Heute wird Gerhard Schröder 70 Jahre alt. Nils Böhlke erinnert an die Hoffnungen, die 1998 auf seiner rot-grünen Regierung ruhten und erklärt, warum sie enttäuscht wurden
Mitte der 90er Jahre konnte sich eine ganze Generation nicht mehr daran erinnern, dass es einmal eine andere Regierung als die aus CDU und FDP und einen anderen Bundeskanzler als Helmut Kohl gegeben hatte. Der gefühlte »ewige Kanzler« war scheinbar nicht loszuwerden.
Doch nach dem Ende einer kurzen Boomphase nach der Wiedervereinigung wollte die Regierung mit massiven Angriffen auf die Beschäftigten aus der tiefer werdenden Krise herauskommen. Also versuchte sie 1996, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auf 80 Prozent zu senken und der Kündigungsschutz zu »lockern«.
Bewegung gegen Kohl
In zahlreichen Betrieben vor allem im Süden legten Belegschaften spontan die Arbeit nieder. Die Gewerkschaften organisierten große Demonstrationen. Langsam entwickelte sich eine Umbruchstimmung, die sich 1997 auch in einem bundesweiten Studierendenstreik ausdrückte.
Große Teile der Bevölkerung und auch die Gewerkschaften setzten ihre Hoffnungen auf die SPD. So unterstützten die Gewerkschaften den Wahlkampf mit vier Millionen Mark. Mit dem Versprechen, die zentralen Angriffe wieder zurückzunehmen und eine Politik zu beenden, die die Reichen reicher und die Armen zahlreicher machte, konnte die SPD zunächst zahlreiche Landtagswahlen und schließlich auch die Bundestagswahl 1998 gewinnen.
Rückzug von Lafontaine
Tatsächlich nahm die neue Regierung die Veränderungen bei der Lohnfortzahlung und dem Kündigungsschutz wieder zurück. Aber bereits kurze Zeit später zeigte sich, dass dies kein Start für einen umfassenden Politikwechsel war. Interne Auseinandersetzungen über den weiteren Kurs führten dazu, dass der damalige SPD-Vorsitzende und Finanzminister Oskar Lafontaine sich von allen seinen Ämtern zurückzog.
Lafontaine stand für einen weiteren Reformkurs und für eine Regulierung der Finanzmärkte. Er wollte tatsächlich eine Politik, die sich nicht mehr ausschließlich an den Interessen der Reichen und Konzerne orientierte. Da die Spielräume aber im Rahmen des Kapitalismus nicht mehr ausreichten, kritisierte ihn die nationale und internationale Presse scharf. Gemeinsam mit Wirtschaftsvertretern trat sie eine wochenlange Kampagne los, die ihn unter anderem als »gefährlichsten Mann Europas« titulierte. Diese Kampagne hatte Erfolg. Im März 1999 nahm Lafontaine seinen Hut.
Nato-Krieg gegen Jugoslawien
Im gleichen Monat folgte dann der zweite Schock. Deutschland nahm am Nato-Krieg gegen Jugoslawien teil. Es war also ausgerechnet eine Regierung, an der die Grünen beteiligt waren, die zum ersten Mal seit dem zweiten Weltkrieg wieder deutsche Soldaten in einen Krieg schickte.
In der Folge führte die Regierung 2000 eine Steuerreform durch, die zu einer massiven Umverteilung zugunsten der Reichen und Konzerne führte und setzte letztlich mit den Hartz-Reformen die schärfsten Angriffe auf den Sozialstaat in der Geschichte der Republik durch.
Aderlass für die SPD
Die Folge war ein unglaublicher Aderlass für die SPD. Es gab riesige Austrittswellen aus der Partei, in einigen Bundesländern lösten sich ganze Ortsverbände auf und die Wählerbasis sank von über 40 Prozent bei den Wahlen 1998 auf ein historisch niedriges Niveau.
Wieso nimmt eine Partei einen solchen Einbruch in Kauf und setzt eine Politik durch, die sich gegen das eigene Wählerklientel richtet? Der verlorene Machtkampf von Oskar Lafontaine gegen Gerhard Schröder drückt aus, dass sich in der SPD eine offen wirtschaftsfreundliche Politik gegen die Idee eines sozialen Ausgleichs zwischen Kapital und Arbeit durchgesetzt hatte. Vor die Wahl gestellt zwischen einer Sanierung der Profite oder des Sozialstaats, entschied sich die rot-grüne Regierung für die Profite. Dies war allerdings keine zufällige Entscheidung.
