Elmar Altvater über das Verhältnis von kapitalistischer Ökonomie und Staat
Das Verhältnis zwischen ökonomischer und politischer Macht, Staat und Gewalt hat eine Geschichte, die von Marx in vielen historischen Illustrationen allgemeiner Entwicklungstendenzen und in besonderem Maße in dem Kapitel zur »ursprünglichen Akkumulation« des Kapitals aufgegriffen wird. Das Kapital kommt durch »schmutzige Haupt- und Staatsaktion, die mit dem Exploitationsgrad der Arbeit die Akkumulation des Kapitals polizeilich steigert« (MEW 23: 770) zur Welt.
Ohne die politische, die polizeiliche und militärische Macht des Nationalstaats hätte es weder die Plünderung der Kolonien, die Vertreibung der Bauern vom Land und ihre Verwandlung in eigentumslose Proletarier mit Hilfe von »grotesk-terroristischen« Blutgesetzen (MEW 23: 765) noch die Entstehung der neuen Pächterklasse oder die Bereicherung der frühen Kapitalisten im Zuge der Privatisierung einst öffentlicher Gemeingüter oder durch die Staatsschulden gegeben. »Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht«, auch der kapitalistischen Gesellschaft. Marx fügt aber erläuternd hinzu, um jede Loslösung von den politisch-ökonomischen Grundlagen zu vermeiden: Die Gewalt »selbst ist eine ökonomische Potenz« (MEW 23: 779).
Marx und Engels, der sich ja in scharfsinnigen Analysen besonders mit den Kriegen seiner Zeit auseinandersetzte, kommen gar nicht darum herum, sich mit den politischen Dimensionen der Macht, mit dem Staat und seinen Institutionen, mit Armee, Steuerpolitik und Staatsanleihen zu beschäftigen. Marx und Engels haben die Ökonomie immer als politische Ökonomie verstanden und haben daher auch das Verhältnis von Kapital und Staat oder die Regulation des Verhältnisses von Lohnarbeit und Kapital in den rudimentär entwickelten sozialstaatlichen Einrichtungen ihrer Zeit in ihre Überlegungen einbezogen.
Doch wie muss auf überzeugende Weise die Begriffsentfaltung von der einzelnen Ware nicht nur zum Geld und zur Kategorie des Kapitals, sondern auch zur Kategorie des Staates fortgesetzt werden? Der Reichtum kann in der Form des Gebrauchswerts genossen und in der Form des Tauschwerts gemehrt, also akkumuliert werden, insbesondere wenn der Wert sich in Geld verwandelt. Dann erscheint die Gesellschaftlichkeit, also das Allgemeine der kapitalistischen Produktionsweise, in der Form des Geldes. »Gold und Silber, wie sie aus den Eingeweiden der Erde herauskommen, sind zugleich die unmittelbare Inkarnation aller menschlichen Arbeit. Daher die Magie des Geldes« (MEW 23: 107), die erst wieder im finanziellen Krach, wie wir ihn derzeit erleben, entzaubert wird. Doch damit eine schwere Finanzkrise ausbrechen kann, muss das Geld schon seine goldige und silbrige Gestalt abgestreift und sich mit Papier und elektronischen bits und bytes eingekleidet haben. Letztere sind eigentlich wertlos, weil in ihnen (fast) keine Arbeit steckt, es sei denn sie erhalten einen staatlich gesetzten und garantierten Zwangskurs mit der Versicherung, dass mit diesem Geld Schuldverpflichtungen ultimativ eingelöst werden können. Jeder kann auf diese politischen Zusicherungen vertrauen. Doch dafür bedarf es eines die Allgemeinheit verkörpernden und repräsentierenden Institutionensystems, das mit Zwangsgewalt ausgestattet ist, des Staates. Vor allem die Zentralbank übernimmt die Verantwortung für den Geldwert.
Doch das ist nicht alles, was nur der Staat in der bürgerlichen Gesellschaft garantieren kann. Besonders wichtig sind Eigentumsrechte. Nur wenn diese wechselseitig respektiert und zur Not auch gegen gesellschaftlichen Widerstand durchgesetzt werden können, haben Verträge zwischen individuellen Rechtssubjekten eine solide Grundlage. Verträge werden bei jedem Tauschakt von Waren geschlossen, manchmal explizit, wenn es sich um größere Transaktionen handelt, zumeist im Alltagsleben implizit und gedankenlos, wenn wir auf dem Wochenmarkt ein Kilo Äpfel kaufen oder im Friseursalon die Haare schneiden lassen. Dass hier Verträge geschlossen worden sind, kommt erst im Streitfall zu Bewusstsein. Dann benötigt man eine neutrale Instanz der Streitschlichtung, die nach verbindlichen Regeln, nach Gesetz und Recht operiert und den Interessen des Ganzen, und nicht den Interessen der einen oder anderen Vertragspartei verpflichtet ist.
