Der eine dreht gesellschaftskritische Hollywoodfilme, der andere ist einer der bekanntesten linken Intellektuellen Großbritanniens. Oliver Stone und Tariq Ali trafen sich in Los Angeles und sprachen über neue Hoffnung in Lateinamerika, die Schwächen des US-amerikanischen Imperialismus und die Hexenprozesse von Salem
Anfang des Jahres 2009 erhielt ich einen Anruf aus Paraguay. Oliver Stone war am Apparat. Er hatte mein Buch »Piraten der Karibik: Achse der Hoffnung« gelesen, meine Essaysammlung über die neue Politik in Lateinamerika, und er fragte mich, ob ich seine Arbeiten kenne. Ich kannte sie, insbesondere die politischen Filme, mit denen er die verlogene Darstellungen des Kriegs in Vietnam angriff, wie sie in den B-Movie-Jahren der Präsidentschaft Ronald Reagans in Mode gekommen waren. Stones Weigerung, die »Wahrheiten« des Establishments gelten zu lassen, ist der wichtigste Aspekt in seinem Filmschaffen. Stone fragte mich, ob wir uns treffen könnten, um sein ambitioniertestes Projekt, eine zwölfstündige Dokumentationsreihe mit dem Titel »The Untold History of the United States« zu diskutieren. Einen Monat später trafen wir uns in Los Angeles.
Oliver Stone: In deinem Buch »Fundamentalismus im Kampf um die Weltordnung« schreibst du: »Es gibt eine universale Wahrheit, die sich Philosophen und Politiker gleichermaßen eingestehen müssen: Sklaven und Bauern gehorchen nicht immer ihren Herren. Seit den Tagen des Römischen Imperiums wurde die Welt immer wieder von Aufständen erschüttert, und ein Zusammentreffen bestimmter Ereignisse hat zu völlig unerwarteten Ausbrüchen geführt. Warum sollte es im 21. Jahrhundert anders sein?«
Tariq Ali: Es wird nicht anders sein, da bin ich mir sehr sicher. Wir können nicht vorhersagen, was für Ereignisse das sein werden oder wo sie sich abspielen werden, aber sie werden die Welt überraschen. Gerade weil wir um frühere Ereignisse in der Geschichte wissen, können wir mit gewissem Optimismus in die Zukunft blicken. Die lateinamerikanischen Entwicklungen wurden von niemandem vorhergesehen. Niemand hat erwartet, dass Venezuela, ein Land, das kaum jemand auf der Welt kannte, plötzlich Teil der »Achse der Hoffnung« werden könnte, wie ich das nenne. Chávez hat Venezuela zu weltweiter Bedeutung verholfen. Weißt du, als Chávez zum ersten Mal in den Nahen Osten reiste, interviewte al-Dschasira ihn eine ganze Stunde lang. Weil die arabischen Zuschauer Untertitel hassen, sprach ein sehr guter Schauspieler seine Sätze auf Arabisch. Chávez ist ohnehin sehr anziehend, aber danach sagte mir der Aufnahmeleiter von al-Dschasira, der für die Sendung verantwortlich war: Wir haben Tausende von E-Mails bekommen, mehr als je zuvor. Und in neunzig Prozent dieser E-Mails hieß es in der ein oder anderen Variante: Wann wird die arabische Welt einen Chávez hervorbringen?
DAS NEUE HEFT: AB 2. DEZEMBER
Titelseite, Inhaltverzeichnis ansehen (Kostenloser Flash Player muss installiert sein)
Für größere Ansicht bitte mit der Maus auf die Titelseite klicken. Großansicht kann mit der Taste "Esc" (links oben auf deiner Computertastatur) wieder verlassen werden.
marx21 erscheint fünfmal im Jahr.
Hier die aktuelle Ausgabe als Einzelheft bestellen (3,50 plus Porto) oder marx21 abonnieren (4 Euro pro Heft, frei Haus) bzw. das Jahresabo-Angebot (20 Euro plus Buchprämie, frei Haus) nutzen.
Wer bisher noch keine marx21-Ausgabe bestellt hat, kann einmalig ein kostenloses Probeheft ordern (in der Drop-Down-Liste »Art des Abonnements« die Option »Ich will eine Ausgabe von marx21 kostenlos testen« auswählen. Felder zu Kontoangaben einfach leer lassen.)
