Reuven Neumann stellt zwei Neuerscheinungen zum Nahost-Konflikt vor.
Der Nahost-Konflikt. Kaum ein anderes Thema wird in der Linken so kontrovers diskutiert. Warum gibt es keinen Frieden? Ist Kritik an Israel antisemitisch? Was ist Zionismus? Die Antworten auf diesen Fragen sind umstritten. In diesem Jahr sind zwei weitere Bücher zu diesen Themenkomplex erschienen. Das eine trägt den Titel »Die deutsche Linke, der Zionismus und der Nahostkonflikt – Eine notwendige Debatte«. Seine Autoren sind mit Wolfgang Gehrcke, Harri Grünberg und Jutta von Freyberg friedenspolitisch engagierte Mitglieder der LINKEN. Das zweite Werk, »Die eiserne Mauer«, stammt von dem in Kairo lebenden Journalisten Heiko Flottau.
Insbesondere das Buch des Autorenteams Gehrcke, Grünberg und Freyberg bezieht sich explizit auf die Debatten in der Linken. Dabei verfolgen sie einen Ansatz, der neugierig macht. Sie schreiben: »Wir wollten uns genauer ansehen, welche Haltung die Arbeiterbewegung, in deren Tradition wir uns sehen, zum Antisemitismus in Theorie und Praxis eingenommen hat, ob und in welchem Umfang und zu welchen Zeiten Antisemitismus in den Arbeiterparteien selbst eine Rolle gespielt hat.«
Zu diesem Zweck werfen die Autoren einen Blick zurück in die Geschichte. Im 19. Jahrhundert bedrohte der parallel zum modernen Industriekapitalismus aufkommende rassistisch begründete Antisemitismus die jüdische Bevölkerung Europas. Unterdrückung, Vertreibung und Pogrome waren an der Tagesordnung. Als Reaktion darauf entstand Ende des Jahrhunderts eine politische Bewegung zur Gründung eines jüdischen Nationalstaates, von ihren Gründern auch Zionismus genannt. Anfangs hatte diese Bewegung in den jüdischen Gemeinden relativ wenig Einfluss. Ein Großteil der politischen Aktivisten unterstützte vielmehr sozialistische Parteien. Wie reagierte die Arbeiterbewegung auf diese Idee? »Den Zionismus lehnten namhafte Vertreter der Sozialdemokratie wie Karl Kautsky, Plechanow und schließlich die Kommunistische Internationale ab, weil er eine nationalistische Antwort auf den mit Antisemitismus gepaarten europäischen Nationalismus darstelle.« Der Zionismus sei nicht, so Kautsky, »in der Lage, die Judenfrage in Europa zu lösen, sondern weite sie vielmehr auf den Nahen Osten aus. In Palästina werde ein neues ›Weltghetto‹ entstehen.« Er argumentierte gegen den zionistischen Separationsgedanken. Dieser würde den Antisemitismus nicht schwächen: »Wodurch kann diese Feindseligkeit überwunden werden? Am radikalsten dadurch, dass die den fremdartigen Charakter tragenden Bevölkerungsteile aufhören Fremde zu sein, dass sie sich mit der Masse der Bevölkerung vermischen. Das ist schließlich die einzig mögliche Lösung der Judenfrage, und alles, was das Aufhören der jüdischen Abschließung fördern kann, ist unterstützenswert.«
Die Zionisten blieben mit ihren Ideen auch in der jüdischen Gemeinde in der Minderheit. So folgten bis 1930 – den ersten fünfzig Jahren seit Bestehen ihrer Bewegung – nur etwa 120.000 Juden dem Ruf, in Palästina zu siedeln. Das waren viel zu wenig Menschen, um dort einen jüdischen Nationalstaat zu errichten. Zudem gerieten die Neuankömmlinge, anstatt Frieden zu finden, unmittelbar in einen neuen Konflikt. Seit Beginn der zionistischen Siedlung kam es zu scharfen Spannungen mit der ansässigen arabischen Bevölkerung. Denn das zionistische Siedlungsprojekt schloss von vornherein ein integriertes Zusammenleben von jüdischen Siedlern und Arabern aus. Stattdessen zielte es auf die Verdrängung der arabischstämmigen Bevölkerung, um einen jüdischen Nationalstaat zu etablieren. Organisationen des Zionismus kauften arabischen Großgrundbesitzern so viel Land wie möglich ab und zwangen die darauf lebenden kleinen Pächter, Arbeiter und Nomaden, es zu verlassen. Schon die frühe jüdische Besiedlung Palästinas nahm die Form einer gewaltsamen Kolonisierung an.