Der Staat ist aber nur in der Theorie ein Garant der Ordnung. Je mehr sich in der neoliberalen Welt der Staat zurückzieht, desto mehr können in der Praxis private Einzelinteressen ausgreifen und in unterschiedlichster Weise öffentliche, der Allgemeinheit verfügbare Räume ihrem privaten Regime und Interesse unterwerfen: durch Privatisierung öffentlicher Güter und Dienste, durch Kauf von politischen Entscheidungsträgern, durch gewaltförmige Aneignung von natürlichen und gesellschaftlichen Reichtümern.
Dass der Staat einen Ordnungsrahmen für die Ausübung von Eigentums- und Aneignungsrechten sichert, hat eine lange bürgerliche Tradition seit John Locke und Adam Smith. Das ist keine Marx’sche Entdeckung. Eigentumsrechte sind exklusiv und daher bedarf es der Gewalt, mit der nicht Berechtigte von Sachen ausgeschlossen werden, an denen sie kein Recht haben. Die Staatsgewalt schützt das Eigentum, das ist auch neoliberales Selbstverständnis. Ohne Ordnung, die der Staat mit allen seinen Gewalten garantiert, funktioniert keine auf privatem Eigentum beruhende Ordnung. Milton Friedman hat in seinem Klassiker »Capitalism and Freedom« aus dem Jahre 1962 (dafür hat er den Nobelpreis erhalten) eine Lanze für »law and order« gebrochen. Deshalb haben die deutschen Neoliberalen ihrem Hausorgan schon in den 1940er Jahren den Namen »Ordo« gegeben.
Marx hat diese Argumentationslinie, die zu einer Staatstheorie ausgebaut werden könnte, nicht sehr weit verfolgt. Er plante über das »Kapital« hinaus ein Buch über den Weltmarkt und über den Staat. Er ist dazu nicht gekommen. Später ist von Paschukanis in den 1920er Jahren und in der »Staatsableitungsdiskussion« in den 1970er Jahren versucht worden, diese Lücke zu füllen (vgl. Paschukanis 1966). Darin sollten die Kategorien des Politischen in ähnlich systematischer Weise funktional »abgeleitet« werden wie die Kategorien der politischen Ökonomie. Dabei haben sich Grenzen dieses Ansatzes gezeigt. Zu wenig wird berücksichtigt, dass der Staat aus einer Vielzahl von Institutionen auf verschiedenen Ebenen besteht, die sehr unterschiedliche und nicht selten gegensätzliche Perspektiven verfolgen. Es gibt also innerhalb des Staates und seiner Apparate Konflikte. Darüber hinaus aber ist der Staat eine Arena der Klassenauseinandersetzungen, die in der »Zivilgesellschaft« und in der Ökonomie ihren Ursprung haben.
Das ist der Grund für das in den 1970er Jahren erneut aufkommende Interesse an der Theorie von Antonio Gramsci, der den Staat als einen Komplex repressiver Staatsorgane und zivilgesellschaftlicher Einrichtungen und Organisationen verstand. Die Auffassung vom Staat als einem Instrument, das in einer Demokratie, in der die Arbeiterklasse die Mehrheit hat, für ihre Interessen genutzt werden kann, wird zurückgewiesen. Der Staat ist kein »Machtcontainer«, der in »Gesellschaften, Ökonomien und Kulturen« quasi herumsteht, und aus dem sich die Findigsten und Mächtigsten erstens bedienen können und der zweitens in Gesellschaft und Ökonomie interveniert (»Staatsinterventionismus«).
