Außerparlamentarische Einmischung in die Politik sei und werde immer mehr eine Spezialität gutbetuchter Ruheständler – so der Politikwissenschaftler Franz Walter. Mit dieser Momentaufnahme seine Instituts sollte man sich nicht begnügen, meint Arno Klönne
Über Mangel an Medienecho kann sich der Politikwissenschaftler Franz Walter, Leiter den Instituts für Demokratieforschung in Göttingen, keineswegs beklagen, über Desinteresse bei potenziellen Auftraggebern auch nicht.Diesmal finanzierte der Ölkonzern BP seine Studie; um Herkünfte, Motive und Mentalitäten der neuerdings viel beachteten Wutbürger geht es darin. (www.demokratie-göttingen.de, »Bürgerprotest in Deutschland«)
Die meisten Kommentatoren zeigen sich erstaunt über die Ergebnisse – in ihrer Mehrheit, so die Göttinger Forscher, handele es sich bei den Protestlern um gutbürgerliche Zeitgenossen, materiell abgesichert, beruflich erfolgreich, zumeist schon in Rente oder Pension, und ganz überwiegend männlichen Geschlechtes, wohlsituierte Freizeitrevoluzzer also. Nicht gegen flächendeckende soziale Missstände oder auf politische Strukturprobleme richte sich in der Regel die bürgerwütige Einmischung, sondern ihr Hauptthema seien Veränderungen im lokalen Umfeld, die als belästigend empfunden werden, als unnötig und unqualifiziert, angezettelt von Politikern, denen es an Sachverstand fehle.
Zeit zum Protest
Ein überraschendes Resultat politologischer Forschung? Das denn doch nicht. Frei verfügbare Zeit, Entlastung von der Sorge um das tägliche Brot und Erfahrung im Umgang mit öffentlichem Publikum sind naheliegenderweise günstige Bedingungen für die Teilnahme an Bürgerinitiativen »postmaterialistischer« Art.
Der Niedriglöhner in Schichtarbeit kann sich solch ein Engagement kaum leisten, die Minijobberin beim Einkaufscenter auch nicht, zumal nur zu oft die Hausarbeit schon auf sie wartet. Selbst die Studentinnen oder Studenten sind unter Zeitdruck, seit der Hochschulreform müssen unentwegt Punkte gesammelt werden, wir leben ja nicht mehr im Jahre 1968…
Gut betuchte Pensionäre
Das Unternehmen BP kann übrigens mit dem Ergebnis der Göttinger Studie zufrieden sein – ein wütender Angriff auf die Tankstellen, der Preissteigerungen wegen, ist von den Bürgern, die da beobachtet und beschrieben wurden, nicht zu befürchten.
Franz Walter nimmt durchaus die neuen elektronischen Formen von Protest zur Kenntnis, mit ihren jüngeren Betreibern und anderen Voraussetzungen fürs Mitmachen. Aber er vermutet, dass zukünftig vor allem das Protestverhalten von gut betuchten Pensionären und Rentnern expandieren werde, als schichtgebundene Version partizipativer Politik. Seine Deutung: Ein zu bejubelnder Zugewinn an Demokratie sei das nicht unbedingt.
Politische Aktivität als Klassenprivileg
Das ist plausibel, das Problem lässt sich freilich schärfer formulieren und die Ursachen sind in den Blick zu nehmen: Die sozialen Verhältnisse in der bundesrepublikanischen Gesellschaft, die alltäglichen Arbeits- und Lebensbedingungen entwickeln sich dahin, dass politische Partizipation immer mehr zum Klassenprivileg wird. Das zeigt sich im außerparlamentarischen wie auch in dem auf Parteien und Parlamente bezogenen Sektor politischer Aktivität.
Die sogenannten Unterschichten gewöhnen sich an diesen Zustand, auch zur Teilnahme an Wahlen verspüren sie wenig Neigung. Wer das Gefühl hat, dass die sozialen und materiellen Bedrängnisse, denen er ausgesetzt ist, gar nicht das Thema im gesellschaftlich herrschenden Diskurs sind, hat allen Grund, demselben fernzubleiben. Selbstverschuldete Ohnmacht? Das ist leicht gesagt. Demokratie muss, um wirtschaftlichen Machtinteressen Risiken zu ersparen, sich nicht institutionell selbst abschaffen. Da gibt es feinere Methoden.
Skepsis gegenüber dem Bürgerprotest
Außerdem hat Skepsis gegenüber dem Bürgerprotest auch etwas mit der Ahnung von Realität zu tun. Wenn »unten« gesagt wird: »Die da oben machen ja doch was sie wollen«, dann ist das keineswegs wirklichkeitsfremd, jedenfalls nicht , wenn es um wirtschafts- und sozialpolitische Strukturentscheidungen geht.
Also bleibt, was Protest und mehr Demokratie angeht, nichts als Resignation? Die Göttinger Studie gibt nur eine Momentaufnahme der deutschen Verhältnisse und auch dies unvollständig. Untersucht wurden vorwiegend spezifische Formen des Protests, bürgerliche eben.
Proteste in Europa
In anderen europäischen Ländern hat sich gegenwärtig außerparlamentarisches politisches Engagement neu belebt, getragen gerade auch von jungen Leuten und von Menschen, die ganz und gar nicht im Wohlstand leben. Die Bundesrepublik liegt nicht auf einem anderen Kontinent.
Dem »Institut für Demokratieforschung« zur Anregung ein Zitat: »Das Große bleibt groß nicht und das Kleine nicht klein«. Die Geschichte geht weiter, das hat sie so an sich. Auch die der deutschen Gesellschaft.
Zuletzt in Klönnes Klassenbuch:
- Mit der Bundeswehr in den Drohnenkrieg: Die Bundesregierung will für ihre internationalen militärischen Operationen Kampfdrohnen anschaffen. Ein weiterer Schritt auf dem Weg zur »Enttabuisierung« nicht nur des Militärischen, sondern auch des Angriffskriegerischen – meint Arno Klönne
- Verwirrspiel Niedersachsenwahl: In Niedersachsen löst Rot-Grün wohl Schwarz-Gelb ab. Aber Hoffnungen auf einen Machtverlust von Angela Merkel bei der Bundestagswahl lassen sich daraus nicht ableiten, meint Arno Klönne
- Mali soll Kriegsgewinne bringen: Der französische Staat führt in Westafrika seine militärischen Fähigkeiten vor. Deutsche Politiker versprechen volle politische Unterstützung. Auf dreiste Weise wird im Fall Mali über die geopolitischen Realitäten hinweggetäuscht, meint Arno Klönne