Gehrcke, Grünberg und Freyberg zeigen die stets bestehende enge Verknüpfung zwischen dem Zionismus (bzw. dem späteren israelischen Staat) mit den imperialen Zielen der europäischen Großmächte und der USA. Gerade in den Schriften des zionistischen Theoretikers Theodor Herzls spiegelte sich der Wille wider, den Europäern als ein »Wall gegen die Barbarei« zu dienen und somit kultureller und politischer Vorposten Europas zu werden. Die Autoren stellen eine stete politische, aber auch wirtschaftliche Abhängigkeit des Zionismus als Bewegung und Israels als Staat von den imperialistischen Interessen fest, so dass Israel »keine neutrale Haltung gegenüber der Politik der imperialistischen Staaten einnehmen, geschweige denn eine antiimperialistische Politik betreiben« könne. Dies zeige sich, so die Autoren, gerade in einer finanziellen Unterstützung von außen, ohne die das Ziel eines eigenständigen jüdischen Staates wohl nicht erreicht worden wäre.
Dieser grundsätzlich »koloniale Aspekt« sei ein »konstituierendes Merkmal des Zionismus«, die ihn nicht zu einem Teil der antikolonialen Kämpfe werden ließ. Dies verdeutliche sich gerade auch in der gezielten wirtschaftlichen Abschottung der zionistischen Gemeinschaft gegenüber den Arabern. Diese fand unter dem Begriff der »jüdischen Arbeit«, der den Ausschluss arabischer Arbeitskräfte bedeutete, ihren Ausdruck.
Auf der anderen Seite argumentieren die Autoren aber auch, dass innerhalb der zionistischen Bewegung immer verschiedene Strömungen bestanden hätten – so beispielsweise ein vorwiegend sozialistisch beeinflusster Flügel und ein eher rechter, revisionistischer Teil unter dem Schriftsteller Wladimir Jabotinsky. Dieser lehnte jeglichen Kompromiss ab und beanspruchte ganz Palästina für sich. Dies habe sich später im Staat Israel in der Ausformung von zwei unterschiedlichen außenpolitischen Richtungen manifestiert. So sei beispielsweise die von Außenminister Moshe Sharett in den 1950er Jahren vertretene Linie relativ kompromissbereit gegenüber den Arabern gewesen. Hieraus hätte sich zumindest theoretisch die Möglichkeit eines Friedensabkommens mit den Arabern entwickeln können.
Hier übersehen die Autoren jedoch, dass es bereits vor der Staatsgründung stets das Ziel der zionistischen Bewegung gewesen war, den Zugriff auf möglichst viel Land in Palästina zu sichern – unabhängig von der jeweiligen Strömung. Dies zeigte sich auch darin, dass sich Israel im Krieg 1948/49 bereits 67 Prozent der Fläche Palästinas sichern konnte. Dies geschah vor allem durch die massive Vertreibung von hunderttausenden Palästinensern, so dass nur noch eine arabische Minderheit hier ansässig blieb.
Gehrcke, Grünberg und Freyberg nehmen durchaus auch die problematischen Umstände der Staatsgründung Israels kritisch zur Kenntnis und verweisen im Besonderen auf die aktuellen Geschichtsdebatten hierüber. Sie argumentieren jedoch auch, dass Teile des vorwiegend linken zionistischen Establishments die Vertreibungen nicht befürwortet hätten.
Die historischen Darstellungen zur Arbeiterbewegung und zu Imperialismus sind die Stärke des Buches. Allerdings spielen diese Erfahrungen und Traditionen in der Bewertung der aktuelleren Entwicklungen keine Rolle mehr. Wo Gehrcke, Grünberg und Freyberg aufhören macht das Buch von Heiko Flottau weiter.
Flottau belegt faktenreich die Kontinuität der zionistischen Kolonisierungspolitik bis hin zu der gegenwärtigen Verfestigung der Besatzung von Westbank und Gaza-Streifen. Hierbei erinnert er an den Zionisten Wladimir Jabotinsky. Dieser hatte bereits 1923 in der Schrift »Die eiserne Mauer« für eine völlige Trennung von Juden und Arabern plädiert. Er schrieb: »Die Kolonisierung kann nur ein Ziel haben: Für die palästinensischen Araber ist dieses Ziel unakzeptabel. Das liegt in der Natur der Sache (…).« Die Kolonisierung könne daher nur unter einer Bedingung weitergeführt werden: »durch eine eiserne Mauer, welche die eingeborene Bevölkerung nicht durchbrechen kann.«
In dem Bau der Sperrmauer zur Westbank sieht Heiko Flottau vor allem die Manifestation dieses Gedankens. Er erklärt: »Die Geschichte Israels, welche im Bau des Sperrwalls und – Anfang 2009 – in einem brutalen Krieg mit der Hamas gipfelt, zeigt, dass Jabotinskys Thesen der zukünftigen Realität eher entsprachen als die Auffassungen Chaim Weizmanns. Denn eine Art Mauer zwischen Arabern und Israelis besteht bereits seit vielen Jahrzehnten.«
Dem entsprechend hebt Heiko Flottau hervor, dass die Funktion der Mauer weniger darin bestünde, die israelische Bevölkerung vor Selbstmordattentaten zu schützen. Vielmehr diene sie der weiteren Besiedlung der besetzten Gebiete und verhindere so die Gründung eines eigenständigen palästinensischen Staates. Denn, so Flottau, »Mauer-, Zaun und Siedlungsbau haben Palästina zerstückelt und als zusammenhängendes Wohn- und Kulturgebiet zerstört.« Der Sperrwall verlaufe auf etwa 10 Prozent der Fläche, die nach internationalem Recht den Palästinensern gehört. Er zerschneidet Dörfer und Ortschaften und stellt zudem eine massive Einschränkung für die Bewegungsfreiheit der palästinensischen Bevölkerung dar.