Aus welchem Land könnte ein neuer Chávez kommen?
Nun, das ist schwer zu sagen, aber ich denke, Südasien und der Ferne Osten halten noch einige Überraschungen für uns bereit. Wir sprechen über China als Wirtschaftsriesen, aber wir sprechen sehr selten über die Auswirkungen dieses Systems auf China. Bauernaufstände, Fabrikbesetzungen von Arbeitern, eine ruhelose Intelligenz, all das könnten wir noch erleben.
Und gibt es einen möglichen Joker, der einen inneren Zusammenbruch des Imperiums beschleunigen könnte? Einige haben behauptet, wir können uns all diese Truppen, all diese Militärstützpunkte nicht leisten.
Ich denke, vieles wird von der Wirtschaft abhängen. Vieles wird davon abhängen, was die amerikanische Öffentlichkeit tun wird, wenn die Ökonomie weiter so den Bach runtergeht wie jetzt. Wenn die amerikanische Bevölkerung dagegen zu rebellieren beginnt, nun, das wird das Ende des Imperiums sein. Es wird nicht weitermachen können.
Es ist sehr schwer für die Bevölkerung, gegen die Armee aufzustehen. Das ist geschichtlich gesehen immer schwierig.
Ja, aber die Leute könnten jemanden wählen, der sagt, wir waren schon viel zu lange im Ausland, das hat uns sehr viel gekostet, und jetzt lasst uns mit derselben Energie unser Land hier umgestalten. Wenn ein Politiker das jetzt sagen würde, bekäme er bestimmt viel Unterstützung. Obama hatte Möglichkeiten, aber offensichtlich wollte er diesen Weg nicht beschreiten. Er würde es vielleicht tun, gäbe es eine große Volksbewegung in den Vereinigten Staaten, die diese Forderung erhebt. Die gibt es nicht. Das wäre meiner Ansicht nach aber notwendig.
Ein anderer möglicher Joker, der sich vielleicht abzeichnen könnte, wäre eine große Umweltkrise. Das würde jeden sofort aufrütteln.
Nun, zweifellos. Ich meine, wenn das allen klar wird. Aber auch dann stellt sich die Frage, wie wir die Welt umbauen wollen.
Dann wird es notwendig …
… zusammenzuarbeiten, zu planen, eine Planwirtschaft zu haben.
Würde es gleich einen Plan geben?
Ja, das würde es.
Würden die Leute ihre alten marxistischen Lehrbücher hervorkramen und nachsehen, wie das geht? Gibt es genaue Vorgaben?
Nun, ich glaube nicht, dass es brauchbare Handbücher für gute Planung gibt, aber immerhin wissen wir, wie wir es nicht machen sollten. Und wir wissen, dass der Plan die ganze Bevölkerung mit einbeziehen muss, die den Überblick von unten beisteuern kann.
Was ist der beste Planungsstaat der Welt? Die Schweiz?
Ich denke, das ist vermutlich einer der kleineren skandinavischen Staaten. Die Norweger haben eine ziemlich gute Planung. Die Kubaner haben in Bezug auf ihre soziale Infrastruktur eine gute Planung. Sie haben es getan und so gezeigt, wie es geht.
Das wäre wohl die größte Überraschung überhaupt, weil die Leute immer sagen, ja, irgendwann wird es passieren, aber sie erwarten es nicht gleich morgen.
Nein, und weil so viele Menschen lieber in der Gegenwart leben – und auch darin bestärkt werden -, wollen sie nicht über das Morgen nachdenken. Sie leben für den Tag.
Ist das US-Imperium wegen seiner besonderen Ursprünge in irgendeiner Form anders oder anfälliger dafür, Geschichte zu ignorieren oder zu leugnen?
Wenn ich über die Ursprünge des amerikanischen Imperiums nachdenke, dann fällt mir natürlich als Erstes ein, dass die Kolonisten anfingen, die Urbevölkerung, der sie begegneten, auszurotten, und das war verknüpft mit einem religiösen fundamentalistischen Glauben an die eigene Güte und Größe. Ich meine, die Denkweise der Fundamentalisten, die hierherkamen, der Pilgerväter, unterschied sich nicht grundlegend von der der Wahhabiten oder der Osama bin Ladens. Genaugenommen gibt es sogar eine Menge Gemeinsamkeiten zwischen protestantischem Fundamentalismus und wahhabitischem Fundamentalismus, und du erkennst das daran, wie sie Frauen behandeln, all diese Feldzüge.
