50.000 Menschen beteiligten sich an den größten Protesten der Anti-Atom-Bewegung seit Jahren. Unter dem Motto »Mal richtig abschalten« forderten die Teilnehmer in Berlin die »sofortige Stilllegung aller Atomanlagen – weltweit«. Ein Bericht mit Video
Hunderte gelbe Fahnen mit dem Slogan »Atomkraft? Nein Danke« wehten über der Menschenmenge, die vom Hauptbahnhof über den Bahnhof Friedrichstraße zum Brandenburger Tor zog. Ein großes Transparent verkündete: »Es geht wieder los!«. In einem Block der Demonstration zeigten Delegationen von den Atom-Standorten ihre Ortsschilder: Lubmin, Brokdorf, Biblis, Neckarwestheim. »Wehrt euch, leistet Widerstand«, war aus einem der Lautssprecherwagen zu hören. Auf Plakaten standen Sprüche wie: »Kerngesund? Wir sind nicht blind!«, »Atomkraft ins Technikmuseum« oder »Den Atomkonzernen den Stecker rausziehen«. Einige Demonstranten verkleideten sich als »Atommüllfässer«. Junge Leute, die in weißen Strahlenschutzanzügen steckten, boten Passanten kostenlose Radioaktivitätsmessungen an und verteilten Informationsmaterial. Es beteiligten sich auch 400 Bäuerinnen und Bauern mit ihren Traktoren. Sie kommen zu meist aus dem Landkreis Lüchow-Dannenberg, wo der Protest gegen die Atomanlagen in Gorleben seit 32 Jahren lebendig ist. Auch zahlreiche Politiker nahmen an der Demonstration teil, darunter Bundestags-Vizepräsident Wolfgang Thierse (SPD), die Grünen-Spitzenkandidaten Renate Künast und Jürgen Trittin sowie Vertreter der LINKEN. Die LINKE und die Grünen beteiligten sich auch am Anti-Atom-Treck mit einem eigenen Wagen.
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Kritik an den Atomkonzernen
Viele der Protestierenden kritisierten die Atomkonzerne. So Liane Andersen (57) aus Dipshorn bei Bremen. Dem online Magazin Klimaretter sagte sie: »Atomkraft rettet das Klima nicht, sondern füllt nur die Kassen der Atomkonzerne. Ich bin hier, damit das Lügen endlich ein Ende hat«. Auch Stefan Taschner (39) aus Berlin sieht das so: »Mal richtig abschalten – dafür bin ich hier! Es ist gar nicht einzusehen, dass sich die Atomkonzerne auf Kosten der Allgemeinheit Geld in die Taschen schaufeln. Das gehört abgeschaltet!«. Gleichzeitig betonten Teilnehmer, die Notwenigkeit des außerparlamentarischen Protestes. So Jana Tuschik (21) aus Hildesheim : »Veränderungen gibt es nur, wenn wir die Politik unter Druck setzen. Darum bin ich hier – um ein Zeichen zu setzen« oder Dagmar Albrecht (46) aus Berlin: »Ich bin der Meinung, dass Atomkraft nicht sicher ist und es genügend Alternativen gibt. Ich kann es nicht fassen, dass ich auch mehr als 20 Jahre, nachdem ich ich in Brokdorf dabei war, noch gegen Atomkraft demonstrieren muss«. Für Bernd Brouns (35) aus Berlin ist klar: »Ich war dabei, weil es für einen schnelleren Atomausstieg Druck von der Straße braucht.«
Gewerkschaften gegen Atomkraft
Bei der Kundgebung vor dem Brandenburger Tor sprach als erster der Bauer Fritz Pothmer aus dem Wendland. Eigentlich würden alle Leute und alle Trecker bei der Kartoffelernte gebraucht, betonte er. »Aber der politische Irrsinn zwingt uns wieder auf die Straße. Wir wollen keine Atomkraft und werden sie uns nicht aufzwingen lassen«, sagte er. Nach Pothmer kam der Metallgewerkschafter Ingo Hummel von Volkswagen aus Salzgitter auf der Bühne zu Wort. »Wir wollen nicht das Atomklo der Nation werden«. Gleichzeitig für Erneuerbare zu sein und weiter auf Atom- und Kohlestrom zu setzten, »das geht nicht«. Für Hummel ist klar, dass Umweltbewegung und Arbeiterbewegung gemeinsam handeln müssen. Deswegen ist der Autobauer beim Anti-Atom-Treck mitgefahren: Er hat den Protestierenden einen Automotor mitgebracht. Der sei »ein Zeichen der Verbundenheit im Kampf gegen die Atompolitik«. Und ein Symbol, »denn die IG Metall ist auch ein Motor im Widerstand gegen Schacht Konrad«. Im ehemalige Bergwerk „Schacht Konrad« soll als Endlager für Atommüll dienen. Bei der Abschluss Kundegbung spricht außerdem der IG Metall Vorsitzende Berthold Huber. Er wird aus Frankfurt am Main per Videokonferenz zugeschaltet. Dort demonstrieren zeitgleich Tausende Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen. Huber unterstricht die Solidarität der IG Metall mit den Protesten der Anti-Atombewegung und forderte: »Es darf keinen Ausstieg aus dem Atomausstieg geben.«
Der Protest geht weiter
Zum Abschluss der Kundgebung zog Anti-Atom-Veteran Wolfgang Ehmke von der Bürgerinitiative Lüchow Dannenberg eine begeisterte Bilanz. »Statt der Renaissance der Atomkraft erleben wir die Renaissance der Anti-Atom-Bewegung«, sagte er. »Wir demonstrieren, wir twittern, sitzen auf der Straße und der Schiene, schreiben Leserbriefe und wechseln den Stromanbieter – sofort.« Die Wahlversprechen der Parteien beurteilte Ehmke skeptisch: »Wir haben unsere Lektion gelernt: Traut der politischen Klasse nicht«, sagte der langjährige Aktivist aus dem Wendland. »Wir bauen nicht auf Parteien, wir setzen auf die eigene Kraft.« Nach der Wahl müssten die Proteste weitergehen, forderte Ehmke: »Verhandeln die Parteien übers Atom, sind wir wieder da. Kippt das Moratorium in Gorleben, machen wir’s wie Hase und Igel, bis den Mächtigen die Puste ausgeht. Und rollt im November 2010 der nächste Castor nach Gorleben, dann stellen wir uns wieder quer.« Insgesamt sei die Situation für die Bewegung gut«, schloss Ehmke: »Wir haben eine Chance, und wir nutzen sie!«
Auch Jochen Stay, Sprecher der bundesweiten Anti-Atom-Organisation .ausgestrahlt will das der Protest nach der Bundestagswahl weiter geht. »Wir haben den Parteien heute gezeigt, womit zu rechnen ist, wenn der lang angekündigte Atomausstieg nicht umgehend umgesetzt wird. Die Anti-Atom-Sonne ist kein Relikt aus den 80er Jahren, sondern das hochaktuelle Symbol einer starken Protestbewegung. Nach all unserer Erfahrung wird es nicht ausreichen, bei der Bundestagswahl atomkritische Parteien zu wählen. Deshalb werden wir unabhängig vom Wahlausgang die Koalitionsverhandlungen zur Bildung einer neuen Bundesregierung mit Protesten begleiten.«