Seit Anfang Juni läuft der dritte Teil von Stieg Larssons »Millennium«-Trilogie in den Kinos. Marcel Bois stellt die Romane und ihren 2004 verstorbenen Autor vor (Vorabveröffentlichung aus marx21, Heft 16. Erscheint am 9. Juni)
Über Wochen haben sie mich begleitet. Auf dem Weg zur Arbeit, im Urlaub und vorm Schlafengehen. Fast immer waren Mikael Blomkvist und Lisbeth Salander dabei. Als ich schließlich das dritte Buch beendet hatte, verspürte ich einen Anflug von Wehmut, als wäre ich zweier guter Freunde beraubt worden.Selten hat mich ein Roman so gefesselt wie die drei dicken Bände von Stieg Larssons »Millennium«-Trilogie. Ganz offensichtlich bin ich nicht alleine: Weltweit wurden die Bücher über 21 Millionen Mal verkauft, in Deutschland stehen sie seit Monaten in den Bestsellerlisten. Allein in Larssons Heimat Schweden gingen sie 3,5 Millionen Mal über den Ladentisch – und das bei einer Einwohnerzahl von nur knapp neun Millionen. Zudem wurden die Bücher mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.
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Stieg Larsson hat diesen Erfolg nicht mehr miterlebt. Kurz vor Veröffentlichung seiner Romane ist er 2004 im Alter von nur 50 Jahren an den Folgen eines Herzinfarkts gestorben. Er hatte sich im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode gearbeitet. »Man kann nicht über Stieg schreiben, ohne auf seine Schlaflosigkeit einzugehen«, meint Larssons langjähriger Freund Kurdo Baksi. »Stieg ging meist erst ins Bett, wenn andere aufstanden. Müde, rote Augen, unregelmäßige Atmung und immer trägere Reflexe sprachen eine deutliche Sprache.« Zwanzig Tassen Kaffee und mindestens ein Päckchen Zigaretten am Tag waren Larssons Standard. »Wir sagten immer, er arbeitete von neun bis fünf: von neun Uhr morgens bis fünf Uhr in der Nacht.«
In den Stunden nach Mitternacht ist die »Millen-nium«-Reihe entstanden. Larsson schrieb die Bücher »zur Beruhigung«, wie Baksi sagt. Denn tagsüber war er ein Kämpfer für eine bessere Welt. Politisiert worden war Larsson durch den Vietnamkrieg. In den 1970er Jahren schloss er sich der trotzkistischen Gruppe »Kommunistiska Arbetarförbundet« (Kommunistischer Arbeiterbund) an und ging nach Eritrea, um bei der Ausbildung der Guerilla zu helfen. Zeit seines Lebens war ihm sein Großvater ein Vorbild – ein aktiver Antifaschist, der während des Zweiten Weltkriegs einige Zeit wegen seiner Gesinnung im Gefängnis verbringen musste. Wieder zurück in Schweden, widmete sich Larsson in den 1980er Jahren selbst dem Kampf gegen rechts. Er schrieb Bücher, hielt Vorträge und wurde bald zu einem angesehenen Experten für die rechtsextreme Szene in Europa. Seit 1982 arbeitete er als Skandinavien-Korrespondent für das britische antifaschistische Magazin Searchlight. Nachdem Neonazis innerhalb kurzer Zeit sieben Menschen in Schweden umgebracht hatten, gründete er 1995 die antirassistische Stiftung Expo. Seitdem war er Herausgeber und Redakteur der gleichnamigen Zeitschrift.
Mit seinen Aktivitäten machte er sich viele Feinde. Die letzten 15 Jahre seines Lebens verbrachten er und seine Lebensgefährtin Eva Gabrielsson in permanenter Gefahr. Regelmäßig erhielt Larsson Morddrohungen. »Er wurde von Nazis beschattet, wenn er U-Bahn fuhr, und war er in der Stadt unterwegs, so hatten ihn die Rassisten stets auf dem Schirm. Sie wussten immer genau, wo er sich befand«, erinnert sich Baksi. Einmal erwartete ihn vor seinem Büro eine Gruppe rechter Skinheads mit Baseballschlägern. Kurz nachdem 1999 der Gewerkschafter Björn Söderberg von Nazis ermordet worden war, fand die Polizei in der Wohnung einer Unterstützerin der rechten Szene Fotos von Larsson und Gabrielsson. Um seine Lebensgefährtin nicht in Gefahr zu bringen, führte das Paar nach außen hin ein getrenntes Leben. Es gab keine gemeinsamen Konten und offiziell auch keine gemeinsame Wohnung. Öffentlich zeigten sich die beiden nie zusammen.
