Die Herrschenden in Polen missbrauchten den Flugzeugabsturz in Smolensk für eine nationalistische Kampagne. Ein Statement der polnischen Organisation Pracownicza Demokracja (Arbeiter-Demokratie)
Als das polnische Regierungsflugzeug am 10. April im westrussischen Smolensk abstürzte, kamen 96 Menschen ums Leben. Das polnische Präsidentenpaar und die Mitreisenden wollten des Massakers von Katyn gedenken, bei dem 1940 die sowjetische Geheimpolizei Tausende polnische Gefangene ermordet hatte.
Der Flugzeugabsturz wurde zu einem weltweiten politischen Ereignis, weil das Präsidentenpaar, 18 Parlamentarier und die Führung der Streitkräfte dabei umkamen. Opfer der Katastrophe waren aber auch gewöhnliche Menschen – darunter Familienangehörige von Stalins Opfern sowie die Flugbegleiter und Piloten. Wegen der großen Zahl der Toten und weil viele von ihnen bekannte Gesichter aus dem Fernsehen waren, gab es echtes Mitgefühl in einem großen Teil der Gesellschaft.
Doch das wurde ausgenutzt, um eine »nationale Einheit« zu schaffen und die Bürger als gehorsame und dankbare Diener darzustellen. Mit jedem Tag der »nationalen Trauerwoche« wurde die Rhetorik so sehr verschärft, dass sogar einige Kommentatoren der bürgerlichen Medien die aufgebaute Weltuntergangsstimmung kritisierten.
Angebliche »Verdienste« Lech Kaczyńskis
Mit der Legendenbildung um die verstorbenen Politiker sollte vor allem das angebliche Verdienst Lech Kaczyńskis (der beim Flugzeugabsturz umgekommene polnische Präsident, Anm. d. Redaktion) unterstrichen werden. Die Übertreibungen überschritten dabei die Grenze zum Absurden, als die Entscheidung gefällt wurde, Kaczyński auf dem Wawel, der Ruhestätte polnischer Könige in Krakau, zu beerdigen. In einigen Städten kam es daraufhin zu spontanen Protesten. Das ist kaum verwunderlich, denn mit diesem Schritt wurde der verstorbene Präsident nicht nur posthum »gekrönt«, sondern auch die konservative, militaristische und in Moralfragen rückwärtsgewandte Politik seiner Partei Prawo i Sprawiedliwość (PiS; Recht und Gerechtigkeit) gerechtfertigt, die sich stark an die katholische Kirchenhierarchie anlehnt.
Als großes Verdienst wurde Lech Kaczyńskis zäher Kampf für die sowjetische Anerkennung des Verbrechens von Katyn hervorgehoben. Zweifellos war Katyn ein Verbrechen, aber es ging Kaczyński nicht nur um eine historische Erinnerung. Er benutzte Katyn als emotionalen Treibstoff, um die zunehmend aggressive polnische Außenpolitik und sein Bündnis mit der NATO zu rechtfertigen. Zum Beispiel flog Kaczyński im August 2008 als einer der engsten Verbündeten des georgischen Präsidenten Saakaschwili nach Georgien. Das war während des Kriegs zwischen Georgien und Russland, der mit dem Angriff Saakaschwilis auf Südossetien begann. Der polnische Präsident versuchte, die gefährliche Situation noch anzuheizen, indem er öffentlich erklärte: »Wir sind bereit, den Kampf aufzunehmen.« Nur wenige Tage später sagte er in Warschau: »Beim Militär kann nicht gespart werden« und »die Armee muss stärker werden«.
Mitglieder der Gewerkschaft Solidarność erinnern an Lech Kaczyńskis Rolle als Aktivist der Opposition bis 1989 und als stellvertretender Vorsitzender dieser Gewerkschaft. Seine gelegentlichen Reden gegen den Neoliberalismus waren bei einigen Arbeitern durchaus beliebt. In der Praxis allerdings waren die Unterschiede zwischen Lech Kaczyński und der Regierung Donald Tusk in wirtschaftlichen Fragen nur gering. Als Präsident legte er kein Veto gegen Steuersenkungen für Reiche und die Abschaffung von Steuern auf große Erbschaften ein. Er tat nichts zur Unterstützung derjenigen, die gegen Entlassungen kämpften.
