Luigi Wolf spricht auf der Marx-is-Muss-Konferenz am 9. November in Oberhausen über »Ansätze linke Gewerkschaftsstrategien«. Wie die aussehen können, erläutert Luigi im marx21-Gespräch
marx21: Was ist eine »neue linke Gewerkschaftsstrategie«?
Luigi Wolf: Um eine neue Gewerkschaftsstrategie zu entwickeln, müssen wir zunächst aufhören, dass Märchen zu verbreiten, wonach es in Deutschland keine Streiks und andere betrieblichen Auseinandersetzungen gäbe. Natürlich sticht Deutschland zunächst als Pol der Ruhe und Sozialpartnerschaft heraus, wenn wir es mit anderen Ländern in Europa wie Griechenland oder Spanien vergleichen.
Aber in einer Reihe von Bereichen haben Konflikte bis hin zum Streik in den letzten Jahren zugenommen. Das sollte den Ausgangspunkt einer linken Strategiediskussion darstellen.
Welche Bereiche sind das?
Zum Beispiel hat sich die Zahl der Streiks im Organisationsbereich von ver.di seit 2004 vervierfacht. Auch die NGG organisiert mehr Streiks als vor zehn Jahren.
Ist die Arbeiterbewegung stärker als wir glauben?
Nicht stärker. Dass eine Gewerkschaft streikt, heißt nicht, dass sie auch gewinnt. Viele Menschen wehren sich in diesen Streiks das erste Mal in ihrem Leben gemeinsam gegen das Unternehmen, bei dem sie arbeiten. Zudem werden die Streiks oft als Verteidigung bestehender Rechte geführt. Selbst wenn nicht alle Streiks gewonnen werden, bleiben sie in den meisten Fällen für die Beschäftigten eine einschneidende und motivierende Erfahrung.
Das hat nichts mit dem »Klassenbewusstsein« der Arbeiter zu tun, von dem Karl Marx geschrieben hat?
Klassenbewusstsein wird bei Linken oft nur als eine konsequente Kritik des Kapitalismus verstanden. Entscheidend ist aber, dass zu Klassenbewusstsein neben der Ablehnung des Kapitalismus auch das Selbstbewusstsein gehört, sich Widerstand gegen bestehende Verhältnisse im Großen wie im kleinen zuzutrauen.
Gerade dieses Element von Klassenbewusstsein fällt nicht vom Himmel und kann auch nicht aus Büchern gelernt werden. Auch in noch so kleinen Auseinandersetzungen lernen Beschäftigte, wie sie sich gegen das Unternehmen wehren können.
Auch Betriebsräte und Gewerkschaftssekretäre lernen neu, wie man Arbeitskämpfe führt, weil es viele von ihnen zuvor noch nie gemacht haben. Das können Grundlagen für größere Auseinandersetzungen in der Zukunft sein.
Warum muss Arbeitskampf neu gelernt werden? Das gibt es seit über hundert Jahren
Ja, aber die Bedingungen haben sich besonders in den letzten zehn Jahren stark verändert. So schätzt etwa die »Tarifpolitische Grundsatzabteilung« bei ver.di die Zahl der Tarifverträge in ihrem Bereich auf mehr als 15.000 Tarifverträge. Statistisch muss jeder Gewerkschaftssekretär immer mehrere Tarifverträge gleichzeitig aushandeln.
Dies übt einen enormen Druck aus, die Laufzeiten zu verlängern und eine schnelle Lösung am Verhandlungstisch zu suchen. Eine Mobilisierung von Beschäftigten ist hingegen immer mit großem Aufwand und dem Risiko eines ungewissen Ausgangs bei einem Konflikt verbunden.
Was kann die Linke zu einer neuen Gewerkschaftsstrategie beitragen?
Eine der großen Probleme der Gewerkschaftsbewegung ist, dass Erfolge meist nicht bundesweit bekannt gemacht und diskutiert werden. DIE LINKE kann beispielsweise konfliktorientierte Betriebsräte vernetzen und Streik-Strategien auswerten und diskutieren.
Was sind »Streik-Strategien«?