Angesichts Larssons Biografie verwundert es nicht, dass die Romane der »Millennium«-Reihe mehr sind als einfach nur Krimis. Oberflächlich betrachtet handelt es sich bei den drei Teilen um Polizeiromane oder Politthriller – allesamt enorm intelligent, detailreich und vor allem ungeheuer spannend geschrieben. Doch Larsson liefert zudem eine tiefgehende Gesellschaftskritik und zeichnet dabei ein finsteres Bild des sozialdemokratischen Musterlandes Schweden. Von der heilen »Bullerbü«-Welt, die Astrid Lindgren in ihren Büchern beschrieben hat, bleibt bei ihm nicht viel übrig. Damit steht Larsson in der Tradition von schwedischen Krimiautoren wie Maj Sjöwall, Per Wahlöö oder Henning Mankell. Sjöwall, die in den 1970er Jahren mit Romanen um die Figur des Kommissars Beck berühmt wurde, erklärte vor einigen Jahren in einem Interview: »Im Krimi kann man verschiedene Gesellschaftsschichten hervorragend schildern. Es soll ja immer die Guten und die Bösen geben. Außerdem bietet der Kriminalroman die Möglichkeit, gewisse Milieus genau zu schildern.« Genau das macht Larsson.
{nomultithumb} In »Verblendung« beispielsweise beauftragt der greise Großunternehmer Henrik Vanger den Journalisten Mikael Blomkvist damit, den Verbleib seiner Nichte Harriet aufzuklären. Seit 1966 ist sie spurlos verschwunden. Vanger vermutet, dass sie von einem Mitglied seiner Familie ermordet wurde. Blomkvist begibt sich auf die verschneite Insel Hedeby, auf der der Vanger-Clan in aller Abgeschiedenheit lebt. Henrik warnt ihn: »Meine Familie besteht größtenteils aus Räubern, Geizkragen, Tyrannen und Taugenichtsen. Ich habe das Unternehmen fünfunddreißig Jahre geführt – fast die ganze Zeit in unversöhnlichem Konflikt mit allen anderen Familienmitgliedern. Sie waren meine schlimmsten Feinde.« Tatsächlich trifft Blomkvist auf einen Familienclan, hinter dessen bürgerlicher Fassade sich eine dunkle Familiengeschichte verbirgt. Einige Mitglieder waren in den 1930er Jahren glühende Anhänger der Nationalsozialisten und haben bis heute ihre Gesinnung nicht aufgegeben. Mit Hilfe der begnadeten Researcherin Lisbeth Salander deckt Blomkvist aber noch ganz andere Geheimnisse der Vangers auf.
Larsson schildert in der Trilogie diverse gesellschaftliche Missstände. Er schreibt über kriminelle Großunternehmer, die Scheinfirmen in Osteuropa aufbauen, um staatliche Gelder einzustreichen. Es geht in seinen Büchern um Polizisten, die Zwangsprostitution unterstützen, und um eine große Verschwörung in den Reihen des Nachrichtendienstes. Für Larssons Lebensgefährtin Gabrielsson macht gerade das den Erfolg der Werke aus: »Die Verkaufszahlen sagen etwas über unsere Welt aus. Die Menschen scheinen in dem, was in den Büchern beschrieben ist, etwas wiederzuerkennen: den Kampf gegen Korruption, die Rohheit und Diskriminierung, die Feigheit der Medien, die Blindheit und Korruption der Politiker. Das scheint universal zu sein. Ich interpretiere es immer als eine Art Wahl: Sie stimmen für Stiegs Ideale.«
Ein weiteres Thema, das alle drei Bände durchzieht, ist Gewalt gegen Frauen. Zu Beginn eines Kapitels von »Verblendung« erfahren die Leser, dass 46 Prozent aller schwedischen Frauen über fünfzehn schon einmal Opfer männlicher Gewalt geworden sind. Passend lautet der Originaltitel des Buchs »Männer, die Frauen hassen«. Diese Frage war Larsson in seiner politischen Aktivität genauso wichtig wie sein Kampf gegen Nazis. Als beispielsweise im Januar 2002 die junge kurdischstämmige Frau Fadime Sahindal von ihrem Vater ermordet wurde, löste dies in Schweden eine große Debatte über »Ehrenmorde« aus. Larsson veröffentlichte ein Buch hierzu. Gegen die rassistischen Untertöne in der Diskussion verwahrte er sich. Stattdessen erklärte er, Gewalt gegen Frauen geschehe »in Südafrika, Saudi-Arabien, Norwegen, Mexiko, Tibet und im Iran. Unterdrückung von Frauen hat nichts mit Religion oder ethnischer Zugehörigkeit zu tun.