Krisenproteste im Zentrum des Kapitalismus: Aus einer kleinen Protestbewegung gegen Obamas Sparpolitik ist eine Bewegung geworden, die bereits die Gewerkschaften politisiert. Von Loren Balhorn
Der Unmut in den USA wächst. Nach dem verlorenen Kampf in Wisconsin letzten Frühling kommt die zweite Welle des US-amerikanischen Widerstands, und zwar auf den Plätzen von Wall Street – der Kommandozentrale der globalen Finanzmärkte.
Seit Mitte September zelten hunderte Aktivisten vor der Wall Street, um für die Rechte der »99 Prozent« zu protestieren. Meist junge, studentische Demonstrierende wollen ein Zeichen gegen Obamas neoliberale Sparpolitik und für eine solidarische Gesellschaft setzen.
Keine Forderungen
Anfangs war die Besetzung sehr von autonomen Theorien und Aktionsformen geprägt. In den ersten Wochen wurden beispielsweise keine politischen Forderungen aufgestellt, mit der Begründung, das würde die Staatsmacht legitimieren und dass die Besetzung an sich eine »neue Form der Politik« sei.
Leider wurde dies in den Medien viel mehr aufgegriffen als der politische Inhalt des Protestes – sogar bekannte linke Journalisten wie Jon Stewart haben die Bewegung am Anfang als eine Ansammlung von faulen Hippies niedergemacht, die angeblich nicht wüssten, wofür sie eigentlich protestieren.
Gewerkschaften im Boot
Dennoch wurde die Besetzung täglich größer. Denn trotz autonomer Politikkonzepte knüpften die Proteste an den realen Gefühlen von Frust und Entfremdung von Millionen Menschen an. Tagsüber sind oft tausende Menschen dort zu sehen, übernachten tun auch mittlerweile mehrere hundert. Der Wendepunkt kommt jetzt, weil Gewerkschaften anfangen, die Besetzung und die täglichen Demos zu unterstützen.
Obwohl die Gewerkschaften in den USA sich in einem historischen Tief befinden, da weniger als 10 Prozent der US-Amerikaner gewerkschaftlich organisiert sind, bedeutet ihre Beteiligung trotzdem, dass Millionen Arbeiter jetzt auf die Besetzung schauen und sogar mitmachen.
Zeitfenster geöffnet
Es ist jetzt ein Zeitfenster geöffnet wurden, währenddessen zahlreiche Menschen in die Proteste eingebunden werden und Bündnisse zwischen der radikalen Linken und der organisierten Arbeiterschaft geschmiedet werden können.
Die Entwicklungen bisher zeigen schon, dass die Medien die Demos um so ernster nehmen, je vielfältiger und größer die Demos sind. Anfangs wurden sie totgeschwiegen, aber mittlerweile sind sie so groß, dass sie täglich in den Nachrichten zu sehen sind.
In den USA ausgebreitet
Die Bewegung weitet sich auch über das ganze Land aus. Schon sind in Boston, Chicago, Los Angeles und Dutzenden anderer Städte »Occupy«-Bewegungen zu finden. Umfragen bestätigen, dass die große Mehrheit der Bevölkerung mit Sympathien auf die besetzenden Studierenden blickt.
Zum zweiten Mal in diesem Jahr findet ein offener Konflikt statt, indem sich die öffentliche Meinung auf der Seite der Kämpfenden befindet. Wenn man die Bilder anschaut und die Reden der Teilnehmer anhört, bekommt man das Gefühl, dass Klassenbewusstsein in den USA endlich wieder auf der Tagesordnung steht.
Zwangsräumungen ansprechen
Obwohl die Bewegung schnell wächst, hat sie noch viele Probleme. Nach wie vor werden keine konkreten Forderungen gestellt. In einer Stadt, wo bewaffnete Polizisten jeden Tag Menschen, die ihr Hypothek nicht mehr abzahlen können, aus ihrem Zuhause räumen, müsste die Bewegung diesen Kampf aufnehmen. Sie müsste Forderungen als greifbare Kristallisationspunkte anbieten, an denen nach Erfolg und Fortschritt messen kann.
Ohne konkrete Ziele werden viele Beteiligte nach und nach die Bewegung wieder verlassen, allerspätestens wenn Prüfungen anstehen oder die Miete bezahlt werden muss. Konkrete Forderungen würden die Bewegung auch verständlicher und plastischer machen für die Millionen, die noch Abseits stehen.
Schritt vorwärts
»Occupy Wall Street« ist ein kleiner Baby-Schritt in Richtung zum Wiederaufbau einer starken Linken in den USA. Es fehlt eine Strategie und es bleibt unklar, wie lange die Bewegung noch wachsen wird. Trotzdem ist zumindest den Herrschenden klar, womit sie es zu tun haben. Am ersten Oktoberwochenende wurden über 700 Teilnehmer eines friedlichen Protestmarsches eingekesselt und verhaftet. Bürgermeister Michael Bloomberg droht mit einer Räumung, und Ende September hat JP MorganChase, eine der größten amerikanischen Banken, 4,6 Millionen Dollar an die New Yorker Polizei gespendet. Man bekommt den Eindruck, die Gegenseite rüstet auf.
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