Camila Vallejo ist das Gesicht der chilenischen Studentenbewegung. Auf einer Rundreise durch Europa erläutert sie, wofür sie kämpft
Chile hat sich in den vergangenen Monaten ruckartig verändert. Die Unzufriedenheit, die sich in der Bevölkerung seit Jahren aufstaute, drückt sich nun in Form von Protesten, Streiks und lärmenden Demonstrationszügen aus. Die Jugendlichen gingen auf die Straße und forderten ein kostenloses und hochwertiges Bildungswesen. Der Konflikt überforderte die Regierung um Präsident Sebastián Piñera, der nach und nach an Beliebtheit verlor, bis er Ende 2011 nur noch auf 23 Prozent kam. Die linke Mitte, die zwanzig Jahre lang den chilenischen Präsidentenpalast La Moneda bewohnte, war gelähmt. Camila Vallejo wurde zur Symbolfigur für diese Metamorphose. Abgeschirmt von einer Gruppe Leibwächter, führte die Akademikerin mit den klaren Augen und dem Nasenpiercing Hunderte von Protestzügen an. Die chilenische Empörung ist nicht die Folge einer Wirtschaftskrise. Dieses Land wächst um durchschnittlich sechs Prozent jährlich. Die Armut sank von 45 Prozent auf 15 Prozent zwischen 1987 und 2009. Nichtsdestotrotz, die oberen 10 Prozent der Chilenen verdienen 27 mal mehr als die unteren 10 Prozent, gemäß einem Bericht der OECD (Organisation für Kooperation und wirtschaftliche Entwicklung). »Es gibt erhebliche soziale Ungleichheit, wenig Demokratie und eine nicht tolerierbare Menge an Missbräuchen«, sagt Camila Vallejo, während sie langsam ihren Kaffee umrührt.
»Wir arbeiten jeden Tag viele Stunden, wir sind Sklaven der Schulden, wir werden bei den Rechnungen für Licht und Wasser hintergangen und gerade weil wir keine Freizeit haben, fordern wir nicht ein, was uns gerecht zu sein scheint. In uns haben sich Frustration und Unzufriedenheit angestaut. All das brach 2011 auf los. Chile erwachte und wir sind hier um in Frage zu stellen, zu kämpfen und um nicht länger ein Zahnrädchen in diesem System zu sein«, erklärt sie.
Einer kürzlich erhobenen Umfrage zufolge, sind 39 Prozent der Bevölkerung »sehr empört«. Eine der Theorien, die man in diesem Land aufgestellt hat, um die Unzufriedenheit zu erklären, ist das Einbrechen der Mittelschicht, welche in den letzten 20 Jahren die Armut hinter sich ließ. Die Koalition versicherte damals, dass die effektivste Lösung für die Probleme der Ungleichheit das Bildungswesen sei. Das unter der Regierung Pinochets umgesetzte Konzept brachte jedoch keine substanzielle Veränderung und die Resultate blieben mittelmäßig und ungleich. Die Leute wurden dessen überdrüssig und der soziale Konflikt brach auf. Die Familie Vallejo Dowling gehört zu diesen Leuten.
»Als meine Eltern in meinem Alter waren, waren sie arm und kämpften ums Überleben. Damals, als sie sich in der Welt des Theater kennenlernten, mussten sie Empanadas verkaufen, um von etwas leben zu können. Sie gehörten der Kommunistischen Partei an, hatten jedoch keine leitende Position«, berichtet die Akademikerin. Auch wenn sie jetzt in einer Mietwohnung im Zentrum Santiagos lebt, so wuchs sie doch einst in der Gemeinde La Florida südlich von Santiagos auf. Hier lebt die Mittelschicht, trotzdem gibt es Baracken, die mit den modernen Zentren und Autobahnen einher existieren. Das war das Szenario, in dem Camila Vallejo anfing »sich über die Lage Chiles aufzuregen«. Und als sie in die Universidad de Chile eintrat, die bedeutendste staatliche Universität des Landes, trat sie der Kommunistischen Partei bei.
Auch wenn sie es wohl abstreiten würde, gelegentlich erwies sie sich als eine etwas undisziplinierte Aktivistin. Nach dem Tod Kim Jong Ils kritisierte sie beispielsweise öffentliche die Entscheidung ihrer Partei, ein förmliches Kondolenzschreiben an Nordkorea zu schicken.