Entmachtung der Gewerkschaften
Die Gewerkschaften in Deutschland waren durch ihre Stärke, die sie in der Nachkriegszeit aufgebaut hatten, lange Zeit in der Lage, die Abwälzung der seit den 1970er Jahren in zunehmendem Ausmaß wiederkehrenden Krisen auf die Beschäftigten abzufedern. Für deutsche Konzerne wurde es im globalen Konkurrenzkampf zu einem größer werdenden Wettbewerbsnachteil, dass es beispielsweise in den USA und seit der Entmachtung der Gewerkschaften durch Margret Thatcher in den 1980er Jahren auch in Großbritannien sehr viel einfacher war, durch Angriffe auf die Arbeiterklasse Krisen zu überwinden.
Europaweit setzten Sozialdemokraten dem schon länger nichts mehr entgegen, sondern betrieben den Sozialabbau selber mit.
Tony Blair, der ehemalige britische Premierminister, hatte dies als eine »New Labour«-Politik beschrieben, nach der soziale Politik nicht mehr – wie es die Sozialdemokratie in den 1970er Jahren gemacht hatte – durch einen Kompromiss zwischen Kapital und Arbeit erreicht werde, sondern durch eine direkte Unterstützung der Reichen und Konzerne. Deren Gewinne sollten so groß sein, dass letztlich etwas davon die ärmeren Teile der Bevölkerung erreichen sollte.
Globaler Standortwettbewerb
Dies hat in der Realität nirgendwo jemals funktioniert. Dennoch gab es auch in der SPD eine starke Bereitschaft, die von Seiten der Konzerne vorgebrachten Argumente anzunehmen und in Politik umzusetzen. Deutschland galt als »der kranke Mann Europas«. Angeblich habe Deutschland im globalen Standortwettbewerb aufgrund der »Reformunwilligkeit« der Deutschen keine Chance mehr gehabt. Die Sozialdemokratie gab dieser Argumentation nach.
Eine wirkliche Alternative hätte nur in einer Politik gelegen, die durch eine starke Mobilisierung der Beschäftigten aktiv gegen die Interessen der deutschen Konzerne angeht. Eine solche Politik konnte es aber mit der Führung der SPD nicht geben, die zum einen auf eine passive Vertretung ihrer Wähler setzte und zum anderen den Interessen der Konzerne nachgab.
Gewerkschaften hilflos
Während die Gewerkschaften noch während der Regierungszeit Kohls mit großen Mobilisierungen auf scharfe Angriffe antworteten, reagierten sie auf Sozialabbau durch eine sozialdemokratisch geführte Regierung hilflos. Trotz der Politik gegen die Interessen der Beschäftigten hofften sie durch einen Dialog mit der Regierung wieder stärkeren Einfluss zu gewinnen.
Dies erwies sich als fatale Fehleinschätzung. Hinzu kam, dass die jahrelange Massenarbeitslosigkeit die Kampfkraft der Gewerkschaften ohnehin schon massiv geschwächt hatte. Sie waren somit weder wirklich willens noch im ausreichenden Ausmaß dazu in der Lage gegen die Agenda-Politik anzukämpfen.
Auf Mobilisierung setzen
Das Ergebnis ist bekannt. Deutschland hat heute den größten Niedriglohnsektor. Die Agenda-Politik hat zwar zu einer Verringerung der offiziellen Zahl der Erwerbslosen geführt, aber dies ist lediglich auf einen massiven Anstieg der Teilzeit- und Minijobs sowie anderer Formen prekärer Beschäftigung zurückzuführen. Studien haben gezeigt, dass sich die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden in den letzten Jahren nicht geändert hat.
Einen Beschäftigungsboom hat es also nicht gegeben. Im Gegenteil hat diese Politik in Europa dazu geführt, dass derzeit in zahlreichen Ländern Südeuropas eine massive Verelendungspolitik stattfindet. Auf der anderen Seite hat sich allerdings eine neue Partei gegründet, die einen offenen Angriff auf die Konzerne nicht scheut und zumindest im gewerkschaftlichen Mittelbau einen gewissen Einfluss hat.
Leider gibt es auch in der LINKEN keine eindeutige Orientierung auf die Mobilisierung und die Selbstaktivität der Menschen. Wer aus den Fehlern der Sozialdemokratie lernen will, sollte nicht auf Stellvertreterpolitik in einer rot-rot-grünen Regierung, sondern auf eine Mobilisierung der Beschäftigten setzen.
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- Mit Kampagnen die Wirklichkeit verändern: Die von der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) entwickelte Einheitsfrontstrategie sollte Revolutionären dazu dienen, in nicht revolutionären Zeiten eine massenwirksame Politik auf einer nicht sektiererischen Grundlage zu entfalten. Dieses Konzept ist in der LINKEN heute kaum bekannt. Die Einheitsfront-Politik war aber in der Weimarer Republik ungemein erfolgreich. Deshalb haben wir uns mit dem Parteivorsitzenden Bernd Riexinger darüber unterhalten, ob sie nicht auch ein Konzept für die LINKE sein könnte
Foto: Blaues Sofa