Die ägyptischen Revolutionären Sozialisten haben sich mit einem offenen Brief an ihre Unterstützerinnen und Unterstützer gewandt, in dem sie die Situation nach den jüngsten Militärinterventionen analysieren
Mit den schrecklichen Massakern und der brutalen Repression, mit den eskalierenden Attacken auf ägyptische ChristInnen und ihre Kirchen schreitet die Konsolidierung des repressiven Militärstaates rasch voran. Dies sind die folgenschweren politischen Entwicklungen, die wir in den letzten Wochen erlebt haben. Diese Entwicklungen stellen enorme Herausforderungen für die Revolution dar, aber sie beinhalten auch die Möglichkeit, sich auf die kommenden Wellen der Revolution vorzubereiten. Die Revolutionären SozialistInnen können diese Möglichkeiten für den Aufbau der Bewegung nutzen, vorausgesetzt, dass wir Taktiken entwickeln die in der Lage sind, mit den veränderten Verhältnissen umzugehen.
Revolution oder Militärputsch?
Nachdem Millionen auf die Straßen gegangen waren um Mohamed Mursi zu stürzen und General Abdel Fatah Al-Sisi den Präsidenten für abgesetzt erklärt hatte, begannen breit geführte Debatten darüber, wie diese Ereignisse zu charakterisieren seien. War dies eine Revolution der Massen oder ein Militärputsch, der darauf abzielte, den Präsidenten abzusetzen um eine Militärdiktatur aufzubauen? Die Antwort auf die Frage „Revolution oder Putsch?« ist von besonderer Bedeutung für die Entwicklung einer Strategie für die kommenden Monate, und vielleicht sogar Jahre, der ägyptischen Revolution.
Wer die Intervention der gigantischen Massenbewegung, welche die neue Welle der ägyptischen Revolution lostrat, leugnet, entzieht sich der Auseinandersetzung mit ihren inhärenten Widersprüchen und ignoriert sowohl die Herausforderungen, vor denen die ägyptische Revolution steht, als auch die Potenziale, die sie in Zukunft birgt.
Wenig überraschend meinen jene RevolutionärInnen, welche die Bedeutung der Intervention der Massen leugnen – oder die Massen nur als Marionetten in einer konterrevolutionären Verschwörung betrachten – den Rückzug oder das Ende der ägyptischen Revolution zu sehen. Sie erkennen die existierenden Möglichkeiten nicht und sind dementsprechend aufgrund des vermeintlichen Endes der Revolution zutiefst frustriert. Sie sind keineswegs alleine in ihrer Verleugnung der direkten Rolle der Massen im Sturz Mursis und in ihrer Ignoranz gegenüber der damit verbundenen Krise der Legitimität der Wahlen. Fast alle politischen Kräfte, inländische wie internationale, die in die gegenwärtige Situation intervenieren, blenden die Rolle der Massen aus.
Die große Ausnahme stellt hier die Militärführung dar. Sie war schließlich zuvor selbst vom Feuer der Massenbewegung verbrannt worden und konnte sie nun gar nicht übersehen. Im Gegenteil, ihre politische Strategie wird maßgeblich von der Entwicklung der Massenbewegung bestimmt. Die Militärführung stellt die wichtigste Stütze der herrschenden Klasse, des Regimes und des Staates dar. Sie ist die Speerspitze der Konterrevolution und zwingt sich der Massenbewegung als vollendete Tatsache auf. Zugleich verbreitet sie Panik in Bezug auf die mögliche weitere Entwicklung der Bewegung und versucht mit allen Mitteln, sie entweder so einzugrenzen, dass ihre Klasseninteressen nicht gefährdet werden, oder sie, wie in der Vergangenheit, mit direkter Repression zu begegnen.
Mit Sicherheit möchte die Armee die enorme Massenbewegung, die den Sturz Mursis forderte, in den von ihr gesetzten Grenzen eindämmen und den weiteren Entwicklungsgang ihren eigenen Plänen anpassen. Sie möchte verhindern, dass die Bewegung, den Rahmen des Sturzes Mursis überschreitet und beginnt, das Regime in seiner Gesamtheit infrage zu stellen. Das oberste Ziel des Militärs war, schnellstmöglich die Millionen Menschen, welche die öffentlichen Plätze füllten und die Straßen kontrollierten, zu demobilisieren und ihre Forderungen nicht weiter gehen zu lassen als jene nach dem Rücktritt des Präsidenten.
