Am 1. September 1939 begann mit dem Überfall der Wehrmacht auf Polen der Zweite Weltkrieg. Stefan Bornost erläutert die Hintergründe.
Dieser Artikel erscheint in marx21, Heft 12. Die neue Ausgabe ist ab 7. September erhältlich.
Der von Vermessenheit und Größenwahn befallene Hitler vergrößert rücksichtslos das Deutsche Reich, die Westmächte lassen ihn bis 1939 aus falsch verstandenem Pazifismus gewähren. Das ist die Quintessenz der Spiegel-Titelgeschichte zum 70. Jahrestag des Kriegsbeginns. Auch wenn der Artikel wesentlich nuancierter ist als vergangene Beiträge des Magazins, bleibt die Grundfigur doch dieselbe. Diese Analyse geht jedoch am Kern vorbei. Weder kann man anhand der Psychopathologie Hitlers den deutschen Expansionsdrang erklären, noch war »Pazifismus« die Triebfeder in der Politik der Alliierten.
Imperiales Projekt
Selbstverständlich war das Nazi-Regime außerordentlich stark auf die Person Hitler zugeschnitten – der »Führerwille« wurde stets umgesetzt. Doch insbesondere in der Frage, was die territorialen und wirtschaftlichen Perspektiven für das Deutsche Reich seien, entsprach Hitlers Wille durchaus den Vorstellungen der deutschen Eliten.
Sein imperiales Projekt hatte tiefe Wurzeln. Schon in der Entstehungszeit des Deutschen Zollvereins (1834) wurden erste Pläne für eine europäische Großraumwirtschaft unter deutscher Führung entwickelt – so zum Beispiel in den Schriften von Friedrich List, dem »Vater der Nationalökonomie«. Die Manufakturnationen Preußen und Österreich sollten hierbei die Hegemonie über ein Gebiet von der Nordsee bis zum Schwarzen Meer erlangen. Den Ländern Ost- und Südosteuropas wurde der Status von Agrar- und Rohstoffproduzenten zugeschrieben. Gleichzeitig sollten sie als Absatzmärkte für deutsche Produkte und als Handelsbrücke in den Nahen Osten dienen. Des Weiteren waren Gebiete Afrikas und Lateinamerikas als »Ergänzungszonen« vorgesehen. Eben eine solche »mitteleuropäische Großraumwirtschaft« gegen England, Frankreich, Rußland und die USA durchzusetzen, war schließlich die Hauptmotivation des Kaiserreichs, als es den Ersten Weltkrieg entfesselte.
Der »Griff nach der Weltmacht« endete 1918 in der Niederlage, an imperiale Expansion war in der ökonomisch und außenpolitisch geschwächten Weimarer Republik nicht zu denken – zumindest zunächst nicht. Mit der 1929 begonnenen Weltwirtschaftskrise verschärfte sich die Konkurrenz zwischen den kapitalistischen Industriestaaten enorm. Diese Situation ließ den Versuch Deutschlands scheitern, die Bedingungen des Versailler Vertrags – die eine Schwächung des deutschen Kapitalismus auf dem Weltmarkt darstellten – auf dem Verhandlungswege aufzuheben.
In dieser Situation rückte das Projekt »mitteleuropäische Großraumwirtschaft« wieder in den Mittelpunkt des Denkens der wirtschaftlichen Eliten. »Erst ein geschlossener Wirtschaftsblock von Bordeaux bis Odessa wird Europa das wirtschaftliche Rückgrat geben, dessen es zu seiner Behauptung seiner Bedeutung in der Welt bedarf«, erklärte im März 1931 Carl Duisberg, Aufsichtsratsvorsitzender der IG Farben, vor der Industrie- und Handelskammer München. Gemeint war ein Europa unter deutscher Vorherrschaft.
Mit Hitlers Machtergreifung waren die Weichen für die praktische Umsetzung dieser Pläne gestellt. In »Mein Kampf« hatte dieser die bestehenden imperialen Vorstellungen verdichtet und mit kruden Rassentheorien und Antisemitismus verknüpft. Der Historiker Adam Tooze hat in seinem Buch »Die Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus« eindrucksvoll dargestellt, wie stark Hitlers Denken durch den schnellen Aufstieg der USA zur globalen Wirtschaftsmacht geprägt war. Innerhalb weniger Jahrzehnte hatte die amerikanische die deutsche Wirtschaft abgehängt: Zur Zeit der Reichsgründung (1870) war bei etwa gleicher Bevölkerungszahl die Gesamtwirtschaftsproduktion der Vereinigten Staaten nur um etwa ein Drittel höher gewesen. Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs war die amerikanische Wirtschaft auf ungefähr das Doppelte der reichsdeutschen angewachsen, zur Zeit der Machtergreifung fast auf das Dreifache.
