Der schwarz-rote Koalitionsvertrag trägt eine deutliche Handschrift – die der Konzerne. Eine Analyse von David Maienreis
Nach langen Verhandlungen haben sich die Vorsitzenden von SPD, CDU und CSU am 27. November auf einen Koalitionsvertrag geeinigt (vorbehaltlich des SPD-Mitgliederentscheids, der erst nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe stattfand, Anm. d. Red.). Große Enttäuschungen enthält er nur für die wenigen SPD-Wähler, die darauf gehofft hatten, die Sozialdemokratie würde sich tatsächlich von der Agenda-Politik aus der Schröder-Fischer-Zeit distanzieren. Doch allein schon die Kür Peer Steinbrücks zum Spitzenkandidaten machte deutlich, dass dies recht unwahrscheinlich sein würde.
Kürzungen durch Schuldenbremse
Was die Großkoalitionäre nun als Programm für die kommenden vier Jahre vorgestellt haben, lässt sich als eine Politik der ruhigen, aber harten Hand beschreiben. Frontale Angriffe auf die arbeitende Bevölkerung will die Bundesregierung nicht selbst unternehmen, dafür wird das Geschäft der schmerzhaften Einschnitte auf die unteren Ebenen, also die Länder und Kommunen, verlagert. Steuererhöhungen, durch die der Bund wieder in die Lage käme, tatsächliche Verbesserungen für die Bevölkerung zu finanzieren, hat die neue Regierung eine pauschale Absage erteilt.
Das bedeutet, dass der Bund den Status quo verwalten wird, Länder und Gemeinden aber dazu gezwungen werden, tausendfach und schmerzhaft im Kleinen zu kürzen: Das wird vor allem bei den sogenannten freiwilligen Leistungen geschehen, also bei den Zuschüssen zu Schwimmbädern, Bibliotheken, beim Nahverkehr, bei sozialen Einrichtungen, öffentlichen Investitionen und letztlich beim öffentlichen Dienst. Dort steht vielerorts ein Stellenabbau bevor, der die Funktionsfähigkeit der öffentlichen Hand auf die Aufgaben eines Nachtwächterstaates zurückstutzt.
Die auf Grund der Finanznot anstehenden Kürzungsattacken in Ländern und Gemeinden werden alles bisher Gekannte übertreffen, wenn die »Schuldenbremse« tatsächlich eingehalten werden soll. Aber es wird nicht die Bundesregierung sein, die deswegen den Hass der Bevölkerung auf sich zieht. Für die Schließungen von Frauenhäusern und Nachhilfeeinrichtungen und den systematischen Betrug bei den Unterkunftskosten von ALG-II-Beziehern sind schließlich die Kommunen zuständig. Bürgermeister und Ministerpräsidenten werden sie zu verantworten haben.
Eroberung des Weltmarkts
Die Bundesregierung legt derweil ein Programm vor, das auf die internationale Rolle Deutschlands und der deutschen Industrie fokussiert. Die »bewährte Flexibilität auf den Arbeitsmärkten« soll erhalten werden, also die Hartz-Reformen, die das Lohnniveau gedrückt und so den Exportboom der deutschen Industrie befördert haben. Zudem sollen mit einer immer schlechter gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft und einem wachsenden Niedriglohnsektor im Rücken die deutschen Monopolkonzerne, die »nationalen Champions«, bei ihrer Eroberung des Weltmarkts unterstützt werden.
Den zweiten Schwerpunkt des Koalitionsvertrags bildet die Weiterentwicklung der politischen und militärischen Handlungsfähigkeit des deutschen Staats in der Welt. Unter dem Stichwort der »Rohstoffsicherung« finden sich im Koalitionsvertrag per Copy-and-paste eingefügte Passagen aus der Rohstoffstrategie des Bundes der Deutschen Industrie (BDI). Auch aus älteren gemeinsamen Anträgen der Fraktionen von CDU/CSU und SPD zur »Verzahnung« der unterschiedlichen Instrumente der deutschen Außenpolitik, einschließlich der Entwicklungs- und Sicherheitspolitik, haben die Autoren des Koalitionsvertrages geklaut. Sie alle sollen dem Ziel dienen, die internationalen Investitionsbedingungen für deutsche Konzerne zu verbessern und deren Zugriff auf strategische Rohstoffe zu sichern.
In diesen Zusammenhang gehört ebenfalls das beeindruckend sture Festhalten an der bisherigen Europapolitik. Die hat ebenso wie die deutsche Exportoffensive zu einer tiefgreifenden Zerrüttung eben jener wirtschaftlichen und politischen internationalen Strukturen beigetragen, auf deren Erhalt das deutsche Kapital und seine Bundesregierung setzen.
Mindestlohn am Ende der Legislaturperiode
Noch im Sommer hat Sigmar Gabriel dem Deutschlandradio gegenüber eine Große Koalition ausdrücklich ausgeschlossen. Nun hat die Parteiführung der SPD das Problem, dass die Zusammenarbeit mit der Union bei ihrer Basis und Anhängerschaft auf wenig Gegenliebe stößt. Sie steht vor einem Dilemma: Die Spitzen der Partei hatten am Kurs der CDU schon in den vergangenen Jahren an keinem einzigen Punkt Wesentliches auszusetzen. Der SPD-Basis aber, die in einer Mitgliederbefragung über den Koalitionsvertrag abstimmen soll, muss sie nun beweisen, dass sozialdemokratische Kernanliegen in der neuen Regierung berücksichtigt werden.