Verständlicherweise erinnern sich einige Gewerkschaftsaktivisten an das Verdienst und die Mitarbeit Lech Kaczyńskis in der Gewerkschaft, aber als Präsident stand er in der Praxis Leuten um den Milliardär Ryszard Krauze näher, die alle seine private Telefonnummer hatten. Sicherlich hatte Kaczyński als Präsident nur begrenzte Macht, aber er hatte ein Vetorecht, das er hätte einsetzen können, um die Arbeiter und ihre Familien zu unterstützen.
Die gesellschaftliche Wirklichkeit zeigte sich während der Trauerwoche. Zwei Tage nach der Katastrophe von Smolensk, am Montag, stürzte ein Schacht in der privatisierten Kohlengrube Siltech in Zabrze ein. Während der Rettungsaktion starb der Obersteiger Ernest Furman. Am Dienstag starb ein Bergmann im Bergwerk Ziemowit in Lędziny, 650 Meter unter der Erde. Er fiel auf das Förderband, das an der Grubenwand entlang läuft. Am Donnerstag starb in der Grube Staszic Murcki in Katowice ein weiterer Bergmann (der Lokomotivführer eines unterirdischen Zugs) in 500 Metern Tiefe. In den letzten beiden Fällen wurden nicht einmal die Namen der Opfer genannt. Und wie viel Sendezeit wurde diesen Toten – die Opfer der Jagd nach Profit wurden – gewidmet?
Beteiligung am Afghanistan-Krieg
Viele Menschen nehmen Anteil an der Trauer und dem Schmerz der Familien der Toten des Flugzeugabsturzes. Aber in solchen Momenten kommt auch der Gedanke an den Schmerz derjenigen auf, die Angehörige bei Bombenanschlägen der USA, der NATO und ihren Verbündeten in Afghanistan verloren haben. Der NATO-Krieg wird durch ein Kontingent von 3000 polnischen Soldaten unterstützt.
Hätten die polnischen Medien den Opfern dieser Kriege nur ein Prozent der Zeit eingeräumt, die sie den Opfern der Katastrophe von Smolensk gaben – zum Beispiel Bilder mit trauernden Angehörigen und ihren Kindern – dann wäre es schwierig, den Krieg ohne große Proteste fortzusetzen.
Zum Krieg in Afghanistan predigten Staatschef Kaczyński und Ministerpräsident Tusk fast dieselben Ansichten. Praktisch alle parlamentarischen Parteien unterstützen die von diesen Regierungen geführten Kriege im Irak und in Afghanistan. Nur vier Tage nach dem Absturz unterzeichnete der Parlamentspräsident (Marschall des Sejm), Bronislaw Komorowski, die Verlängerung des Einsatzes des polnischen Militärkontingents in Afghanistan um ein weiteres halbes Jahr. Das ist die wichtigste Entscheidung, die Komorowski als Übergangspräsident getroffen hat. Die Tatsache, dass Politiker und Journalisten dieser Entscheidung nur wenig Aufmerksamkeit schenkten, zeigt, dass die große »nationale Einigkeit« nur oberflächlich ist. Die überwältigende Mehrheit der Gesellschaft will den Rückzug der polnischen Truppen aus Afghanistan.
Kaczyński schuld am Absturz?
Die Ursache der Katastrophe in Smolensk war menschliches Versagen mit politischem Hintergrund. Wir wissen natürlich nicht, ob die Piloten selbst die Entscheidung zur Landung trafen oder diese Entscheidung unter Druck des Präsidenten oder des Leiters der Luftwaffe getroffen wurde. Aber wir wissen, dass es dichten Nebel gab und das Flugzeug nicht auf dem Flughafen Smolensk landen sollte. Wir wissen auch von dem berühmten Zwischenfall, als Lech Kaczyński im August 2008 während des russisch-georgischen Kriegs nach Tiflis, der georgischen Hauptstadt, flog. Der Kapitän fürchtete, abgeschossen zu werden, gab dem Druck des Präsidenten nicht nach und landete in Aserbaidschan. Die Delegation fuhr mit dem Auto nach Georgien. Während des Flugs sagte der Präsident über den Kapitän: »Wenn jemand entscheidet, ein Offizier zu werden, sollte er nicht ängstlich sein.« Nach der Landung in Aserbaidschan gab er bekannt, dass »wir uns nach der Rückkehr mit dieser Angelegenheit befassen werden«.