1928 schrieb Hitler hierzu: »Nordamerika wird in der Zukunft nur der Staat die Stirne zu bieten vermögen, der es verstanden hat, durch das Wesen seines inneren Lebens sowohl als durch den Sinn seiner äußeren Politik den Wert seines Volkstums rassisch zu heben und staatlich in die hierfür zweckmäßigste Form zu bringen. Es ist wieder die Aufgabe der nationalsozialistischen Bewegung das eigene Vaterland selbst für diese Aufgabe auf das äußerste zu stärken und vorzubereiten.« Die Eroberung von »Lebensraum im Osten« war für Hitler notwendige Bedingung, um langfristig die als unausweichlich angesehene Konfrontation mit der wirtschaftlichen Potenz der USA zu gewinnen.
So begann sich der deutsche Kapitalismus mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 1935 und einem massiven Aufrüstungsprogramm 1936 auf die militärische Entscheidung des wirtschaftlichen Konkurrenzkampfs vorzubereiten. Diese Gefahr war offensichtlich.
»Appeasement«-Politik
Dennoch waren die Nazis bis zum Angriff auf Polen bei vielen ausländischen Politikern und Unternehmern gut gelitten. Solange sich die Expansion Deutschlands auf Osteuropa beschränkte, das als wirtschaftliches Einflussgebiet Deutschlands galt, und Hitlers Politik »nur« Russland bedrohte, nahmen England und Frankreich daran keinen Anstoß. Der Hauptgrund dafür war die Angst der ausländischen Herrschenden vor einer erneuten revolutionären Welle, wie sie in den Jahren 1917 bis 1923 vor allem Europa erfasst hatte.
Diese Angst war begründet: Die Weltwirtschaftskrise führte ab 1929 zu heftigen Klassenkämpfen. In den USA wurden hunderte Streikende von Polizei und Armee erschossen. Millionen traten den Gewerkschaften bei. In Frankreich verhinderte 1936 eine Massenbewegung die Machtergreifung der Faschisten – zum Entsetzen des französischen Großbürgertums, das die Faschisten unterstützt hatte.
In Deutschland hingegen zerschlug Hitler schon kurz nach der Machtübernahme sämtliche Arbeiterorganisationen. Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter wurden zu Tausenden verhaftet und in die ersten Konzentrationslager des Regimes geworfen. Die europäischen Herrschenden zollten den Nazis hierfür Respekt. So besuchte der britische Minister Lord Halifax 1937 Hitler und erklärte ihm, dass seine Kritiker in Großbritannien »nicht voll informiert« seien und dass Hitler »sich durch die Verhinderung des Kommunismus in Deutschland bleibende Verdienste erworben hat.« Der französische Verteidigungsminister Édouard Daladier sagte 1938, dass wenn »Deutschland in einem Krieg besiegt wird, die einzigen Profiteure die Bolschewisten sein werden, weil es soziale Revolutionen in jedem Land gibt«.
Diese Angst ist der Hintergrund der sogenannten »Appeasement«-Politik gewesen. Die herrschenden Klassen Frankreichs und Englands hatten innenpolitisch keinerlei Interesse daran, den Antifaschismus populär zu machen, denn das hätte eine Stärkung der Arbeiterbewegung bedeutet. Sie setzten lieber auf die »stabilisierende« Kraft faschistischer und diktatorischer Unterdrückung. So hatten sie vollstes Verständnis für die koloniale Expansion Italiens in Äthiopien 1935 und die Annexion Österreichs durch Deutschland im Frühjahr 1938. Im spanischen Bürgerkrieg (1936-1939) ließen sie die republikanische Seite in ihrem Kampf gegen den Faschisten Franco im Stich. US-amerikanische Aktivisten, die 1937 für die Spanienkämpfer der »Lincoln-Brigade« Geld gesammelt hatten, wurden noch zehn Jahre später während der McCarthy-Ära des »premature antifascism«, des »verfrühten Antifaschismus«, verdächtigt. Ihr Verbrechen: Sie waren schon gegen die Nazis gewesen, bevor die amerikanische Regierung 1941 offiziell in den Krieg eintrat.
