Mike Davis hat schon viele Präsidenten kommen und gehen sehen. Der 68er ist ein Veteran der amerikanischen Linken. Wir sprachen mit ihm über enttäuschte Hoffnungen, beißwütige Republikaner und eine verschollene Flaschenpost
marx21.de: Im Wahlkampf 2008 ritt Obama auf einer Welle der Begeisterung. Diesmal war der Nominierungsparteitag der Demokraten eine recht müde und nüchterne Angelegenheit. Was ist geschehen?
Mike Davis: Nun, die Regierung hat fast jedes einzelne ihrer Wahlversprechen gebrochen. Obama hat Guantánamo in Betrieb gelassen und die Überwachung im Inland ausgebaut. Die Regierung hat ein Gesetz verabschiedet, das dem Präsidenten das Recht einräumt, Zivilisten, sogar US-amerikanische Staatsbürger, ohne ein gerichtliches Verfahren hinrichten zu lassen. Das Militär führt seine geheimen Kriege in Mali, Somalia, dem Jemen und auf der philippinischen Insel Mindanao mit immer größerem Einsatz. Darüber hinaus hat die Regierung Obama Israel in beispielloser Weise Unterstützung zugesagt, falls es den Iran angreifen sollte. Außerdem hat sie sich geweigert, die Verbrechen ihrer Vorgängerin – wie die Einführung der Folter durch Rumsfeld oder die Plünderung des Irak durch US-Konzerne – aufzuarbeiten, geschweige denn strafrechtlich zu verfolgen.
Nachdem er kurze Zeit mit keynesianischer Wirtschaftspolitik experimentiert hat, setzte sich der Präsident über die letzten verbliebenen Progressiven in seiner Partei hinweg. Genau wie die Republikaner sagt er, dass die Haushaltskonsolidierung wichtiger sei als weitere Konjunkturpakete oder öffentliche Beschäftigungsprogramme. Das bedeutet: Von Briefträgern bis zu Lehrern werden hunderttausende Beschäftigte des öffentlichen Dienstes auf die Straße gesetzt. Auch beim Umweltschutz sieht Obamas Bilanz vernichtend aus, weil er weiterhin den Energiekonzernen den Hof macht.
Aber der Präsident hat auch ein paar fortschrittliche Maßnahmen ergriffen, wenn auch in manchen Fällen eher zögerlich. So hat er die Diskriminierung Homosexueller in der Armee beendet und sich für die wirtschaftlichen Rechte der Frauen und das Recht auf Abtreibung eingesetzt. Er hat zwei Frauen an den Obersten Gerichtshof berufen und teilweise den »Dream Act« umgesetzt, der minderjährigen Ausländern die Einbürgerung erleichtern soll.
Obama hat sich erschreckend gut mit dem Erbe der Bush-Regierung arrangiert. Gleichzeitig ist die Republikanische Partei extrem weit nach rechts gerückt. Das wird dazu führen, dass sogar desillusionierte und enttäuschte Demokraten, vor allem Latinos und berufstätige Frauen, im November wieder für Obama stimmen werden.
Die meisten US-Amerikaner sagen, dass für sie Arbeitsplätze und die Wirtschaft die ausschlaggebenden Themen bei der Wahl seien. Wie sehr unterscheiden sich die Vorschläge der Kandidaten zur Lösung der Wirtschaftskrise?
Mitt Romney will die freiwilligen Leistungen der Bundesregierung zusammenstreichen, obwohl die sich positiv auf die Binnennachfrage und die Schaffung von Arbeitsplätzen auswirken. Zugleich will er den Superreichen weitere Steuergeschenke machen, um ihre Konten in den Steueroasen aufzubessern. Er wäre ein sehr guter Präsident für die Cayman Inseln oder die Bahamas.
Aber auch Obama hat keine Strategie, um Arbeitsplätze zu schaffen. Eine zweite Runde von Konjunkturpaketen hat er abgelehnt. Stattdessen verlässt er sich darauf, dass Ben Bernanke, der Vorsitzende der Zentralbank, die Geldmenge erhöht. Aber Geld zu drucken schafft nur Jobs, wenn die Unternehmen es in die Produktion im Inland investieren. Doch stattdessen sind die »Bernanke-Dollars« in eine Reihe neuer spekulativer Blasen geflossen, die die Ursachen der Krise nur reproduzieren. So wird auf Ackerland, Getreide und neuerdings auch auf Öl heftig spekuliert.
Außerdem zeigen die Statistiken des Arbeitsministeriums, dass die Mehrzahl der Stellen, die seit 2008 abgebaut worden sind, im mittleren Lohnbereich lag. Zwei Drittel der neu geschaffenen Jobs sind hingegen im Niedriglohnsektor entstanden. Lehrer werden gefeuert, Kellner eingestellt. Die meisten der guten Stellen, die gestrichen wurden, werden nie wiederkehren. Obwohl das in Washington niemand sagen will: Jobs im mittleren Einkommenssegment würden vor allem im öffentlichen Sektor und durch eine Ausweitung der öffentlichen Investitionen im Gesundheitswesen und in die Infrastruktur entstehen. Während die Republikaner die Axt schwingen und mit der Abschaffung der letzten Transferleistungen drohen, findet kein Liberaler den Mut, zu sagen, dass der öffentliche Sektor – mit Ausnahme des Militärs – zu klein ist und wir dort die Zahl der Beschäftigten verdoppeln sollten.
Die Republikaner ziehen mit Mitt Romney, einem ehemaligen Finanzspekulanten, und Paul Ryan, einem Rechtskonservativen der Tea Party in den Wahlkampf. Ist es nicht sinnvoll, Obama gegen dieses Duo zu unterstützen, selbst wenn man von seinen bisherigen Leistungen nicht überzeugt ist?
Es ist sinnvoll, gegen Romney und Ryan zu stimmen. Weniger sinnvoll ist es, den Demokraten dabei zu helfen, Illusionen über ihre Ziele und bisherigen Erfolge zu verbreiten. Ich finde, wir sollten Obama wiederwählen und ihn dann sofort bekämpfen.
Der Präsident steht derzeit unter viel zu wenig Druck von links. Es gab diesmal keine Vorwahlen bei den Demokraten und nicht einmal eine Debatte über die Politik und Positionen des Duos Obama-Clinton zu Israel, Armut, Haft, Drohnenangriffen und ähnlichem. Die historische Schlacht um die innerparteiliche Demokratie in den 1970er Jahren scheint es nie gegeben zu haben. Die Demokratische Partei ist im Moment ein Fanclub des Präsidenten, weil sie Angst vor der beißwütigen republikanischen Rechten hat…
(Das Gespräch führte Stefan Bornost. Das vollständige Interview lest ihr in marx21 Nr. 27. Jetzt Probeexemplar bestellen!)
Zur Person:
Mike Davis ist ein US-amerikanischer Soziologe und Historiker. Sein 1990 erschienenes Buch »City of Quartz. Ausgrabungen der Zukunft in Los Angeles« gilt heute als Klassiker der Stadtsoziologie. Zuletzt erschien von ihm in deutscher Sprache »Eine Geschichte der Autobombe« (Assoziation A 2007). Davis ist Professor an der University of California in Riverside. Er lebt in San Diego.
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