Dieses Ziel war mit den Interessen der Armee kompatibel, nachdem Mursi während seiner Amtszeit daran gescheitert war, die Revolution, welche die herrschende Klasse in eine Desorientierung gestürzt hatte, zu einem Ende zu bringen. Nachdem Mursi letztes Jahr mit dem Segen der USA, der Militärführung und eines großen Teils der Wirtschaftselite an die Macht gekommen war, gelang es ihm nicht, die Wünsche der herrschenden Klasse nach einem Ende der Revolution zu erfüllen. Ursprünglich war Mursi für die Mehrheit der herrschenden Klasse die bessere Wahl, da er sich in den Dienst des neoliberalen Projekts gestellt und mit den Interessen der Wirtschaft abgestimmt hatte. Als erster gewählter Präsident nach der Revolution hatte er keine Skrupel, sich auf eine Allianz mit den USA einzulassen und war darauf bedacht, den zionistischen Staat nicht zu beunruhigen. Am wichtigsten war jedoch, dass er in der größten Massenorganisation Ägyptens verankert war, einer Organisation, deren Basis aus hunderttausenden Mitgliedern, SympathisantInnen und UnterstützerInnen besteht. Sie sollten die Wut der Menschen absorbieren und die Massen vom neoliberalen Projekt und der damit einher gehenden brutalen Austeritätspolitik überzeugen. Somit hätte die herrschende Klasse die Kosten der Wirtschaftskrise auf die Bevölkerung abwälzen können, ohne Gefahr zu laufen von einem Massenaufstand bedroht zu werden. Stattdessen jedoch führte die Wirtschaftskrise und Mursis Versagen, die Forderungen der Revolution umzusetzen (oder genauer: sein expliziter Angriff auf diese Forderungen und Ziele) zu einem Niedergang seiner Popularität und jener seiner Organisation bis zu dem Grad, dass die herrschende Klasse und ihre Institutionen im Angesicht der Massen nicht mehr auf sie vertrauen konnten.
Als klar wurde, dass die Wut in der Bevölkerung stark genug angewachsen war um Mursi zu stürzen, musste die mächtigste und am geschlossensten agierende Institution der herrschenden Klasse – das Militär – schnell intervenieren, um die Wut der Massen einzudämmen und ihre Forderungen umzusetzen. Als klar war, dass der Regierungschef auf der Verliererseite stehen würde, sahen sie es als notwendig an, ihm die Unterstützung zu entziehen und die herrschende Klasse rund um neue Führer zu reorganisieren und zu vereinen. Diese neuen Führer würden als Helden erscheinen, die die Forderungen der Bevölkerung erfüllen und somit mit dem Volk in „einer Front« vereint würden.
Tatsächlich jedoch war die Armee zwischen zwei Fronten gefangen. Die erste war das Feuer der Massenbewegung und die Möglichkeit, dass diese ihre Schranken durchbrechen könnte, falls Mursi an der Macht bliebe. Die zweite war, im Falle eines Sturzes Mursis, das Feuer der Muslimbruderschaft und der IslamistInnen auf den Straßen, sowie die Eröffnung komplexer Fronten am Sinai und, zu einem geringerem Grad, Unruhen in einzelnen Gebieten Oberägyptens. Ganz zu schweigen von den Schwierigkeiten, die sich in den Beziehungen zu den USA entwickeln würden, wenn der von ihnen so genannte „demokratische Pfad« verlassen würde.