Den Höhepunkt der »Appeasement«-Politik stellte das Münchner Abkommen von 1938 zwischen den Demokratien England und Frankreich auf der einen Seite und den faschistischen Diktaturen Italien und Deutschland auf der anderen Seite dar. Das Abkommen zwang die Tschechoslowakei, die von Sudetendeutschen bewohnten Randgebiete »freiwillig« an Deutschland abzutreten. Andernfalls, so drohten England und Frankreich der tschechoslowakischen Regierung, könne das Land nicht damit rechnen, dass sie im Falle eines deutschen Überfalls Beistand leisten würden – trotz anderslautender Bündnisvereinbarungen.
So konsequent Hitler seine außenpolitischen Ziele vorantrieb, so brachial setzte er auch seine innenpolitischen Pläne durch. Die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung nahm 1938 eine neue Qualität an. Wenige Wochen nach dem Münchener Abkommen, am 9. November, organisierten die Nazis reichsweit Pogrome. Die weitgehende Entrechtung der jüdischen Deutschen hatte schon mit den Nürnberger Rassegesetzen 1935 begonnen, die so genannte »Reichskristallnacht« leitete nun die massenhafte Enteignung und Entlassung der Juden ein, das heißt die Vernichtung ihrer Existenzgrundlagen. Am 30. Januar 1939 kündigte Hitler öffentlich vor dem Reichstag an, dass ein Krieg »die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa!« zur Folge haben würde.
Im März 1939 marschierten deutsche Truppen in den Rest der Tschechoslowakei ein. Der für diesen Fall im Münchner Abkommen versprochene Beistand erwies sich als leeres Versprechen. Der Bruch mit der »Appeasement«-Politik kam erst, als sich unter Großbritanniens Eliten nach heftigen internen Kämpfen der Flügel um Winston Churchill durchgesetzt hatte. Churchill hatte als eingefleischter Anti-Kommunist kein Problem mit dem Faschismus, solange er sich gegen die Linke richtete. 1927 sagte er bei einem Italien-Besuch der einheimischen faschistischen Presse: »Ich bin sicher, wäre ich ein Italiener gewesen, hätte ich euch vom ganzen Herzen unterstützt in eurem siegreichen Kampf gegen die bestialischen Bestrebungen des Leninismus.«
Doch im Gegensatz zu den »Appeasement«-Politikern hatte Churchill seit der Machtübernahme der Nazis vor deren Expansionsdrang gewarnt. Er befürchtete, dass ein Kontinentaleuropa dominierendes Deutschland nicht nur die Sowjetunion bedrohen, sondern auch viele britische Kräfte binden würde – und das in einer Zeit, in der das Empire von Unabhängigkeitsbewegungen durchgeschüttelt wurde. Anfang der 1930er hatte der spätere Chef des Bomber Command Arthur Harris mehrere kurdische und arabische Aufstände mit Streubomben, Tretminen und Giftgas niederbomben lassen. In Indien erhielt die Bewegung von Gandhi starken Zulauf, 1937 gewann die nationalistische Kongress-Partei die Wahlen in fast allen indischen Provinzen. Churchill wollte das Empire zusammenhalten – dazu musste seiner Überzeugung nach die deutsche Gefahr eingedämmt werden. Aus diesem Grunde hielt er sich an die an Polen gegebene Garantie und erklärte Deutschland nach dem 1. September 1939 den Krieg.
Hitler-Stalin-Pakt
In »Mein Kampf« hatte Hitler Russland nicht nur zum ideologischen Hauptfeind auserkoren, sondern auch als Eroberungsziel benannt. Um so mehr verblüffte der am 23. August 1939 verkündete Hitler-Stalin-Pakt die Weltöffentlichkeit. Die kommunistische Bewegung stürzte er in völlige Verwirrung – vor allem die deutschen Kommunisten, die seit Jahren gegen die Nazis gekämpft hatten.
Für Hitler hatte das Abkommen vor allem einen Zweck: Es hielt ihm beim Überfall auf Frankreich im Mai 1940 den Rücken frei. Die vereinbarten umfangreichen russischen Rohstofflieferungen waren zum Betreiben der deutschen Kriegsmaschinerie unentbehrlich – sie liefen tatsächlich bis kurz vor dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion weiter.
