Die politischen Strukturen in Europa werden derzeit massiv verändert: Fiskalpakt und Europäischer Stabilisierungsmechanismus (ESM) sind Schritte auf dem Weg zu einem autoritären europäischen Finanzsystem, das die Souveränität der Einzelstaaten und den Parlamentarismus praktisch außer Kraft setzt. Diese Entwicklung ruft Widerspruch hervor. Aber nicht alle Kritiker führen Fortschrittliches im Schilde, meint Arno Klönne
Bundestag und Bundesrat haben den Fiskalpakt und das ESM-Vertragswerk abgesegnet, mithilfe der SPD und der Grünen, die nur etwas Theaterdonner veranstalteten. Gegner dieser Gesetze haben das Bundesverfassungsgericht angerufen, allerdings aus ganz unterschiedlichen Motiven.
Jetzt hat sogar der bayerische Ministerpräsident und CSU-Chef Horst Seehofer eine Art halbe Opposition angekündigt – so könne es »nicht mehr lange weitergehen«, sagt er. Sein Widerspruch gilt der angeblichen Beschädigung deutscher wirtschaftlicher Interessen durch die finanziellen Maßnahmen des europäischen Rettungsfonds.
Nationalistischer Hintergrund
Seehofer greift damit ein Ressentiment auf, das in der Bundesrepublik weit verbreitet ist; es hat einen klassisch nationalistischen Hintergrund. Die Bundesregierung selbst hat, begleitet von einflussreichen Medien, ihrer europäischen Finanzpolitik eine Legende beigegeben, die nun eine Eigendynamik entwickelt: Das fleißige und deshalb wirtschaftlich erfolgreiche Deutschland komme anderen, weniger emsigen europäischen Ländern in deren selbstverschuldeter Geldnot zur Hilfe.
Wer dieser Erzählung Glauben schenkt, ist naheliegenderweise empört, wenn das Verlangen nach Krediten kein Ende nimmt. »Sollen wir denn solange bürgen und zahlen, bis wir selbst in die Pleite geraten« – so das Gefühl vieler Menschen hierzulande.
Sarrazin hilft nach
Die Freien Bürger, die zur nächsten Bundestagswahl antreten wollen, wollen daraus Nutzen ziehen. Schwarz-weiß-rote Zeitungen wie die Junge Freiheit und die Preußische Allgemeine saugen Honig aus dem Verdruss über deutsche Einlagen und Bürgschaften beim ESM.
Berechtigter Ärger über die europäische Bürokratie verwandelt sich in deutsche Aggressivität gegen alles Supranationale. Thilo Sarrazin höchstselbst hat geschichtspolitisch noch etwas nachgeholfen: Dass Deutschland für das »Dritte Reich« in Haftung genommen wurde, sei doch kein Anlass, nun für ganz Europa zu haften.
Deutsches Kapital profitiert
Deutschnationaler Widerspruch gegen die Abgabe von Souveränität an ein europäisches Finanzregime ist nicht motiviert durch Abneigung gegen den Fiskalpakt. Der soll ja gerade andere Länder dazu zwingen, den Gürtel enger zu schnallen, und die müssen dann eben auf ihre Souveränität verzichten. Als Sündenfall gilt vielmehr der Europäische Stabilierungsmechanismus, weil er die Deutschen noch mehr zum angeblichen Zahlmeister Europas mache.
Hinweggetäuscht wird in dieser propagandistisch wirksamen Argumentation über historische Grundzüge der Wirtschaftsbeziehungen in Europa: Der gemeinsame Markt und das Euro-Währungssystem verhalfen deutschen Unternehmen und Banken zur gewinnträchtigen Expansion. Sie verschafften die Gelegenheit, andere europäische Länder niederzukonkurrieren.
Widerstreitende Europastrategien
Nachdem dies nun erreicht ist, bieten sich allerdings unterschiedliche Konzepte für das weitere Vorgehen an: Ein deutsch dominiertes gesamteuropäisches Finanzregime, oder Spaltung der Wirtschaftsnationen Europas, ein florierendes Kleineuropa also unter Anführung der Bundesrepublik. Oder gar Auflösung der Euro-Zone, finanzpolitischer Alleingang Deutschlands.
Jeweils im Interesse des Kapitals, aber das ist vielgliedrig, Fraktionen gibt es da, und deshalb in manchen Situationen durchaus kontroverse Strategien .Die Bundeskanzlerin liegt mit ihrem europapolitischen Kurs zweifellos kapitalkonform – aber das heißt nicht, alle deutschen kapitalistischen Interessenten würden sich bei ihr gut aufgehoben fühlen. Manche von ihnen setzen auf eine andere Chance, und so bietet es sich an, das Nationalgefühl in Anspruch zu nehmen, über Souveränitätsverlust zu klagen. Gemeint ist da nicht die Souveränität des Volkes.
Zuletzt in Klönnes Klassenbuch:
- Direkte Demokratie – von oben dirigiert: Bei jenen Politikern, die sich selbst als bürgerlich bezeichnen, kommt zunehmend Sympathie für plebiszitäre Verfahren auf. Eine Wende hin zu mehr Demokratie? Arno Klönne meint: Dahinter steckt der Drang nach autoritärer Politikgestaltung
- Piraten unter Feuer: Die Piratenpartei hat außenpolitisch keine klare Linie. Das ist den Herrschenden ein Dorn im Auge, meint Arno Klönne
- Mit neuer Kraft zur alten SPD? Hannelore Kraft gibt der SPD Hoffnung, mit einem sozialen Image wieder Wahlen gewinnen zu können. Doch auch sie wird keine Politik gegen die Finanzmärkte machen, meint Arno Klönne