Trotz der befürchteten Konsequenzen entschied sich die Armee, das Feuer der Massenbewegung zu meiden. Stattdessen wurde Mursi ausgeschalten, während die Aktivitäten der Massen absorbiert und die Entwicklung ihrer Bewegung gestoppt wurde. Sich dem Feuer der Muslimbruderschaft zu stellen war weniger gefährlich, als die Massen zu konfrontieren. Die US-Administration und in geringerem Grade die EU haben langjährige strategische Partnerschaften mit der ägyptischen Militärführung, die durchaus die Spannungen, die durch den Sturz Mursis entstehen, überstehen können. Deshalb hatte das Militär viel eher Angst vor der Entwicklung der Massenbewegung und der Möglichkeit, dass diese sich von ihrer Leine losreißen könnte. Die andere Option war weitaus gefährlicher, denn wenn die Armee Mursi nicht gestürzt und die Bewegung sich radikalisiert und vertieft hätte, wäre das Vertrauen weiter Kreise der Massen in die Armee – ein Vertrauen, welches sich aus dem Fehlen von alternativen Kräften, die sich Mursi hätten entgegen stellen hätten können, gespeist hatte – erschüttert worden. Dies hätte die Bewegung aus ihrem vorgezeichneten Entwicklungspfad werfen können.
Um die Eindämmung der Massenbewegung zu konsolidieren, ernannte das Militär einen Übergangspräsident und eine neue Regierung, um sich ein ziviles Gesicht zu verpassen. Das erste Ziel der Armeeführung war die Erhaltung all ihrer Macht und Privilegien sowie die Möglichkeit, wenn nötig durch brutale Repression eine aktive, interventionistische Rolle spielen zu können. Zweitens verfolgte sie das Ziel, auf politischer wie auf ökonomischer Ebene das konterrevolutionäre Projekt zu vollenden. Das bedeutete nicht den Rückzug des Militärs von der Macht, sondern das genaue Gegenteil. Denn trotz des Rückzugs hinter die zivile Fassade der neuen Regierung hält die Armeeführung weiterhin alle Fäden in der Hand, so wie sie es in den eineinhalb Jahren des Militärrats unter der Führung des Feldmarschalls Mohammed Hussain Tantawi und General Sami Anan tat.
Wir waren also Zeugen der Welle von Massenprotesten am 30. Juni und den Tagen darauf und wir sahen wie sich das Militär nach dem 3. Juli an die Spitze der Revolution stellte, um der Entwicklung der Massenbewegung den Weg abzuschneiden. Diese Bewegung hatte das Potenzial, noch größere und radikalere Dimensionen anzunehmen, vor allem nachdem Streiks in der öffentlichen Verkehrsbehörde, bei den Eisenbahnen und in [der Industriestadt] Mahalla sowie unter Regierungsbediensteten und in vielen anderen Bereichen ausgebrochen waren.
Nach der Vertreibung der Muslimbrüder aus dem Staat, sehen wir nun auch die Rückkehr der herrschenden Klasse mit voller Wucht, mit all ihren militärischen Symbolen und alten Führern, damit das Militär diese herrschende Klasse und die Kräfte der Konterrevolution anführen kann um das zu erreichen, woran Mursi scheiterte: Die Zerschlagung der Revolution und einer ungeheuer selbstbewussten, aber auch in ihrem Bewusstsein und Organisationsgrad sehr widersprüchlichen Massenbewegung. Notwendigerweise müssen wir mit dieser Bewegung sowie den darin vorhandenen Widersprüchen einen Umgang finden. Wir müssen die darin vorhandenen Möglichkeiten ausnutzen um uns für die kommenden, stärkeren Wellen der ägyptischen Revolution vorzubereiten.
Aus diesem Blickwinkel ähneln sich der 11. Februar [2011] und der 3. Juli 2013 nicht wirklich, und sie sind tatsächlich in vielen Aspekten komplett verschieden. Im ersten Fall war die herrschende Klasse dazu gezwungen, den Kopf des Staates fallen zu lassen, was zu massiven Wirren in ihren eigenen Reihen führte. Nach dem Kollaps des Innenministeriums und angesichts der extremen Feindseligkeit gegenüber Mubarak und seinen Kumpanen war der Staat viel stärker geschwächt, als dies heute der Fall zu sein scheint. Im zweiten Fall wurde der Kopf des Regimes hingegen von der herrschenden Klasse fallen gelassen, um die eigenen Reihen wieder zu einen, die Karten neu zu mischen und die Spaltungen in ihren Reihen zu überwinden, um einen Angriff auf alle Teile der revolutionären Bewegungen vorzubereiten. Das bedeutet aber nicht, dass die politische und ökonomische Krise der herrschenden Klasse beendet ist.