Abgesehen davon, dass sie empört sind, vertrauen die Chilenen auch ihren Institutionen nicht. Eine kürzlich durchgeführte Umfrage zeigt, dass alle den Rückhalt der Bürger verloren haben. Die Streitkräfte, die katholische Kirche, die Massenmedien, die Regierung, die privaten Unternehmen, die Rechtsprechung, der Kongress und die politischen Parteien, die derzeit die am geringsten geschätzt werden. Nur etwa 16 Prozent der Chilenen sind der Meinung, dass die Demokratie in diesem Land tatsächlich funktioniert.
El País: Was ruft das Wort Diktatur in jemandem hervor, der sie nie erlebt hat?
Camila Vallejo: Das Bild, das ich mir anhand der Berichte gemacht habe, zeigt ständige Furcht. Mit Straßenkleidung ins Bett zu gehen aus Angst, dass sie nachts kommen, um dich zu holen, die Schüsse in den Stadtteilen, die heimlichen Versammlungen. Die Generation, die diese Zeit hautnah miterlebte, ist davon traumatisiert und ein Produkt der Repression. Und aus diesem Grund setzte sich trotz der bereits aufgestellten Demokratie der Individualismus durch und die Idee, dass es besser sei, sich nicht in die Politik einzumischen, weil es allzu oft schlecht ausgehe.
Was unterscheidet Ihre Generation von der ihrer Eltern?
Unsere Generation hat keine Furcht. Und daher haben wir im Gegensatz zu unseren Eltern keine Probleme, anzuprangern, dass es in Chile Missbrauch gibt, Repression, dass die Unternehmer stehlen und die Politiker häufig ohne jede Scham in ihrem eigenen Interesse handeln.
Chile ist eines der wenigen Länder der Welt, wo der Schwangerschaftsabbruch nicht legal ist. Halten sie es für gerechtfertigt, dass man ihre Heimat im Ausland als eines der konservativsten Länder Südamerikas porträtiert?
Es ist widersprüchlich, denn obwohl wir das Land des Neoliberalismus schlechthin sind, existiert in Chile ein starker Werte-Konservativismus, sowohl im rechten Flügel, als auch in der Mitte und dem linken Flügel.
Was meinen Sie damit?
Wir müssen vorankommen, was die Rechte sexueller Minderheiten betrifft. Ich bin einverstanden mit Schwangerschaftsabbruch unter verschiedenen Umständen. Zunächst ist es wichtig, das Selbstbestimmungsrecht der Frau zu respektieren, bevor man jemanden auf die Welt bringt, der nicht kompatibel zu dem Leben sein wird, das die Mutter führen möchte. Heutzutage tun das jene, die Geld haben. Letztlich ist es eine Freiheit, die vom Bankkonto abhängt. Ich bin ebenfalls für die Legalisierung von Marihuana, weil mit diesem Schritt die Möglichkeit geschaffen wird, den Drogenhandel zu kontrollieren.
Im Gegensatz zu dem aktuellen Geschehen, wo die Kommunisten im Kongress sitzen, entschied sich die Partei während der Diktatur für den Griff zur Waffe.
Das Volk hat das Recht in der Masse gegen die strukturelle Gewalt, die in der Gesellschaft vorherrscht, anzukämpfen. Und wir haben den Weg des bewaffneten Widerstandes nie kategorisch ausgeschlossen, den wir beschreiten würden, wenn die Umstände es erforderten. Allerdings ist dieser Weg im Moment gänzlich ausgeschlossen, weil die Spannung, die heute existiert, eine Spannung zwischen Neoliberalismus und Demokratie ist.
Sie haben Kuba gegenüber, wo sie 2009 der 50 Jahre Revolution gedachten, jedoch nie Vorhaltungen gemacht.
Das kann man nicht vergleichen. Kuba ist nicht das beste Modell einer Demokratie, das sich weltweit finden lässt, aber dort wurden vieles erreicht, was wir in Chile nicht geschafft haben. Es gibt immer reaktionäre Bereiche, die lieber trotzig individuelle Freiheiten verteidigen als allgemeine. Die Chilenen bewahren die Freiheit der Unternehmen lieber als das Recht auf Bildung. Wie dem auch sei, ich denke nicht, dass dass jetzt diskutiert werden sollte, weil auch ich viele der Variablen nicht kenne.