Die Interessen Stalins an dem Pakt sind weniger offensichtlich. Einige Historiker haben in der Vergangenheit versucht, den Pakt als listigen Schachzug Stalins hinzustellen, der sich so Zeit für eine Aufrüstung erkaufte. Diese Darstellung ist aber wenig überzeugend. Stalin baute zu dieser Zeit keine funktionierende Kriegsmaschine auf. Im Gegenteil: Er enthauptete sowohl die Armee als auch die für Rüstungsprojekte zentrale technische Intelligenz.
1936 hatte die »Große Säuberung« begonnen – die systematische Auslöschung echter und vermeintlicher Opposition. Im Militär nahm die Säuberung monströse Ausmaße an – 90 Prozent der Generäle und mehr als 60 Prozent der Offiziere wurden hingerichtet. Darunter waren alle erfahrenen Offiziere, die unter Stalins Gegenspieler Trotzki im Bürgerkrieg (1918-1920) gedient hatten. Die Säuberungen gingen bis zum Kriegsbeginn weiter. Nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion war die Armee so schlecht aufgestellt, dass sogar zum Teil Kommandeure aus dem Gulag an die Front geschickt wurden – wie der spätere Marschall Konstantin Rokossowski, der sein Kommando mit neun ausgeschlagenen Zähnen und drei gebrochenen Rippen übernahm. Zum Zeitpunkt der »Operation Barbarossa« hatten nur sieben Prozent der russischen Offiziere eine höhere militärische Ausbildung, 37 Prozent waren noch in der Grundausbildung – ein Umstand, der wesentlich zu den verheerenden Niederlagen der Roten Armee im ersten Kriegsjahr beitrug. Ähnlich das Bild bei der technischen Intelligenz: Zwischen 1934 und 1941 wurden 450 Flugzeugkonstrukteure verhaftet, davon wurden 50 erschossen, 100 starben in Arbeitslagern. Überlebende wie Andrei Tupolev arbeiteten dann im Krieg unter strenger Aufsicht des Geheimdienstes.
All dies ist wohl kaum die angemessene Antwort auf eine militärische Bedrohung. So war der Hitler-Stalin-Pakt auch keine Kriegslist, sondern profane Großmachtpolitik – Stalin wollte mit Hitler die Interessensphären abstecken. Die Sowjetunion annektierte »ihren« Teil Polens, die Rote Armee marschierte in den baltischen Staaten ein und begann Krieg gegen Finnland.
Stalins Außenminister Wjatscheslaw Molotow erklärte noch Jahrzehnte später, dass das wichtigste Ziel der sowjetischen Außenpolitik dieser Zeit gewesen sei, die eigenen Grenzen so weit wie möglich auszudehnen: »Und mir scheint, Stalin und ich haben das ganz gut hingekriegt.«
Stalins entsetzte Reaktion auf die deutsche Invasion legt nahe, dass er wirklich dachte, Hitler würde sich längere Zeit an die Abmachungen halten. Dem war nicht so – die Ostfront wurde zum Schauplatz unfassbaren Schlachtens und Blutvergießens.
Krieg um die Aufteilung der Welt
Der von den deutschen Herrschenden angezettelte Zweite Weltkrieg war also, wie schon sein Vorgänger, ein Krieg zwischen den großen Mächten um die Aufteilung der Welt in ökonomische Einflusssphären.
Oskar Lafontaine zitiert gerne den französischen Sozialisten Jean Jaures: »Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen«. Das ist richtig. Die Tendenz, Konkurrenz militärisch auszutragen, gehört zu diesem System. Doch das heißt nicht, dass die Abermillionen Kriegstoten, und das unfassbare Verbrechen des Holocaust zwangsläufig passieren mussten. Denn Geschichte ist nicht etwas, was an den Menschen vorbei einfach passiert – sie können kollektiv eingreifen. Eine andere Politik der großen Arbeiterparteien SPD und KPD am Ende der Weimarer Republik hätte Hitlers Aufstieg stoppen können. Eine erfolgreiche revolutionäre Bewegung nach dem Ersten Weltkrieg – von Russland bis nach Spanien – hätte eine ganz andere Ausgangslage geschaffen.
Autor:
Stefan Bornost ist leitender Redakteur von marx21.
Buchtipp:
Ernest Mandel: »Der Zweite Weltkrieg«, ISP-Verlag, 245 Seiten, 17,50 Euro