Nach dem Sturz von Mursi versuchten die Muslimbruderschaft und ihre islamistischen Verbündeten, ihre Mobilisierung durch Sit-ins und Demonstrationen zuzuspitzen um ihre durch die Massen gestürzte „Legitimität« sowie ihr gescheitertes, den Zielen der Revolution feindlich gesinntes Projekt wiederherzustellen. Im Zuge dessen haben sie in vielen Regionen und Provinzen abscheuliche und unverzeihliche Verbrechen begangen. Dazu zählt ihre sektiererische Rhetorik und das Aufwiegeln ihrer AnhängerInnen, was dazu führte, dass diese ihre Wut an Christen und Christinnen ausließen und auch Kirchen angriffen. Als Revolutionäre SozialistInnen müssen wir entschieden gegen diese Aggressionen und gegen jegliche Angriffe auf die Christen und Christinnen Ägyptens auftreten. Für uns ist dies eine Frage des Prinzips.
Wir sind uns völlig bewusst, dass dies für die Muslimbruderschaft ein Kampf ums Überleben ist und sie nicht einfach aufgeben werden. Parallel zu den Angriffen und Verbrechen der Muslimbruderschaft sind sie selbst auch von brutaler Repression seitens des Militärs und des Innenministeriums betroffen, vom Massaker beim Hauptquartier der Republikanischen Garden bis zu der barbarischen Stürmung der Protestlager beim al-Nahda Platz und bei Raba’a al-Adwiyya, ganz zu schweigen von der Ermordung dreier weiblicher Mitglieder in Mansoura und weiteren Fällen.
Die Verbrechen der Muslimbruderschaft haben die meisten Fraktionen der Linken dazu gebracht, eine extrem opportunistische Haltung einzunehmen und sich mit dem Militär zu verbünden und den repressiven Staat zu unterstützen. Sie wiederholen sogar die Lügen der bürgerlichen und feloul [dem alten Regime verbundenen] Medien und haben jegliche revolutionäre oder Klassenposition aufgegeben.
Diese Perspektive baut auf einer katastrophalen Analyse auf, in der die Muslimbruderschaft und ihre Verbündeten als die größte Gefahr für die ägyptische Revolution firmieren. Doch tatsächlich stellt die Bruderschaft zwar bis zu einem gewissen Grad eine Gefahr dar, doch die Institutionen des Staates, die das Gewaltmonopol in sich vereinen, sind eine weitaus größere Gefahr für die Revolution. Diese Gefahr manifestiert sich in der Rückkehr des repressiven Staates mit all seiner Brutalität, in der diktatorischen verfassungsrechtlichen Erklärung, in der Ernennung von Militär- und Polizeigenerälen und sogar Vertretern des alten Regimes zu Provinzgouverneuren, in den Attacken auf die Streikenden von Suez Steel und in vielen weiteren Beispielen.
Zusätzlich zu der opportunistischen und verräterischen Haltung vieler sogenannter Liberaler und Linker, die das Militär unterstützen (angeführt von jenen, die an Al-Sisis Regierung teilgenommen hatten), gibt es viele die den Kampf zwischen der Bruderschaft und dem neuen-alten Regime als einen für die Revolution bedeutungslosen Kampf ansehen und die Meinung vertreten, die Revolution hätte keine Rolle im Ausgang dieser Auseinandersetzung zu spielen. Aus dieser Perspektive müssten Revolutionäre eine neutrale Haltung einnehmen, so als ob die beiden Konfliktparteien von gleicher Stärke wären und eine gleich große Gefahr für die Revolution repräsentierten.
Diese Sichtweise ist extrem kurzsichtig. Sie verkennt die wirkliche Bedeutung des aktuellen Vorgehens des Regimes und das Grinsen im Gesicht des Militärs, während sie die Sit-ins der IslamistInnen bei Raba’a al-Adawiyya und al-Nahda zerschlagen. Diese Massaker sind eine Generalprobe für die Zerschlagung der ägyptischen Revolution und werden morgen gegen jede auftauchende echte Opposition wiederholt werden, insbesondere die gegen die ArbeiterInnenbewegung. Der Angriff auf den Suez Steel-Streik war ein erster Vorgeschmack darauf. Die Massaker gegen die IslamistInnen sind nur der erste Schritt auf dem Weg in Richtung Konterrevolution. Wir müssen diesen Plan entlarven und ihn scharf und prinzipientreu angreifen.