Zum Beispiel haben Beschäftigte des Berliner Krankenhauses Charité eine Strategie entwickelt, mit der auch Pflegekräfte an Streiks teilnehmen können. Zuvor bedeutete Streik im Krankenhaus, dass Beschäftigte aus der Küche, der Wäscherei, der Hausmeisterei und ähnlichen Bereichen die Arbeit niedergelegt haben. Im Idealfall streikten noch die Funktionsdienste in den Operationssälen, aber die Masse der Pflege beteiligte sich kaum am Streik.
Weil man Patienten nicht hilflos liegenlassen kann …
… erfanden die ver.di-Aktivisten an der Charité mit dem Betten- und Stationsschließungsstreik (Siehe Artikel von Luigi Wolf in der »Luxemburg«, Anmerkung der Redaktion) erstmals eine Streikform, die die Pflege aktiv einbezog und die Betten »leerstreikte«. Die Entwicklung solcher Streik-Strategien sind auch in anderen Krankenhäusern oder in der Alten- und Behindertenpflege nötig.
Leider wird der Erfahrungsaustausch innerhalb der Gewerkschaft zu wenig organisiert. Hier können Linke helfen, Erfahrungen aufzubereiten und zu verallgemeinern.
Kann die Gewerkschaftsbewegung stärker werden, so lange Hartz IV und befristete Arbeitsverträge den Menschen Angst machen?
Tatsächlich sind Streiks manchmal extrem schwierig, wenn eine Belegschaft wie in vielen Einzelhandel-Filialen überwiegend aus befristet Beschäftigten besteht. Insofern sollten Gewerkschaften auch politisch aktiv sein und für die Änderung dieser Gesetze kämpfen.
Ist das die Hauptaufgabe für eine Partei wie DIE LINKE?
Sicher. Aber nicht nur. Die Frage ist vor allem, wie wir uns den Kampf um gesetzliche Veränderungen vorstellen. Ich glaube nicht, dass Hartz IV und flexible Arbeitsverträge durch parlamentarische Arbeit und Talkshow-Auftritte bekämpft werden können.
In den Gewerkschaften werden politische Kampagnen oft am Reißbrett entworfen und enden dann als PR-Kampagnen, bei denen Bilder »produziert« werden, aber selten eine echte Mobilisierung von Beschäftigten herauskommt. Ohne die massenhafte Aktivität der Beschäftigten wird auch keine parlamentarische Partei wie DIE LINKE etwas verändern können.
Wo soll die Mobilisierung für politische Kampagnen herkommen?
Es müsste darum gehen, nicht immer auf eine große politische Mobilsierung der Gewerkschaften zu hoffen. Eine linke Gewerkschaftsstrategie müsste tarifliche Bewegungen mit politischen Zielen verbinden und auf diese Weise die politischen Bewegungen mit der Dynamik von Tarifbewegungen untermauern.
So kann ein erfolgreicher Streik für Mindestbesetzung an der Charité sowohl Vorbild für andere Tarifverträge, als auch wichtiges Druckmittel für eine neue gesetzliche Regelung darstellen. Politische und tarifliche Bewegungen könnten so miteinander verschränkt werden. Ähnliches wäre im Kampf gegen Leiharbeit oder generell für Personalbemessung im öffentlichen Dienst denkbar.
Politische Mobilisierung und die Dynamik von Tarifbewegungen miteinander zu kombinieren, könnte ein wichtiger Startpunkt einer linken Gewerkschaftsstrategie darstellen – allerdings nur wenn wir Gewerkschaftspolitik und allgemeine Politik nicht als zwei völlig voneinander getrennte Sphären betrachten.
(Das Interview führte Hans Krause.)
Zur Person:
Luigi Wolf arbeitet in der Redaktion des Magazins »Theorie 21«, das gerade ein Schwerpunktheft zu »Marxismus und Gewerkschaften« veröffentlicht hat. Er schreibt seine Promotion über gewerkschaftliche Erneuerung in Krankenhäusern und hat einen Artikel zu »Strategien gewerkschaftlicher Revitalisierung« geschrieben, der als Diskussionsgrundlage für die Marx-is-Muss-Konferenzen von marx21 hier heruntergeladen werden kann: http://marxismuss2013.files.wordpress.com/2013/08/theorie21_no3_konferenz_reader_web_low.pdf.
Mehr im Internet:
Mehr Informationen über die Marx-is-Muss-Konferenz am 9. November in Oberhausen: http://marxismuss2013.wordpress.com/oberhausen-09-11-2013/.
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