In Kriegsruinen und Privatzimmern erarbeitet Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn mit Afghaninnen und Afghanen Theaterstücke. marx21.de sprach mit dem Theatermacher über die befreiende Kraft der Kultur und die Wut auf die ausländischen Truppen
marx21.de: Hjalmar, Du machst seit einigen Jahren Theater in Kabul. Brauchen die Menschen in Afghanistan nicht eher etwas zu essen?
Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn: Diese Aussage hat ein afghanischer Kollege im Vorfeld eines Trainingsworkshops tatsächlich eines Tages geäußert. Wenige Tage später hat er sie zurückgenommen und das Theater als ideales Instrument der Friedensförderung und des Dialogs bezeichnet. Wir maßen uns nicht an zu glauben, dass das Theater allein ausreicht, um in Afghanistan Frieden zu schaffen. Aber die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen, dass dieses Medium den Menschen die Möglichkeit gibt, ihre Sorgen und Bedürfnisse zu äußern. Sie können struktureller, körperlicher und wirtschaftlicher Gewalt sowie fehlender gesellschaftlicher Teilhabe konkrete Visionen und Alternativen von unten entgegenzusetzen. Viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben die Theaterarbeit als für sie befreiend bezeichnet, so zum Beispiel eine Frau, die sich nach der Trennung von ihrem Ehemann, ein in Afghanistan extrem gefährlicher Tabubruch, nun über die Theaterarbeit ein neues Leben für sich und ihre Kinder erschafft. Das Theater habe sie zu einem neuen Menschen gemacht, sagte sie mir mit einem Lächeln auf dem Gesicht.
Du nimmst Methoden aus dem Theater der Unterdrückten von Augusto Boal auf. Kannst Du in drei Sätzen beschreiben, was Boal erreichen wollte und mit welchen Mitteln?
Boal gründete das Theater der Unterdrückten mit dem Ziel, das oft elitäre, unpolitische und zu einem reinen Konsumobjekt gewordene Theater zu demokratisieren und es ausgegrenzten Gruppen als Mittel zur gesellschaftlichen Veränderung und Mobilisierung zur Verfügung zu stellen. Dabei hat Boal über die Jahre verschiedene Techniken entwickelt, von denen das Forumtheater sicherlich weltweit am bekanntesten ist. Im Forumtheater werden die Zuschauer zu Handelnden, in dem sie eine konkrete Unterdrückungssituation nicht nur theoretisch kritisieren, sondern versuchen, diese im sicheren Umfeld des Theaters aktiv zu verändern, um dann eines Tages das selbe im wahren Leben zu unternehmen.
Wie sieht das in den Stücken aus, die ihr aufführt?
2009 haben wir eine afghanische Theaterplattform, die Afghanistan Human Rights and Democracy Organization, gegründet, die mit verschiedenen Theatermethoden arbeitet. Neben dem bereits erwähnten Theater der Unterdrückten arbeiten wir auch mit dem Playback-Theater. Das ist eine Form von interaktivem Improvisationstheater, das wir zur Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen sowie zur Förderung alternativer Darstellungen der Geschichte nutzen. Es kann zum Beispiel zum Schweigen gebrachte Stimmen hörbar machen, wie die Stimmen der Opfer von Krieg, wirtschaftlicher Ausgrenzung oder ethnischer Diskriminierung. Stellvertretend dafür ist eine Frau, die an einem einzigen Tag erst ihren Sohn und später ihren Ehemann in Bombenangriffen verlor und seitdem allein in einem der ärmsten Viertel Kabuls lebt und weiterhin auf eine Form von Gerechtigkeit wartet. »Trotz all der Millionen, die in den letzten Jahren ins Land geflossen sind, lebe ich in einer Hütte ohne Wasser und Strom und die Mörder meiner Familie posieren heute als überzeugte Demokraten. Ich warte nur darauf, dass Allah mich bald zu sich holt«, sagt sie verbittert.
Schließlich arbeiten wir auch mit eher konventionellem Theater. So touren wir gerade ein Dokumentartheaterstück namens »Infinite Incompleteness«, welches die realen Kriegserlebnisse afghanischer Männer und Frauen in den verschiedenen Landessprachen erzählt und dabei sämtliche Konfliktperioden, inklusive der heutigen Zeit, abdeckt. Auch führen wir zurzeit unser erstes legislatives Theaterprojekt zum Thema Frauenrechte durch, in dem wir mit Hilfe des Theaters der Unterdrückten den Frauen des Landes ermöglichen, Gesetzesvorschläge zu machen, die später im afghanischen Parlament besprochen werden.
Die Massenmedien haben in Deutschland ein ziemlich rückständiges Bild der Afghanen gezeichnet. Wenn wir das zugrunde legen, ist kaum vorstellbar, dass Afghanen sich in Kostümen auf die Bühne stellen oder ihre Frauen dabei zuschauen lassen. Stimmt das? Wo und unter welchen Umständen führt ihr auf?