Wegen unserer Verurteilung der Gewalt der Repressionsapparate gegen die IslamistInnen und wegen unserer Angriffe auf Al-Sisi als Führer der Konterrevolution sind wir heute heftigen Attacken ausgesetzt. Das wird uns aber nicht dazu bringen unsere Position dahingehend zu verwässern, eine vermeintliche „Balance« in unseren Angriffen auf das Militär und die IslamistInnen herzustellen, als ob es eine Gleichheit zwischen beiden im Hinblick auf die Gefahr gäbe, die sie für die Revolution darstellen. Wir befinden inmitten eines umfassenden und radikalen konterrevolutionären Prozesses, und die Zerschlagung der Sit-ins und Proteste der Muslimbruderschaft sind nur der erste Schritt davon.
Wir werden in unserer standhaften Position gegen das Militär und seine heftige Repression nicht wanken. Eine „ausgeglichene« Haltung gegenüber beiden Seiten würde Unschlüssigkeit und Unentschlossenheit anstatt einer klaren und mutigen Position gegen den repressiven Staat bedeuten. Wir können über die Militärmassaker, welche Dutzende von IslamistInnen getötet haben, nicht schweigen und wir können den Staat in der Zerschlagung der Sit-ins nicht unterstützen. Ebenso wenig können wir aufhören an die Verbrechen des Militärs zu erinnern, vor dem Innenministerium zu warnen und die Verurteilung ihrer Verbrecher bei jeder Gelegenheit zu fordern. Wir müssen uns gegen die Rückkehr des Mubarak-Staates und seiner repressiven Institutionen stellen und unsere Attacken dagegen richten.
Wir dürfen auch nicht von den UnterstützerInnen des alten Regimes und seinen Schläger dazu bringen lassen, die IslamistInnen zu schikanieren und auf den Straßen zu töten. Es gibt einen enormen Unterschied zwischen der Selbstverteidigung der Massen – auch mit Mitteln der Gewalt – im Angesicht von Angriffen der Bruderschaft, wie wir es zum Beispiel vor einigen Wochen in Manial, Bayn al-Sayarat und Giza gesehen haben, und der Gewalt der Repressionsorgane und der Schlägertrupps des alten Regimes gegen die Muslimbruderschaft. Letzteres ist keine Gewalt zur Verteidigung von DemonstrantInnen und der Revolution, sondern ein Versuch die Verhältnisse unter der Kontrolle des neuen Regimes zu stabilisieren. Zu keinem Zeitpunkt haben die Armee, die Polizei und die Elemente des alten Regimes während der letzten Wochen interveniert um die lokale Bevölkerung und DemonstrantInnen in irgendwelchen Zusammenstößen zu beschützen. In dieser Situation rufen die Tamarod-Bewegung und jene Linke, die am Rockzipfel des Militärs hängen, zur Gründung von Milizen auf, um den Staat und seine Repressionsorgane zu schützen und dabei zu helfen, die IslamistInnen zu zerschlagen. Das sind faschistische Aufrufe und wir können dies nicht akzeptieren oder unterstützen.
Wir müssen den Lügen der Medien entgegentreten, die versuchen, alle Verbrechen des Militärs und des alten Regimes der Muslimbruderschaft anzuhängen. Wir müssen das unerträgliche Narrativ herausfordern, das die Revolution vom 25. Januar [2011] auslöschen und durch die Revolution des 30. Juni [2013] ersetzen will, in der „alle Klassen« teilgenommen haben, in der es nicht um das „Abfackeln von Polizeistationen« und um „Angriffe auf Staatsinstitutionen« ging. Dieses Narrativ stellt die Januar-Revolution als eine Verschwörung der Bruderschaft dar, die eine Revolution gegen sie notwendig gemacht hätte – und nicht gegen die herrschende Klasse und ihren Staat. Zusätzlich hören wir die hasserfüllte, rassistische Attacken auf PalästinenserInnen und SyrerInnen.
