Die größte Gewerkschaftsdemonstration seit 1989 markiert den vorläufigen Höhepunkt von Protesten gegen den Sozialabbau der Regierung von Donald Tusk. Von Andrzej Żebrowski
Die Straßen von Warschau gehörten am Samstag, den 14. September der Arbeiterklasse. Rund 200.000 Arbeiterinnen und Arbeiter beteiligten sich an der größten Gewerkschaftsdemonstration seit dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes 1989. Die Demonstration war der Abschluss von vier Aktionstagen, an denen tausende Arbeiter vor Ministerien demonstrierten und in einer Zeltstadt vor dem Parlament kampierten.
Der Protest bedeutet in mehr als einem Sinne einen Wendepunkt. Er war doppelt so groß wie erwartet, was heißt, dass viele tausend Arbeiter im ganzen Land wütend und entschlossen genug waren, um aus den entlegensten Ecken des Landes, oft die Nacht hindurch, in die Hauptstadt zu reisen.
Neue Einheit der Gewerkschaften
In Polen war das Niveau der gesellschaftlichen Kämpfe in den vergangenen Jahren sehr niedrig, was viele dazu gebracht hat anzunehmen, dass die Gewerkschaften erledigt seien. Das Ausmaß der Demonstration hat jetzt nicht nur der Regierung, sondern auch den Arbeitern selbst gezeigt, dass sie eine Kraft darstellen, mit der weiterhin zu rechnen ist.
Die drei größten Gewerkschaftsbünde (Solidarnosc, OPZZ, FZZ) hatten in den vergangenen Jahren zwar gemeinsame Proteste organisiert, aber die fanden auf sehr viel niedrigerem Niveau statt. Davor war es üblich gewesen, dass jede Gewerkschaft ihre eigenen Proteste organisierte.
Das Ausmaß der Angriffe der Regierung hat dies verändert. Der Solidarnosc-Vorsitzende, Piotr Duda, hat im Scherz gesagt, er sei dem Premierminister dafür dankbar, dass dieser die Gewerkschaften geeint habe. Dieses Mal haben die drei Gewerkschaftsbünde getrennte Märsche organisiert, die dann zusammenliefen und in einer großen Demonstration von Solidarität gemeinsam weiterführten.
Schwache Linke gegen Tusk
Es regiert eine Koalition unter Führung der Mitte-Rechtsliberalen Partei Bürgerplattform (PO) von Premierminister Donald Tusk. Polens Stellung in der europäischen Wirtschaft hat dazu geführt, dass das Land als einziges in der EU seit dem Crash von 2008 eine Rezession hat vermeiden können. Das hat der Tusk-Regierung dabei geholfen, als erste Regierung seit der Wende 1989 eine Wiederwahl zu gewinnen. Jetzt aber verliert Tusk in den Umfragen ebenso wie in Nachwahlen.
Die politische Landschaft in Polen ist geprägt von der Konkurrenz zwischen den regierenden Liberalen und den katholischen Konservativen der Partei für Recht und Gerechtigkeit. Die post-kommunistischen Sozialdemokraten (SLD) stellen die schwache dritte Kraft dar. Links von der SLD gibt es eine sehr kleine radikale und revolutionäre Linke.
Rentenalter und Überstundenzuschläge
Die Wirtschaft wächst zwar noch, aber das Wachstum hat sich dramatisch verlangsamt. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 13 Prozent. Tusk will sich mit den Kürzungen, wie sie über die stückweise Kommerzialisierung und Privatisierung von Krankenhäusern vorangetrieben wurden, nicht zufriedengeben. Letztes Jahr startete er einen Frontalangriff auf die Lohnabhängigen, indem er das Renteneintrittsalter für Männer und Frauen auf 67 Jahre heraufsetzte. Darauf folgte eine Demonstration mit 30.000 Teilnehmern vor dem Parlament, aber danach knickten die Gewerkschaftsführungen ein.
Dadurch wurde die Regierung ermutigt, in diesem Jahr die zweite Stufe ihrer Angriffe zu starten und die Flexibilisierung der Arbeitszeiten gesetzlich festzuschreiben. Das bedeutet Flexibilität für die Bosse und die Zerstörung der Freizeit für die Arbeiter. Es heißt auch, dass Arbeiter für Überstunden keine Zuschläge mehr bekommen.
Mehr Streiks und Proteste
Viele Arbeiter denken, genug ist genug. Im laufenden Schuljahr sind 7.000 Lehrkräfte von Entlassung bedroht. Ende August wurden 16 Lehrinnen und Lehrer einer Warschauer Schule entlassen. Sie und ihre Kollegen besetzten das Gebäude und wurden dabei von Eltern und Schülern unterstützt. Ihre Entlassungen wurden daraufhin zurückgenommen.
Krankenschwestern in Staszow traten am Tag vor der großen Demonstration für zwei Stunden in den Streik, um ihren Forderungen nach Lohn und besseren Arbeitsbedingungen Nachdruck zu verleihen. Diesen Monat haben außerdem Bahnarbeiter eines Unternehmens eine Jobgarantie erkämpft, nachdem sie sich in einer Abstimmung zu 95 Prozent für einen Streik ausgesprochen hatten. In einem anderen Bahnunternehmen drohen die Angestellten mit Streik, um ihre Jobs zu retten.
Rede von Generalstreik
Viele Arbeiter sind jetzt bereit für einen Generalstreik. Solidarnosc, die an den meisten betrieblichen Auseinandersetzungen beteiligt ist, hat über den Sommer eine Streikabstimmung in allen Branchen organisiert. Das Ergebnis war eine 84-prozentige Zustimmung. Die Gewerkschaftsführung hat immer wieder damit gedroht, einen Generalstreik zu organisieren, aber noch kein Datum dafür bekanntgegeben.
Gegenwärtig ist überhaupt nicht klar, wie weit die Gewerkschaftsführung nach dem Erfolg der Demonstration bereit ist zu gehen. Aber die Arbeiter haben ihre eigene Macht erfahren und wollen mehr davon.
(Andrzej Żebrowski ist aktiv in der sozialistischen Gruppe
Pracownicza Demokracja. Übersetzung: David Meienreis)
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