Sie sind in der politischen Einschätzung die viertbeliebteste Person in Chile und man munkelt schon an, dass Sie für ein Abgeordnetenamt kandidieren werden.
Das Problem ist nicht damit gelöst, dass ich kandidiere, das spielt keine Rolle. Die wahre Herausforderung besteht darin, dass es Menschen geben muss, die bereit sind, die Wechselwirkung der Kräfte in den Räumen zu ändern, wo Entscheidung gefällt werden. Wenn uns nicht gefällt, wie die Sachen laufen, müssen wir uns ihrer annehmen. Wir müssen das Parlament dafür rügen, damit es tatsächlich repräsentativ und nicht nur von Bürokraten besetzt ist.
Am 26. Januar werden Sie in Berlin sein und am 2. Februar in Italien ankommen. Was halten Sie von Europa?
Ich denke, dass sich die Entwicklung der Länder des Nordens dank der Unterentwicklung der Länder des Südens vollzieht. Europa auf der einen Seite, und Lateinamerika, Asien und Afrika auf der anderen. Es muss immer ausgeplünderte Orte geben, damit andere das Vergnügen eines exzessiven Lebens genießen. Die Europäer waren Teil des Kolonisierungsprozesses, der unsere indigenen Völker ausradierte. Sie haben sie niedergedrückt, massakriert und versklavt.
Genozid?
Es ist doch eine bewiesene Tatsache, dass es in Lateinamerika Genozide gab. Hier tötete man mit dem Schwert und mit dem Kreuz. Zudem beutete man die Natur aus, unsere Bodenschätze. Und nach wie vor holen sie sich die Rohstoffe wie Blutsauger. Woher kommen denn die multinationalen Konzerne? Aus Spanien, den USA …
Mit welcher der lateinamerikanischen Linken identifizieren Sie sich?
Man muss aus jeder Elemente herausgreifen, weil sie alle ihre Besonderheiten haben, abhängig von ihrer geschichtlichen Entwicklung und der politischen Wirklichkeit. Aber mir gefällt sehr, was Rafael Correa in Ecuador macht, Evo Morales in Bolivien und José Mujica in Uruguay.
Würden Sie sich stark machen für eine eventuelle Wiederwahl der chilenischen Ex-Präsidentin Michelle Bachelet, jetzt wo die Kommunistische Partei eine Allianz mit der Opposition eingehen könnte?
Ich wäre niemals bereit, eine Kampagne für Bachelet durchzuführen noch würde ich die Jugendlichen dazu aufrufen, sie zu wählen. Niemand kann mir die Sicherheit geben, dass ihr Programm die Ideen repräsentieren würde, welche die studentische Bewegung aufgestellt hat. Und ich bekomme keine Weisungen von der Partei. Alles passiert letztendlich aufgrund meiner persönlichen Entscheidung. Ich bin niemandem gegenüber verpflichtet.
Wie wird sich die studentische Bewegung in Chile in Zukunft entwickeln?
Diese Bewegung ist Initialzündung für einen sozialen Prozess, auf den wir weiterhin hinarbeiten werden. Wir wollen strukturelle Reformen im Bildungswesen, aber auch ein Land mit mehr Rechten und Garantien vonseiten des Staates aufbauen. Das Aussterben der studentischen Bewegung ist keine Option.
Mehr zum Text:
Das Interview erschien zuerst in der spanischen Zeitung El País. Die deutsche Übersetzung veröffentlichte zuerst das Portal amerika21. Wir danken für die freundliche Genehmigung. Die Fragen stellte Rocio Montes Rojas. Übersetzung: Tobias Schulz.
Mehr im Internet:
Ausführliche Informationen über die Rundreise mit Camila Vallejo gibt es bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Mehr auf marx21.de:
- Mobilisieren statt Minister stellen: Wie chilenische Linke in den 60er und 70er Jahren gegen den Kapitalismus kämpften, illustriert das Buch »MIR – Die Revolutionäre Linke Chiles«. Von Florian Wilde
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