Später sagte Präsident Kaczyński in einem Rundfunkinterview: »Ich habe keinen Befehl gegeben, ich gab den höheren Offizieren der polnischen Armee, denen der Pilot unterstand, nur eine andere Anweisung. Und sie haben meine Anweisung umgesetzt und dem Piloten den Befehl schriftlich gegeben. Und der Pilot hat nicht gehorcht.« Der Flugkapitän sagte in seinem Bericht jedoch, dass »der Präsident in die Pilotenkabine kam und mir in seiner Eigenschaft als Chef der Streitkräfte persönlich befahl, nach Tiflis zu fliegen«.
Um den Präsidenten zu ärgern, beschloss die Regierung, die mehrheitlich von einer anderen Partei gestellt wird, den Kapitän mit dem silbernen Kreuz für seine Dienste für die Verteidigung auszuzeichnen. Die PiS reagierte mit einer parlamentarischen Anfrage Przemysław Gosiewskis, der unter anderem wissen wollte, »ob der Minister mit der Auszeichnung zeigen will, dass in Zukunft Fälle von Feigheit und Befehlsverweigerung belohnt werden?« Und »wie der Verteidigungsminister zu reagieren gedenkt, wenn sich diese Art der Weigerung, die Flugrichtung zu ändern, wiederholen sollte«. All das zeigt den enormen Druck, unter denen die Piloten der Tupolew standen, als sie am 10. April die Kabine betraten.
Keine Zustimmung zu Kürzungspolitik
Hinter der angeblichen »Größe« Kaczyńskis verschwinden all die anderen Opfer der Katastrophe. So wurde wenig über Anna Walentynowicz gesprochen. Sie hatte sich als Arbeiterin auf der Danziger Leninwerft schon seit den 1950er Jahren gegen die Ungerechtigkeiten des stalinistischen Regimes gewehrt. Im Jahr 1978 gründete sie eine freie Gewerkschaft, 1980 dann mit anderen die Solidarność, nachdem sie fristlos entlassen worden war. Die folgenden Streiks auf der Leninwerft und die entstehende Massenbewegung gehörten mit zu den wichtigsten Ereignisse der letzten Jahrzehnte in Polen, weil das Regime fast gestürzt worden wäre. Vielleicht geriet sie deshalb bei den Gedenkfeiern in den Hintergrund, denn sie ist von allen Opfern des Flugzeugabsturzes das beste Symbol für den heute noch geführten Kampf gegen Ausbeutung und Entlassung. Angesichts einer heutigen Arbeitslosigkeit von 2 Millionen Menschen in Polen und der weltweiten Krise des Systems könnte Walentynowicz ein Beispiel sein für ein Gewitter in einer sorgfältig inszenierten Atmosphäre anscheinender Einheit der reichen Polen mit dem Rest der Gesellschaft.
Die Herrschenden sollten die Anteilnahme der Menschen nicht verwechseln mit der Zustimmung zu ihren Plänen für weitere Kürzungen und Entlassungen, der sich alle Parteien des Parlaments verpflichtet fühlen. Die Solidarität mit den Angehörigen der Toten ist nicht gleichbedeutend mit Solidarität mit einer Politik der Armut, die von der Regierung verfolgt wird. Die Solidarität mit den Opfern in Zeiten der Trauer kann in Zukunft in einen gemeinsamen Kampf der Arbeiterinnen und Arbeiter umschlagen. Hoffen wir, dass sich das bald erfüllt.
Zu diesem Text:
Veröffentlichung des Artikels mit freundlicher Genehmigung von Pracownicza Demokracja (Arbeiter -Demokratie) Aus dem Polnischen von Klaus Henning.