Wie chilenische Linke in den 60er und 70er Jahren gegen den Kapitalismus kämpften, illustriert das Buch »MIR – Die Revolutionäre Linke Chiles«. Von Florian Wilde
Die Bewegung der revolutionären Linken (Movimiento de Izquierda Revolucionaria, MIR) Chiles gehört vermutlich zu den spannendsten Organisationen der sich in den 60er Jahren weltweit herausbildenden Neuen Linken. Ihr gelang in kurzer Zeit, wovon viele der damals zahlreichen linksradikalen studentischen Gruppierungen nur träumen konnten: der Sprung aus der Universität und die Verankerung in den Kämpfen der Armen.
Als Salvador Allende 1970 zum Präsidenten Chiles gewählt wurde, schloss sich die MIR nicht seinem Linksbündnis Unitad Popular an. Bei einer kritisch-solidarischen Grundhaltung versuchte sie, die Regierung außerparlamentarisch von links unter Druck zu setzen. Als am 11. September 1973 das Militär putschte, bildete die MIR aus dem Untergrund heraus eine treibende militante Kraft im Widerstand gegen die Pinochet-Diktatur. Für die westdeutsche Chile-Solidarität spielte die Unterstützung der MIR in den 70ern eine wichtige Rolle.
Frauen in führender Position
Nur wenig ist aus der Geschichte der MIR heute noch bekannt. Zu viele ihrer Mitglieder wurden unter der Diktatur ermordet oder in Folterkellern systematisch gebrochen. Nun ist mit dem 11. Band der »Bibliothek des Widerstandes« ein Buch erschienen, das die Geschichte dieser revolutionären Linken Chiles vorstellt.
Neben einem Text zur Rolle von Frauen in der Bewegung und später im Widerstand und Exil findet sich in dem Band ein umfangreicher Beitrag vom langjährigen Führungsmitglied der MIR und Neffen von Salvador Allende, Andrés Pascal Allende. Er schildert die Geschichte der MIR seit ihrer Gründung Mitte der 60er Jahre.
Sammlungsbewegung an den Unis
Im MIR kamen Linkssozialisten, Guevaristen, Trotzkisten und Anarcho-Kommunisten aus unterschiedlichen Generationen zusammen. Zunächst eine eher kleine Organisation, baute sich die MIR rasch eine starke Basis an den Universitäten auf. Immer mehr radikalisierte Studierende strömten in die Organisation.
Einer von ihnen, Miguel Enriquez, wurde ihr Generalsekretär und bestimmte bald den Kurs der Organisation, die nun zunehmend versuchte, sich auch außerhalb der Universität zu verankern. Allende berichtet: »Von den Unis aus begannen wir jungen MIRisten die Verbindung zu Elendsviertelbewohnern, Mapuche-Gemeinschaften und Mienen- und Industriearbeitern herzustellen.«
Mobilisierung der Massen
Der MIR wandelte sich gleichzeitig in eine politisch-militärische Organisation, die versuchte, »den bewaffneten Kampf mit der politischen Arbeit in den sozialen Massenorganisationen« zu verbinden. Spektakuläre Enteignungs- und Umverteilungsaktionen machten die Gruppe landesweit bekannt.
Der bewaffnete Kampf blieb aber immer der politischen Arbeit untergeordnet: »Wir waren immer davon überzeugt, dass das zentrale Moment, um revolutionäre Kräfte zu sammeln, die Mobilisierung der Massen für ihre eigenen Interessen ist«, so Allende.
Lieber kein Minister werden
Die MIR wurde zur treibenden Kraft in den Kämpfen um eine Universitätsreform und schaffte es, diese Aktivitäten mit autonomer Bildungsarbeit in Armenvierteln und Gewerkschaften zu verbinden. Ihre führende Rolle bei Landbesetzungen durch landlose Bauern und diskriminierte Mapuche-Indios verschaffte ihr zusätzliche Popularität.
Erfolgreich baute sie so verschiedene »Fronten« unter den Studierenden, den Armen und – wenn auch in geringerem Maße – unter den Arbeitern auf, in denen sich Zehntausende organisierten. Als 1970 die Linke die Wahlen gewann, bot Präsident Allende Miguel Enriquez vom MIR das Gesundheitsministerium an. Die MIR lehnte ab, um lieber ihre Strategie »der direkten Mobilisierung der Massen und den autonomen Aufbau von Volksmacht« fortzusetzen, stellte ihre bewaffneten Aktionen in den Jahren der Linksregierung aber ein.
Bis zum bitteren Ende
Stattdessen orientierte die Gruppe auf Land- und Fabrikbesetzungen und Enteignungen unter Arbeiterkontrolle, um den von Allende angestoßenen, aber rasch wieder ins Stocken geratenen Transformationsprozess neuen Schwung zu verleihen, die Bourgeoisie zu schwächen und der erstarkenden Rechten entgegen zu treten. Als das Militär 1973 putschte, war niemand außer der MIR auf einen bewaffneten Widerstand vorbereitet.
Ihre Militanten waren fest entschlossen, dem Beispiel des Präsidenten Allende zu folgen und bis zum bitteren Ende zu kämpfen. Bis zu 2.000 Aktivisten der Organisation bezahlten diese Entscheidung mit dem Leben. Am 5. Oktober 1974 wurde auch Miguel Enriquez bei der brutalen Erstürmung eines Hauses in der Straße Santa Fé von Sicherheitskräften erschossen.
In diesem Haus nimmt der autobiographische Dokumentarfilm, der dem Band beigefügt ist, seinen Ausgangspunkt. In ihm schildert Carmen Castillo, die an dem Schusswechsel beteiligte Lebensgefährtin von Enriquez, ihr Leben und die Geschichte der MIR in bewegenden Bildern.
Allende, Andrés Pascal/Tamara Vidaurrázaga Aránguiz: MIR – Die Revolutionäre Linke Chiles, Bibliothek des Widerstands Bd.11, Hamburg 2011, 176. S., icl. DVD: Castillo, Carmen: Calle Santa Fé, 2007, 163 Min, 19,90 €
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