Um die Muslimbruderschaft und ihre islamistische Allianz zu konfrontieren, mobilisiert der Staat beinahe alle politischen Kräfte und (ehemals) revolutionären Kräfte sowie große Teile der Massen hinter sich. Um die Forderungen der Revolution zu unterdrücken und zu entstellen, entfachen sie durch das was sie „Krieg gegen den Terror« nennen eine ekelhafte nationalistische Stimmung und behaupten „es gibt kein lauteres Geräusch als das Geräusch des Krieges«.
Was die Diskussion über den „Ausschluss« [aus dem politischen Prozess] oder die „Versöhnung« anbelangt, können die Revolutionären SozialistInnen ihre Position nicht in Isolation von der Stimmung der Massen und ihrer Orientierungen entwickeln – trotz der starken inneren Widersprüche. Die Massen werden keine Versöhnung mit der Muslimbruderschaft akzeptieren. Wie wir bereits in einer früheren Verlautbarung festhielten: „Die Trommeln der Versöhnung zu rühren suggeriert eine Gleichheit zwischen Mörder und Opfer, was völlig inakzeptabel ist, solange die Mörder der MärtyrerInnen, aller MärtyrerInnen, und ihre Anstifter nicht vor Gericht gestellt werden«. Wenn die Massen unter dem Einfluss der Medien und der bürgerlichen Propaganda die Bruderschaft ausschließen wollen, während die Elemente des alten Regimes und das Militär ignoriert werden, müssen wir auch die Rückkehr der Unterstützer des alten Regimes und die Rückkehr des Mubarak-Staates unter der Flagge Al-Sisis angreifen. Sie alle sind Feinde der ägyptischen Revolution und ihrer zukünftigen Perspektiven, und Al-Sisi ist nach allen Maßstäben viel gefährlicher als [der Führer der Muslimbruderschaft] Muhammad al-Beltagi.
Unter diesen Umständen müssen wir direkt, mutig, klar und ohne Zögern erklären: „Nieder mit der Militärherrschaft! Nein zur Rückkehr des alten Regimes [feloul]! Nein zur Rückkehr der Muslimbruderschaft«.
Haben wir Angst vor der Isolation?
Zweifellos hängen die Taktiken des Revolutionären Sozialismus einerseits wesentlich von der Entwicklung des Bewusstseins der Massen, der ArbeiterInnenklasse in ihrem Herzen sowie ihrer Avantgarde ab, sowie andererseits von der Einschätzung der Möglichkeiten und Gelegenheiten für die Entwicklung und Vertiefung der Massenbewegung im Zuge der Revolution. Die heutige Massenbewegung ist von großen inneren Widersprüchen geprägt und steht großen Herausforderungen gegenüber. Deren größte ist wahrscheinlich die scheinbare Versöhnung zwischen einem Teil der Massen mit den Staatsinstitutionen, insbesondere mit dem Militär und dem Innenministerium – dem Kopf und dem Herz der Konterrevolution. Doch trotz der enormen Frustration, die weite Kreise der Revolutionäre erfasst hat, die während der Revolution eineinhalb Jahre gegen den Militärrat gekämpft und diesen Kampf dann gegen das Regime von Mursi fortgesetzt hatten, gibt es keinen anderen Weg, eine lebendige Rolle innerhalb einer Massenbewegung zu spielen als sich mit ihr so auseinanderzusetzen, wie sie tatsächlich ist und ihre Widersprüche zu verstehen, ohne ihr gegenwärtiges Potential zu übersehen oder zu überbewerten.