Dieses rückständige Bild ist leider ein Ausdruck eines sich auch in der Entwicklungszusammenarbeit ständig zeigenden Westzentrismus, der mit einem Gefühl zivilisatorischer Überlegenheit und einer Verachtung lokaler Kapazitäten und Traditionen einher geht. Afghanistan ist ein Land mit einer überaus reichen Kultur. Die Menschen lieben Poesie, Musik und Tanz und sind in ihrer Kommunikationsweise äußerst gestenreich und buchstäblich theatralisch. Was die konkrete Theaterarbeit betrifft, so sind die partizipativen Theatermethoden von Beginn an hervorragend aufgenommen worden und es gab nur extrem wenige Menschen, die sich der Arbeit gegenüber nicht aufgeschlossen gezeigt haben. Außerdem arbeiten wir zu 80 Prozent mit Frauen verschiedener Couleur, die sich in der Regel mit großer Freude und Kreativität den Theateraktivitäten widmen, wenn auch bei den Aufführungen in der Regel keine Männer zugegen sind. Was die Aufführungsorte betrifft, so arbeiten wir bevorzugt in Gemeindezentren, privaten Räumlichkeiten und geschichtlich symbolischen Orten, zum Beispiel in Hinterhöfen oder vom Krieg zerstörten Gebäuden. Dabei geben die allgemeine Sicherheitslage und die konkreten Bedürfnisse der Gruppen, mit denen wir arbeiten, den Ausschlag dafür, wie die Arbeit dann konkret aussieht.
Du bist mit Unterbrechungen seit 2007 in Afghanistan. Wie hat sich das Land in Deinen Augen in dieser Zeit verändert?
Ich habe insgesamt rund drei Jahre vor Ort gelebt und obwohl es vor allem in Kabul sicherlich zu einigen positiven infrastrukturellen Veränderungen gekommen ist und viele Menschen mit ausländischen Geldern versuchen, die Gesellschaft zu verändern, so arbeiten wir mit unserem Theater vor allem auf der Stimmungs- und Gefühlsebene und da ist die Lage mit Sicherheit schlechter denn je. Nicht nur herrscht weiterhin Angst vor Gewalt und Armut, sondern vor allem mit Bezug auf die politische Situation haben die Enttäuschungen der letzten Jahre tiefe Spuren hinterlassen. Zum Beispiel durch den häufigen Wahlbetrug, die vielen zivilen Toten der Taliban- und NATO-Gewalt, aber auch hinsichtlich der Cliquenwirtschaft der afghanischen Eliten und der sich immer weiter von den gewöhnlichen Menschen entfernenden und hinter immer höheren Mauern verschanzenden internationalen Gemeinschaft. Die Frustration und Hoffnungslosigkeit ist groß. Die Hearts and Minds sind zum großen Teil verloren.
Hat sich die Haltung der Menschen gegenüber der NATO und gegenüber Deutschland in dieser Zeit verändert?
Als ich 2007 zum ersten Mal in Afghanistan landete, erzählten mir viele, dass sie die Ankunft der US-Amerikaner und der NATO-Truppen mit anschließender Absetzung der Taliban-Regierung sehr begrüßten. Als eine Art Befreier wurden sie von vielen Menschen gefeiert. Dieses Wohlwollen gegenüber den ausländischen Truppen hat sich seitdem bei vielen, wenn auch sicher nicht allen, Menschen geändert. Die ständig zu beklagenden zivilen Opfer und vielleicht mehr noch das vielfach sehr arrogante und kulturell absolut unangebrachte Verhalten der Militärs, so zum Beispiel die nächtlichen Hausdurchsuchungen, haben einen beträchtlichen Teil der Menschen sehr wütend gemacht und sie dazu bewegt, die Präsenz der internationalen Truppen stärker zu hinterfragen.
Befürworter des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan bringen gegen einen Abzug der Bundeswehr oft vor, dann würde ein Bürgerkrieg ausbrechen, der die Taliban wieder an die Macht bringen würde. Wie siehst Du das? Was für Erfahrungen hast Du mit den Afghanen gemacht?
Es gibt tatsächlich viele Menschen in Afghanistan, die sehr besorgt sind, dass ein Abzug der internationalen Truppen einen neuen Bürgerkrieg produzieren wird. Vor allem unter den ethnischen Minderheiten im Land herrscht große Angst, dass sie wieder Opfer rassistisch bedingter Angriffe werden. Auf der anderen Seite haben viele Menschen nach drei Jahrzehnten sinnloser Gewalt von sämtlichen Repressionsapparaten die Nase voll und würden ein Land ohne ausländische Truppen bevorzugen. Dies ist mit Sicherheit auch historisch bedingt, da verschiedene Länder über die letzten 150 Jahre immer wieder versucht haben, das Land für ihre Interessen zu benutzen. Den Menschen ist klar, dass die derzeitige Präsenz der ausländischen Truppen keinen humanitären Charakter hat und sie Spielball geostrategischer und imperialistischer Ambitionen sind.
(Die Fragen stellte Jan Maas.)
Zur Person:
Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn, geb. 1977 in Hamburg. Bachelor in Sozialwissenschaften und Master in Friedens- und Entwicklungsstudien. Seit einigen Jahren als freier Theatermacher in Afrika, Asien, Lateinamerika und Europa beschäftigt. Co-Gründer der afghanischen Theaterplattform Afghanistan Human Rights and Democracy Organzation (AHRDO) mit Sitz in Kabul. Im März 2011 ist sein Buch «Tears into Energy – Das Theater der Unterdrückten in Afghanistan« im Ibidem Verlag erschienen, das im Magazin marx21 rezensiert werden wird.
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