Vor allem Nicos Poulantzas hat betont, dass zwar der Interventionsstaat mit seinen politischen Institutionen aus sozialen Auseinandersetzungen hervorgegangen und auf die aktive Mitarbeit der Bürgerinnen und Bürger angewiesen sei (Poulantzas 1978). Eine hegemoniale Ordnung bewegt sich zwar durch soziale Konflikte, braucht aber, so könnte man sagen, auch den Konsens, vielleicht nur einen Basiskonsens, um nicht in Fragmente zu zerbrechen. Diese Gefahr ist groß, wenn Gesellschaften durch den Markt gesteuert werden, weil dann Individuen sich nicht zu Kollektiven »gesellen« können, sondern vereinzelte Marktteilnehmer bleiben. Für den gesellschaftlichen Zusammenhalt sorgen nach Gramsci die Institutionen der Zivilgesellschaft. Doch gleichzeitig ist der Staat Zentrum der Machtausübung, der (repressiven) Kontrolle des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Hier treffen sich Poulantzas und reformistische Staatstheoretiker, die wie Rudolf Hilferding mit der »Eroberung« der Staatsapparate durch die proletarischen Mehrheiten in demokratischen Abstimmungen rechnen. So ist es nicht gekommen, und so kann es nicht kommen, wie mit höchst unterschiedlichen Argumenten Luciano Canfora in seiner »kurzen Geschichte der Demokratie«, Michel Foucault mit seinem Ansatz der »gouvernementalité« oder auch Henri Lefèbvre begründet haben. Mit der »Eroberung« der Schaltstellen der Macht ist ja das System nicht ausgewechselt, so letzterer. Lediglich das steuernde Personal ist ausgetauscht (Lefèbvre 1974).
Jüngst hat John Holloway versucht, nicht zuletzt unter dem Eindruck des gescheiterten Sozialismus des 20. Jahrhunderts, eine theoretisch mit Marx begründete Strategie zu entwickeln, wie die Gesellschaft verändert werden kann, ohne die Macht zu ergreifen. Der »Machtcontainer« mag stehen wo er will, er mag offen oder verschlossen sein – mit seiner Eroberung ist, so Holloway, nichts gewonnen (Holloway 2002). Überzeugender seien die Versuche der Zapatistas in Mexiko, »fragend voranzuschreiten« und die konkreten Lebensbedingungen vor Ort zu verändern, in Selbstverwaltung zu verbessern, und so aus der Subalternität benachteiligter Völker und Klassen herauszufinden. Was auf dem Land in Chiapas exemplarisch praktiziert wird, ließe sich auch in den Städten als ein »urbaner Zapatismus« realisieren. Doch hat sich gerade in Mexiko bei den Präsidentschaftswahlen 2006 gezeigt, wie ein urbaner Zapatismus im Krieg von Staatsorganen und Drogenkartellen zerrieben wird.
Dann zeigt es sich, wie wichtig auch für soziale Bewegungen der Zugang zu Ressourcen im weitesten Sinne ist, um das Alltagsleben, ja das Überleben überhaupt organisieren zu können. Das hat sich sehr deutlich in Bolivien, aber vor allem in Argentinien nach der schweren Krise von 2001 gezeigt (vgl. Geiger 2010). Räume etwa können von sozialen Bewegungen nicht angeeignet werden, wenn dies die Staatsgewalt in Gestalt von Polizei und Militär verhindert. Auch sind es in aller Regel der nationale Staat oder internationale Governance-Strukturen, die zu sozialpolitischen Maßnahmen befähigt sind, auf die in Zeiten der Not mehr oder weniger große Bevölkerungsgruppen angewiesen sind. Die Ernährungsrevolten der vergangenen Monate richten sich in aller Regel gegen und zugleich an den Staat, um eine Verbesserung der Ernährungslage oder der Verteilung von Land zu erreichen.
Schon 1970 haben in der Staatsableitungsdebatte Wolfgang Müller und Christel Neusüss die »Sozialstaatsillusion« der Sozialdemokratie treffend kritisiert. Was sie vor 40 Jahren nicht berücksichtigen konnten, waren die Krisen des globalisierten Kapitalismus, die inzwischen das Überleben in vielen Weltregionen gefährden. In dieser Lage ist es keine Illusion, vom Staat Eingriffe und Unterstützung zu erwarten. Doch ist es klar, dass der Staat sozial- und umweltpolitische Eingriffe dieser Qualität nur in Folge von Klassenauseinandersetzungen erreicht, die im Staat ausgetragen werden und in denen den staatlichen Institutionen – wie Marx schreibt – die gesellschaftlichen Notwendigkeiten »aufgeherrscht« werden müssen, angefangen bei der Verkürzung der Länge des Arbeitstages und nicht endend bei den staatlich zu setzenden Normen von Hygiene in der Fabrik. Die Normierung ist Resultat eines Kampfes, und dieser Kampf (»dieser langwierige, mehr oder minder versteckte Bürgerkrieg zwischen der Kapitalistenklasse und der Arbeiterklasse«, MEW 23: 316) endet zeitweilig durch die »Institutionalisierung des Klassenkonflikts«, durch Etablierung reformistischer Kompromisse.