Die Allianz von Elementen des alten Regimes und der liberalen Medien mit den Sicherheitsdiensten, dem Militär und dem Innenministerium hat es in weiten Teilen geschafft die Massen zu überzeugen. Dies ist gelungen, indem ein falsches Bild von der Armee und dem Innenministerium als neutrale Institutionen gezeichnet wurde und es so dargestellt wurde, als ob sie mit dem Volk gegen Mursi, die Bruderschaft und die islamistische Allianz vereint wären. Dies ist auch ein Versuch, die Verbrechen des Staates, die Morde und die Folter aus dem Gedächtnis der Massen zu löschen. Politische Kräfte wie die opportunistische Nationale Heilsfront, die Tamarod Kampagne und die „Volksströmung« [um den früheren Oppositionspolitiker Hamdin Sabahi] haben, indem sie dieses Bild durch Aufrufe nach „Einheit in den Reihen« aufpolierten, die opportunistischste und schmutzigste Rolle gespielt. Sie preisen die nationale Rolle der Armee und der Staatsinstitutionen da diese der Forderung des Volkes, mit dem Regime der Bruderschaft aufzuräumen, gefolgt waren, welche sie als die größte und einzige Gefahr für die ägyptische Revolution ansahen. Diese Perspektive repräsentiert aber nur eine dünne Kruste rund um das Bewusstsein der Massen. Es stimmt, dass es eine feste Kruste ist, und fast alle Parteien arbeiten hart daran sie noch härter zu machen. Doch darunter liegt ein aufrichtiges Bewusstsein für die Forderungen der Revolution und ihrer Forderungen nach Brot, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit.
Wir dürfen die Tatsache nicht außer Acht lassen, dass mitten in diesem widersprüchlichen Bewusstsein, trotz der Ablenkungen und den Nebelgranaten des „Kriegs gegen den Terror«, breite Teile der Bevölkerung großes Selbstbewusstsein haben. Die Massen haben ihren Willen aufrichtig durchgesetzt und seit dem Beginn der Revolution zwei Präsidenten und vier Regierungen gestürzt. Dieses Selbstvertrauen, welches unter der Kruste des widersprüchlichen Bewusstseins liegt, ist es was die Massen überhaupt dazu gebracht hat, gegen Mursi aufzustehen und es ist auch was einige unter ihnen dazu befähigt, den Kampf gegen die neue Regierung fortzuführen, nachdem nach und nach deutlicher wird, dass deren ökonomische und politische Positionen den Forderungen der Massen genau entgegengesetzt sind.
In der aktuellen Phase müssen wir jeden möglichen Weg finden, um den echten Kern des Bewusstseins der armen und arbeitenden Massen zu erreichen, in deren grundlegendem Interesse die Fortsetzung der Revolution und die Umsetzung ihrer Forderungen liegt. Um die echten Forderungen der Revolution zu verbreiten und dafür in allen Provinzen und in allen Betrieben zu mobilisieren, müssen wir betonen welche gigantischen Fähigkeiten die Massen in dem Aufstand vom 30. Juni sowie in den vorherigen Wellen der Revolution an den Tag legten. Aber das sollte und darf uns nicht dazu bringen, für die kurzfristige Unterstützung durch die Massen manche unserer Strategien und Prinzipien zu verbergen oder zu aufzuschieben. Im Gegenteil, einen Teil unserer Parolen und unserer Strategien zu verbergen um kurzfristige politische Ziele zu erreichen führt nur zu Opportunismus. Das ist nicht die Art und Weise wie die Revolutionären SozialistInnen arbeiten. Während wir unser Organisationsprojekt inmitten der Massen und für den Sieg der ägyptischen Revolution aufbauten haben wir Opportunismus stets vermieden. So dürfen wir nicht nachlassen, die Lügen, die von den Medien des alten Regimes und der bürgerlichen Liberalen präsentiert werden, anzugreifen, und auch nicht aufhören, die Generalprobe der Konterrevolution, welche das Militär und das Innenministerium heute durchführt, als solche bloßzustellen. Wir können nicht aufhören die verbrecherische Geschichte des Militärrats und Mubaraks Schergen in Erinnerung zu rufen und zu fordern, dass sie Seite an Seite mit den Führern der Bruderschaft, die sich in den letzten Wochen in ihrer Anstiftung zu Mord und Gewalt sowie der Entfesselung von abscheulichem Sektierertum übertroffen haben, vor Gericht gestellt werden. Wir dürfen auf keinen Fall unsere politischen Angriffe gegen die Elemente des alten Regimes und gegen die Opportunisten in Beblawis Regierung abschwächen, gegen ihre klar neoliberalen Tendenzen und gegen die Konsolidierung des repressiven Staates durch die Ernennung neuer Provinzgouverneure. Wir dürfen nicht nachlassen, die gigantische Macht und die Privilegien, die das Militär laut Verfassung genießt, die Kontrolle von ungefähr 25 Prozent der ägyptischen Wirtschaft durch die Armee und die Fortsetzung der erniedrigenden Camp David-Abkommen anzugreifen. Wir müssen mit diesen Dingen auf eine streng prinzipientreue Art und Weise umgehen.