Vorwiegend illusionslos betrachtet Flottau letztlich auch den 1993 in Oslo begonnenen Friedensprozess, der den Palästinensern in mittelbarer Zukunft zumindest einen gewissen Autonomiestatus gewähren sollte. Tatsächlich aber führe dieser zu keinerlei Resultaten, da gerade israelische Politiker die Verhandlungen kaum ernst nähmen. Zudem sei Israel von der internationalen Gemeinschaft nie zur Einstellung des Siedlungsbaus aufgefordert worden. So würde die politische und territoriale Grundlage für einen eigenständigen palästinensischen Staat sukzessive zerstört.
Tatsächlich wurde der Siedlungsbau trotz Oslo bis heute konsequent fortgesetzt und die Zahl der Siedler hat sich mit 400.000 nahezu verdoppelt. Auch die Gewalt durch den israelischen Staat geht weiter. In den ersten elf Monaten nach den Verhandlungen von Annapolis seien alleine 498 Palästinenser getötet worden. Abschließend urteilt Flottau über den Friedensprozess: »Annapolis, Sharm el Sheikh, Camp David, Taba (wo beide Seiten Ende 2000 versuchten, eine Einigung zu erzielen), Oslo, Madrid – alle diese Konferenzorte wurden letztlich zu Symbolen des Scheiterns. An diesen Stätten wurde der Kriegszustand zwischen beiden Völkern lediglich verwaltet.«
Hier liefert Heiko Flottau eine durchaus realistischere Einschätzung zu der Erfolgsaussicht von Verhandlungen als Wolfgang Gehrcke, Harri Grünberg und Jutta von Freyberg, die hierin einen möglichen Lösungsansatz sehen.
Auch der Hoffnung auf ein stärkeres Engagement der internationalen Gemeinschaft erteilt Flottau eine Absage. Betrachte man die katastrophale humanitäre Lage der Palästinenser, insbesondere im vollkommen abgeriegelten Gazastreifen – ganz zu schweigen von den massiven Menschenrechtsverletzungen während des Kriegs in Gaza – so zeige sich die Schwäche der internationalen Gemeinschaft und ihrer Institutionen wie UNO und EU. Diese, so konstatiert Flottau, erwiesen sich als »machtlos«, Israel die Grenzen aufzuzeigen. Zwischen 1993 und 2002 seien etwa fünf Milliarden Dollar in die palästinensische Infrastruktur – in Krankenhäuser, Schulen und Ministerien – geflossen, die jetzt durch Israel wieder zerstört worden seien.
Flottaus Buch verdeutlicht anschaulich die gezielte Enteignung und Entrechtung der Palästinenser durch die israelische Besatzung, wie sie sich auch vor allem durch den Bau der Sperrmauer manifestiert. Hierbei sieht er durchaus Kontinuitäten einer grundsätzlichen im Zionismus angelegten Strategie. Allerdings analysiert er die Problematik weniger im Zusammenhang von politischer und wirtschaftlicher Einflussnahme durch Europa und den USA und deren Verhältnis zu Israel, wie dies Gehrcke, Grünberg und Freyberg tun. Aus diesem Grund erweisen sich die von Flottau aufgezeigten Perspektiven als ein Schwachpunkt, da letztlich nur die Hoffnung auf einen »grundsätzlichen Paradigmenwechsel« in der israelischen Gesellschaft bleibe. Dies laufe schließlich auf eine »neue Art von Republik« hinaus, die vor allem ihren Exklusivitätsanspruch aufgeben müsse. Leider erklärt Flottau hier nicht, welche politischen oder sozialen Kräfte derzeit überhaupt in Israel einen solchen Umschwung herbeiführen könnten.
Während er sich letztlich weitestgehend auf die aktuelle Situation bezieht, verfolgten die Autoren Wolfgang Gehrke, Harri Grünberg und Jutta von Freyberg einen eher historischen Ansatz, der sich in die Debatte innerhalb der Linken einfügen sollte. Mit der Betonung, dass die »pauschale Ablehnung des Zionismus durch namhafte sozialdemokratische und kommunistische Theoretiker nicht gerechtfertigt war«, da sie auf einem »dogmatischen Verständnis der nationalen Frage« basiere, entschärften sie jedoch einen Teil ihrer kritischen Darstellung. Dies gilt auch für ihre hauptsächlich völkerrechtlich orientierte Argumentation. Denn so vermeiden sie es, sich zum gegenwärtigen Widerstand zu positionieren. Als positiv ist jedoch zu bemerken, dass sie auf marxistische Imperialismustheorien wie auf antikoloniale Befreiungsbewegungen explizit verweisen, auch wenn diese in ihren Perspektiven keine Rolle spielen.
Zum Autor:
Reuven Neumann ist Islamwissenschaftler und Mitglied der LINKEN in Berlin.