiung
Dasselbe gilt im Groben auch für die ethnischen Fragen. In den 1920er und 30er Jahren waren praktisch die einzigen Männer und Frauen, die für die Gleichberechtigung der Rassen eintraten, Kommunisten. Viele anti-koloniale Bewegungen wurden vom Marxismus beeinflusst. Der erzkonservative Theoretiker Ludwig von Mises beschrieb den Sozialismus als »die mächtigste Reformbewegung, die die Geschichte je gesehen hat, der erste ideologische Trend, der sich nicht auf einen Teil der Menschheit beschränkt, sondern von Menschen aller Rassen, Nationen, Religionen und Kulturen getragen wird.«
Marx, der historisch besser beschlagen war als von Mises, hätte ihn vielleicht an das Christentum erinnert, aber das schmälert von Mises‘ Einschätzung kaum. In Bezug auf die Umweltproblematik nahm Marx erstaunlich viel von der heutigen Programmatik der Grünen vorweg. Der Umgang mit der Natur und die Notwendigkeit, sie als Verbündeten und nicht als Gegner zu betrachten, war eines seiner zentralen Themen.
Marx macht’s möglich
Warum könnte Marx heute wieder aktuell werden? Die Antwort gibt ironischerweise der Kapitalismus selbst. Wer heute Kapitalisten über den Kapitalismus reden hört, weiß, dass dieser sich in ernsten Schwierigkeiten befindet. Normalerweise wählen sie allerdings lieber einen homöopathischeren Begriff wie »freies Unternehmertum«. Die Zusammenbrüche des Finanzwesens zwingen uns einmal mehr, uns über das System, unter dem wir leben, als Ganzes Gedanken zu machen, und Marx machte dies als erster möglich.
Das Kommunistische Manifest sagte voraus, dass der Kapitalismus global werden und dass seine Ungleichheiten sich verschärfen würden. Hat Marx falsch gelegen? In hunderten von Fragen. Aber er ist als Denker zu kreativ und originell, um ihn den plumpen Stereotypen seiner Gegner zu überlassen.
(Zuerst erschienen in der Zeitschrift Chronicle. Aus dem Englischen von David Meienreis)
Zur Person:
Terry Eagleton ist Gastprofessor an der Lancaster University in England, der National University in Irland und der University of Notre Dame in den USA.
Das Buch:
Terry Eagleton: Warum Marx recht hat
Ullstein 2012
288 Seiten
18 Euro
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