Die Rückkehr des Mubarak-Staates und der Militärrepression klein zu reden ist extrem gefährlich. Der Staat Mubaraks, der in Wahrheit seit Beginn der Revolution nie gänzlich von der Bildfläche verschwunden war, kehrt heute mit voller Kraft zurück, frei von internen Krisen und mit der Unterstützung weiter Teile der Massen. Es ist diese Situation die uns dazu zwingt, unmittelbar gegen diesen Staat und seine Symbole zum Angriff zu gehen. Dieser Staat wird nicht lange warten bevor seine Attacken gegen alle gerichtet werden, welche für die Forderungen der Revolution eintreten.
Unsere prinzipientreue Position könnte in eine temporäre Isolation von den Massen führen. Unsere Botschaft wird trotz all der Anstrengungen, die wir in unsere Arbeit und die Aktivität in den Betrieben, an Universitäten und in Stadtteilen investieren, keine breite Rezeption in den Massen finden. Diese Isolation hat aufgrund unserer prinzipientreuen Haltung gegenüber dem Militär, dem alten Regime und der Bruderschaft in Wahrheit schon vor dem 30. Juni begonnen. Aber wir dürfen uns kein bisschen Frustration erlauben. Denn solange Widersprüche im Bewusstsein der Massen und in ihren Fähigkeiten zur Selbstorganisation bestehen bleiben, solange wird die Massenbewegung ein Medium bleiben, das von vielen einander überschneidenden Faktoren beeinflusst werden kann. Diese Faktoren zwingen die Bewegung auf verschiedene, gewundene Pfade, nicht auf einen geradlinig aufsteigenden Weg. Doch der wahre Inhalt des heute regierenden repressiven Regimes wird vor den Augen der Massen entblößt werden, und sie werden allmählich den Kampf dagegen aufnehmen.
Das bedeutet nicht eine komplette Isolation und Trennung von den Massen, denn es gibt zehntausende revolutionärer Jugendlicher, die während der Wellen der Revolution entschlossen gegen die Militärherrschaft gekämpft haben und die den Kampf gegen Mursis Regime vollendeten. Ihre Erfahrungen sind noch immer in den revolutionären Prinzipien verankert, sie haben ein weniger widersprüchliches Bewusstsein und sie setzen nicht auf die Institutionen des Staates, insbesondere nicht auf das Militär, das Rückgrat der Konterrevolution. Angesichts der kompletten Verschiebung der politischen Kräfteverhältnisse hin zum Militär und der von ihr ernannten Regierung werden sie die prinzipientreue Haltung der Revolutionären SozialistInnen attraktiv finden. Aus dieser Perspektive ist die Situation besser als sie es nach dem 11. Februar 2011 war, als sich die Revolutionären SozialistInnen monatelang zusammen mit einigen wenigen einzelnen AktivistInnen alleine gegen den Militärrat stellten.
In den kommenden Wochen und Monaten haben wir die Möglichkeit, einige dieser Revolutionäre anzuziehen und zu gewinnen, um unsere Reihen zu stärken und eine dynamischere und stabilere Rolle in den kommenden Wellen der Revolution zu spielen. Aber zur gleichen Zeit wollen wir auch ArbeiterInnen und die Armen integrieren, jene welche die Revolution gemacht haben und an der letzten Welle des 30. Juni für die nie erfüllten Ziele der Revolution teilgenommen haben. Hierfür ist es von höchster Wichtigkeit das Projekt der revolutionären Front zusammen mit prinzipientreuen Parteien wiederzubeleben, die weder in die Arme des Staates und der neuen Regierung abdriften, noch sich mit den IslamistInnen gegen den Staat verbünden, und die ein Programm mit den Forderungen und Zielen der Revolution übernehmen.
Revolutionäre SozialistInnen
15. August 2013
(Übersetzung: Ramin Taghian)
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