Die Hexenprozesse von Salem?
Genau! Weißt du, Frauen sind vom Teufel besessen. Prügel ihn aus ihnen heraus. Das war also der Anfang. Dann gab es die Sklaverei, die Grundlage für einen Großteil des in den Vereinigten Staaten geschaffenen Reichtums. Dann gab es die gewaltsame Ausdehnung des Imperiums, was Cormac McCarthy sehr gut in einem seiner besten Romane, »Die Abendröte im Westen«, beschreibt. Dann gibt es den Bürgerkrieg, bei dem es angeblich um die Befreiung der Sklaven ging, was in gewisser Hinsicht auch stimmt, aber der im Wesentlichen der Versuch war, die Vereinigten Staaten gewaltsam zu vereinigen. All das hat also zur Entstehung der Vereinigten Staaten, wie wir sie heute kennen, beigetragen. Und seit dem Ersten Weltkrieg gewannen die Vereinigten Staaten an Größe und Einfluss und wurden zu einer beherrschenden Macht, die sich nach dem Kalten Krieg zum Ultraimperialismus entwickelte, ohne Herausforderer und militärisch nicht zu schlagen, sehr stark, ohne Konkurrenten. Das ist das erste Mal in der Menschheitsgeschichte, dass ein Imperium ohne einen einzigen Rivalen dasteht.
Wirklich das erste Mal?
Die Römer dachten das manchmal auch von sich, aber nur, weil ihnen nicht wirklich bewusst war, wie stark die Perser oder eben die Chinesen waren. Sie dachten im Rahmen der mediterranen Welt, nicht global. Das ist also jetzt das erste Mal, dass so etwas passiert. Und das macht die Führung dieses Imperiums außerordentlich selbstgefällig, sie halten die Zustimmung ihrer Bevölkerung für gegeben. Aber was ist, wenn dieser Konsens plötzlich zerbricht? Die großen Probleme, vor denen das Imperium jetzt steht, sind wirtschaftlicher Natur, der Zustand der Wirtschaft im eigenen Land und militärische Überbeanspruchung. Irak ist ein verheerender Krieg. Afghanistan verwandelt sich in dieselbe Katastrophe.
Der »Hinterhof« des Imperiums, wie er seit der Zeit der Monroe-Doktrin bekannt ist, ist völlig außer Kontrolle geraten, mit einer ganzen Reihe radikaler Politiker, den bolivarischen Politikern unter Führung von Hugo Chávez, unterstützt von Evo Morales und Rafael Correa und den Kubanern, und Bischof Lugo aus Paraguay, und, wenn auch nicht im selben Maße, mit Rückendeckung von Lula in Brasilien und Bachelet in Chile und Kirchner in Argentinien, die den Vereinigten Staaten sagen, wir werden es nicht mehr dulden, dass ihr uns isoliert. Wir werden zusammenarbeiten. Wir werden es nicht noch einmal zulassen, dass ihr ein einzelnes Land benutzt, um ein anderes zu zerstören. Und die Führung der Vereinigten Staaten ist jetzt gezwungen, diesem neuen Lateinamerika ins Gesicht zu sehen.
Von hier aus ist es natürlich ein langer Weg bis zu einem Zusammenbruch der Vereinigten Staaten. Ich glaube, die Leute, die über den automatischen Zusammenbruch von Imperien reden, haben Unrecht. Das geschieht nicht automatisch. Aber wenn die Wirtschaftskrise so weitergeht, wenn die Milliarden zur Bankenrettung keine Wirkung zeigen, dann könnten auf unsere Herrscher unangenehme Überraschungen zukommen. Das sind dann vielleicht keine Überraschungen, die den Linken gefallen, aber es werden Überraschungen sein.