Diese sind auf der einen Seite Erfolge, weil sich die Lebensbedingungen von Teilen der Arbeiterklasse und von subalternen Schichten verbessern, auf der anderen Seite aber befördern sie die Integration in das gesellschaftliche und staatliche Institutionensystem, stabilisieren also die Herrschaft des Kapitals. Die »Ambivalenz des Reformismus« ist eine Begleiterscheinung von sozialen Bewegungen und ihren Auseinandersetzungen.
Marx hatte ein überzeugendes Arbeitsprogramm, auch wenn er es nicht absolvieren konnte: Ökonomie, Staat und Weltmarkt im Kontext zu betrachten. Im Zeitalter der Globalisierung kann man es weiter entwickeln. Denn die Globalisierung bietet ein Koordinatensystem, in dem sich die Nationalstaaten mit ihren verschiedenen Kapitalismen verorten und in einer »Geoökonomie« miteinander konkurrieren. In einer Geoökonomie, so viele Liberale, gibt es keine Feinde. Es herrscht die multiple Logik der Konkurrenz auf dem Weltmarkt und sie verdrängt die zwischenstaatliche Logik von Freund und Feind, in der Konservative das Wesen des Politischen erblicken. Damit es zwischen konkurrierenden Marktteilnehmern zu keinen Konflikten kommt, müssen jedoch Ressourcen und Märkte reichhaltig zur Verfügung stehen. Ist das nicht der Fall, gelangt die friedliche Konkurrenz an Grenzen; jenseits werden Konflikte um knappe Ressourcen ausgetragen.
Darin geht es dann immer um Territorien, um Rohstoffgebiete, Öllagerstätten, Pipelinetrassen etc. Deren Schutz wird zur Aufgabe von Nationalstaaten, die sich nun im Pluriversum der vielen Nationalstaaten befinden und mit sehr unterschiedlichen Macht- und Militärapparaten ausgestattet sind. Nun zeigt es sich, dass eine moderne Staatstheorie in der Marx‘schen Tradition vielen Anforderungen genügen muss. Sie muss erstens nicht nur das Verhältnis von Politik und Wirtschaft, von Macht und Akkumulation, von politischer und ziviler Gesellschaft in Rechnung stellen. Sie darf zweitens nicht nur über den Ort der Macht räsonieren und auch nicht nur die im Staatsapparat selbst, in der Arena der Klassenkonflikte ausgetragenen Konflikte berücksichtigen, sondern sie muss drittens auch die Konflikte zwischen nationalen Staaten analysieren. Diese können sich tragischerweise, wie wir aus der Geschichte wissen, bis zum Krieg zuspitzen. Zwar können sie auch nach dem Muster der für den Nationalstaat schon erwähnten »Institutionalisierung des Klassenkonflikts« durch die Bildung internationaler Institutionen zumindest zeitweise stillgestellt werden. Es ist aber auch möglich, dass ökonomisch und politisch mächtige Parteien des Konflikts ihre Interessen durchsetzen. Das wäre der neue geopolitische Imperialismus (vgl. ten Brink 2008). Da geht es dann weniger um die ökonomische Konkurrenz auf Märkten als um die Macht von Nationalstaaten im Pluriversum der vielen konkurrierenden Nationalstaaten.
Die Zitate im Artikel stammen aus:
- Karl Marx und Friedrich Engels: Werke, 43 Bände, Berlin 1956-1990 (abgekürzt: MEW; danach folgt Angabe des Bandes und der Seite).
- Eugen Paschukanis (1966): Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, Frankfurt am Main (Original: Moskau 1924; dt. 1929).
- Nicos Poulantzas (1978): Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Sozialistische Demokratie, Hamburg.
- Henri Lefèbvre (1974): Die Zukunft des Kapitalismus. Die Reproduktion der Produktionsverhältnisse, München.
- John Holloway (2002): Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen, Münster.
- Tobias ten Brink (2008): Geopolitik. Geschichte und Gegenwart kapitalistischer Staatenkonkurrenz, Münster.
- Margot Geiger (2010): Umkämpftes Territorium. Ökonomie, Staat und soziale Bewegungen im Neoliberalismus am Beispiel Argentinien, Münster (erscheint im September 2010 im Verlag Westfälisches Dampfboot).
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