« In den »Millennium«-Romanen werden mehrere Frauen misshandelt, vergewaltigt oder sogar ermordet. Larsson schildert das teilweise sehr detailliert und realistisch, und auch in der Verfilmung wird mehr gezeigt, als es vermutlich manchem Zuschauer lieb ist. Das mag schockierend sein, doch bringt es einem die Leiden der Frauen nahe. Zugleich schildert Larsson – und das ist seine Stärke – die Gewalt gegen Frauen immer eingebettet in soziale Zusammenhänge. Bei ihm hassen nicht alle Männer Frauen, sondern es sind stets Männer, die ihre gesellschaftliche Macht ausnutzen, um sexuelle Gewalt auszuüben, so beispielsweise ein Anwalt, der eine unter seiner Vormundschaft stehende junge Frau vergewaltigt. Jedoch stellt Larsson seine Frauen nicht nur als Opfer dar. Allen voran Lisbeth Salander, die seit Kindertagen viele schreckliche Erlebnisse durchstehen musste, wehrt sich stets gegen ihre Peiniger. Selten tut sie dies in Einklang mit den schwedischen Gesetzen und doch, oder gerade deswegen, gewinnt sie die Sympathien der Leser.
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Überhaupt machen die beiden Hauptfiguren einen großen Teil des Erfolgs der Bücher und der Verfilmungen aus. Mikael Blomkvist ist Herausgeber und Redakteur des kleinen, linken Magazins mit dem Namen Millennium, einer »aufgehübschten Version« von Larssons Zeitschrift Expo, wie es der Guardian formuliert hat. Blomkvist hat sich als Enthüllungsjournalist einen Namen gemacht. Bei Lisbeth Salander handelt es sich um eine gepiercte, tätowierte und bisexuelle Computerhackerin mit einem fotografischen Gedächtnis. Sie ist hochintelligent, ihr Verhalten trägt leicht autistische Züge, und sie setzt einmal gefällte Beschlüsse mit einer Konsequenz um, die einen neidisch machen könnte. Weder Blomkvist noch Salander sind Superhelden, sondern sie haben Ecken und Kanten. Genau das erleichtert die Identifikation mit ihnen. Dieser Aspekt ist auch in der Verfilmung, vor allem des ersten Teils, sehr gut umgesetzt. Die einzelnen Figuren werden ausführlich charakterisiert und sind bis in die Nebenrollen hervorragend besetzt. Herausragend ist Noomi Rapace als Lisbeth Salander. Nicht umsonst wurde sie für den Europäischen Filmpreis als beste Darstellerin nominiert. Monatelang hat sie sich auf die Rolle der zähen, zierlichen Kämpferin vorbereitet – mental und körperlich. Sie trainierte Thai- und Kickboxen, machte einen Motorradführerschein und ließ sich eigens für den Film piercen.
Soeben ist mit »Vergebung« der dritte Teil der Trilogie in die Kinos gekommen. Der Rummel um Stieg Larsson wird also weitergehen. Die Welt bezeichnete ihn kürzlich als den »Heath Ledger der Krimiautoren«. Tatsächlich hat »Millennium« mittlerweile sogar Hollywood erreicht, für 2011 ist dort eine Neuverfilmung der Bücher geplant. Das lässt nichts Gutes hoffen und wäre vermutlich auch kaum in Larssons Sinne gewesen. Der Autor, der höchst ungern als Gast in Talkshows auftrat, konnte mit besonderer Aufmerksamkeit für seine Person nie viel anfangen. Dementsprechend hätte ihn der Erfolg wohl auch nicht verändert, vermutet Kurdo Baksi: »Er hätte weiter seine Zigaretten geraucht, schlecht gegessen, zu wenig geschlafen und noch mehr Bücher geschrieben. Und vor allem hätte er weiterhin ein wachsames Auge auf Intoleranz in der Gesellschaft gehabt.«