Es wird eine neue Stimmung geben, die Leute werden fragen, warum wir so viel Geld im Ausland ausgeben. Warum sollten wir diesen Regimen und Ländern helfen? Was hat das mit uns zu tun? Lasst uns unser eigenes Land verbessern. Und wie sich solch eine Bewegung entwickeln wird, werden wir sehen. Aber ich denke, eins können wir jetzt schon sagen: Das Auftrumpfen und die Hochstimmung nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind so gut wie verflogen. Alle wissen, dass dies eine schwierigere Welt ist, der sie sich stellen müssen.
Das ist nicht das »Ende der Geschichte«?
Das ist keineswegs das Ende der Geschichte und auch nicht einfach ein »Kampf der Zivilisationen«. Ich denke, selbst Francis Fukuyama hat begriffen, dass die Welt sich weit über das hinaus verändert hat, was er sich vorstellen konnte, und Samuel Huntington hat in seiner letzten veröffentlichten Arbeit den Kampf der Kulturen hinter sich gelassen und vor einem Kampf innerhalb des Christentums gewarnt, er behauptet, die weiße angelsächsische und protestantische Elite in den Vereinigten Staaten sei ernsthaft durch die Latinos gefährdet. Sie seien eine Art katholischer Christen aus Südamerika, die unsere Lebensweise bedrohen. Er irrte sich in dieser Hinsicht, aber er hatte insofern recht, als die Latinobevölkerung in den Vereinigten Staaten jetzt größer ist denn je. Das Bevölkerungswachstum bei ihnen ist viel, viel höher als bei der nichtkatholischen Bevölkerung.
Und die neuen Einwanderer aus Südamerika dienen als Brücke nach Südamerika. Sie interessieren sich dafür, was im mexikanischen Chiapas passiert. Sie beschäftigen sich mit Zentralamerika. Sie beschäftigen sich mit den Bolivarern, und das meistens auf positive Weise. Und die junge Generation Kubaner in Florida will keinen Angriff der Vereinigten Staaten auf Kuba. Florida und andere Orte waren bisher einfach nur reaktionäre Nester mit alten Konterrevolutionären, die sich dort ein hübsches Heim gesucht haben, aber inzwischen hat sich einiges verändert. Es hat sich eine ganze Menge bewegt.
Die interessante Frage, die ich mir in meinen eher utopischen Momenten stelle, lautet, ob die Veränderungen in Südamerika über diese Brücke und über die Latinobevölkerung in den Vereinigten Staaten etwas erreichen werden, das niemand von uns vorhersehen kann.
Zu den Personen:
Oliver Stone ist ein US-amerikanischer Regisseur, Drehbuchautor und Produzent. Zu seinen bekanntesten Filmen zählen »Platoon«, »John F. Kennedy – Tatort Dallas« und »Natural Born Killers«. Stone wurde für seine meist politischen Werke dreimal mit dem Oscar ausgezeichnet. Zuletzt lief sein Film »Wall Street 2: Geld schläft nicht« in den Kinos.
Tariq Ali ist ein britischer Autor, Filmemacher und Historiker. Er war einer der bekanntesten Vertreter der 68er-Bewegung und ist langjähriger Redakteur der Zeitschrift New Left Review. Er ist Autor von »Fundamentalismus im Kampf um die neue Weltordnung«, »Bush in Babylon« und »Piraten der Karibik«. Zuletzt erschien auf Deutsch sein Roman »Die Nacht des goldenen Schmetterlings (Heyne 2011).
Das Buch:
Bei diesem Text handelt es sich um Auszüge aus dem Gesprächsband Oliver Stone/Tariq Ali: Zur Geschichte, aus dem Englischen von Rosemarie Nünning, Laika-Verlag 2011 (ISBN 978-3942281-16-4, 96 Seiten, Preis 14,90 EUR). Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Laika-Verlags.
Mehr auf marx21.de:
- »Der Geist ist aus der Flasche«: Die Tea Party war gestern, jetzt prägt Occupy die politische Debatte in den USA. Steht die amerikanische Linke vor einem Comeback? Kaum einer kann das besser wissen als der langjährige Aktivist Joel Geier. Wir haben uns mit ihm getroffen
- Castros Insel folgt dem Modell China: Im April stimmte ein nationaler Parteitag auf Kuba Reformen zu, mit denen das Land für Marktkräfte geöffnet werden soll. Mike Gonzalez untersucht die Widersprüchlichkeiten auf der Karibikinsel