Ihr »cleverer« Ausweg ist ein ziemlich durchsichtiges Verfahren. Gemeinsame Arbeitsgruppen der Koalitionspartner haben Vorschläge zu den Herzensanliegen der SPD-Anhängerschaft entwickelt, zum Beispiel zur Renten- und Sozialpolitik. In der Vorabfassung des Koalitionsvertrages hieß es hierzu dann jeweils: »Lösungsoptionen liegen vor. Wegen strittiger Finanzierung nicht abschließend konsentiert.« Was von diesen Anregungen in der Endfassung des Vertrags übrig geblieben ist, steht nun unter Finanzierungsvorbehalt. Gleichzeitig hat sich die Koalition auf eine drastische Reduzierung der Neuverschuldung und eben auf den Verzicht auf Mehreinnahmen festgelegt. Das bedeutet im Klartext: Nichts, was Geld kostet, wird umgesetzt. Und selbst die Einführung eines Mindestlohns in ungewisser Höhe und mit ungeklärtem Geltungsbereich hat die Koalition für das Jahr 2017 angekündigt, also für das Ende der Legislaturperiode oder gar für die Zeit nach ihrer Regierungszeit.
Die »sozialdemokratische Handschrift« in diesem Vertrag mag nur erkennen, wer die Geschichte der Partei über die letzten 15, 50 oder 100 Jahre verfolgt hat. Doch den Anhängern der SPD wird dieses Regierungsprogramm oder was davon künftig umgesetzt wird, ähnlich enttäuschend vorkommen wie die Politik der rot-grünen Bundesregierung oder die der Großen Koalition der Jahre 2005 bis 2009. Beide Projekte führten zu massiven Mitglieder- und Wahlverlusten der SPD.
DIE LINKE als einzige Opposition
Das Zustandekommen dieser Koalition und das gute Abschneiden der CDU bei der Bundestagswahl resultieren nicht nur aus der »Sozialdemokratisierung« der CDU unter Merkel. Sondern sie sind auch ein Ergebnis der Enttäuschung von SPD- und Grünen-Wählern über deren Politik als Opposition im Bundestag und als Regierung in Ländern wie Baden-Württemberg. Merkels Erfolg basiert nicht auf ihren Angriffen auf die Lohnabhängigen und gesellschaftliche Randgruppen, sondern darauf, dass die deutsche Bevölkerung dank ihrer Politik von den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise bislang kaum unmittelbar betroffen ist.
Zudem sieht die Mehrheit ihre sozialen Anliegen bei einer Regierung in guten Händen, die mit Zustimmung der großen Gewerkschaften eine Politik verfolgt hat, mit der die deutschen Unternehmen gut leben konnten. Dadurch sind die sozialen Kosten der Krise bislang relativ gering gehalten worden. Umfragen belegen derweil regelmäßig, dass dies keine Auswirkungen gehabt hat auf die mehrheitliche Ablehnung sämtlicher zentraler Projekte der Agenda-Politik. Die rot-grünen »Reformen« bei der Rente, der Gesundheit, der Bildung, vor allem aber die Ausweitung des Niedriglohnsektors und die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse werden unverändert von deutlichen Mehrheiten abgelehnt. DIE LINKE ist weiterhin die einzige Partei, die diese Mehrheitsmeinung in den politischen Raum trägt.
Potenzial für Proteste
Wenn der hessische Spitzenkandidat der Grünen, Tarek Al-Wazir, der seine Partei gerade in die erste Koalition mit der national-konservativen hessischen CDU geführt hat, von der LINKEN fordert, sie müsse von der Protest- zur Gestaltungspartei werden, dann weist er damit unabsichtlich den Weg einer erfolgreichen Politik des Widerstandes. Der wird in den kommenden Jahren nötig sein und lässt sich womöglich zu einer landesweiten Protestwelle ausweiten. Denn SPD und Grüne rücken mit den Koalitionen, auf die sie sich jetzt einlassen, ein weiteres Stück vom gesellschaftlichen und betrieblichen Widerstand ab. Selbst die SPD-nahen Gewerkschaftsführungen werden sich in den nächsten Jahren hin und wieder gezwungen sehen, die Große Koalition wegen ihrer Untätigkeit und ihrer Politik der sozialen Nadelstiche zu kritisieren.
In privaten und öffentlichen Betrieben besteht das Potenzial für zahlreiche Proteste gegen die Auswirkungen von Krise und Kürzungspolitik. Bei Themen wie Gorleben und Frankfurter Flughafen, Blockupy und den Volksbegehren gegen die Verschleuderung öffentlichen Eigentums können und wollen sich SPD und Grüne nicht mehr blicken lassen. Dieser höchst berechtigte Widerstand wird sich auf Grund der Krise und der tatsächlich wachsenden Rolle und Verantwortung des Staates für das wirtschaftliche Geschehen rasch politisieren. DIE LINKE ist hier in den kommenden Jahren gefordert, ihn aufzubauen und zu unterstützen und die großen Chancen, die sich ihr bieten, zu nutzen.
Zur Person:
David Maienreis ist wirtschaftspolitischer Referent der Linksfraktion im hessischen Landtag.
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