Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg verweigert einem muslimischen Schüler aus Berlin-Wedding das Recht auf Gebet während der Unterrichtspausen. Wie soll die Linke darauf regieren? Ein Kommentar von Rosemarie Nünning
Vor Gericht geriet die Sache, weil einige wenige Schüler des Diesterweg-Gymnasiums Ende 2007 angefangen hatten, zunächst in Umkleideräumen, dann in einem Schulflur ihr Mittagsgebet zu verrichten. Die Schulleiterin verbot das Gebet, weil es angeblich den Schulbetrieb störte und das Neutralitätsgebot des Staats verletzte. Der Schüler Yunus klagte dagegen. Die erste Gerichtsinstanz, das Berliner Verwaltungsgericht, gab ihm Recht: Gäbe es Gebete als Schulveranstaltung, dann wäre das in der Tat eine Verletzung der Neutralität, aber der Staat habe nicht die Aufgabe, gegen die religiöse Betätigung Einzelner vorzugehen. Der Berliner Senat legte Einspruch ein. Seine Begründung war explizit politischer Natur: Das Ritualgebet habe Demonstrationscharakter und diene der sozialen Kontrolle, hieß es, es handele sich um einen Kollektivritus mit politischem Charakter. Der Landeselternausschuss sah die Integrationsbereitschaft der muslimischen Schüler gefährdet. Der Neuköllner SPD-Bürgermeister Buschkowsky beschwor die »Verfestigung von Parallelgesellschaften« herauf. Aber auch die GEW drängte den Senat, in die Berufung zu gehen.
Die Senatsbildungsverwaltung engagierte den emeritierten Professor für Islamwissenschaften, Tilman Nagel, als Gutachter dafür, ob ein Muslim strikte Gebetszeiten einhalten müsse oder nicht. Er kam zu dem Ergebnis, dass bestimmte Quellen des Islams es zuließen, das Mittags- mit dem Abendgebet zusammenzulegen. Dass Nagel zu solchen Schlüssen kommt, erstaunt nicht: Er hatte beispielsweise im November 2009, zwei Wochen vor dem Ersturteil, der österreichischen Tageszeitung »Die Presse« ein Interview gegeben, in dem er sagte: »Islamophobie muss erlaubt sein, man kann nicht eine Meinung oder Glaubenshaltung unter Schutz stellen. Das ist eine bedenkliche Umdefinierung der Menschenrechte.« Die »Presse« gehört einem konservativ-katholischen Medienverein.
Nagel hat sich auf einen Feldzug begeben, dem Islam besondere Rückständigkeit, Kriegslust und Unterdrückung Nichtgläubiger nachzuzweisen. Abgesehen von der völlig unhistorischen und undifferenzierten Betrachtung, die er anstellt, ließe sich Ähnliches auch über andere Großreligionen wie das Christentum sagen. Aber auch das Gegenteil, denn wie im Christentum gab und gibt es immer wieder unterschiedliche Strömungen, die sich mit Herrschaft verbinden (Saudi Arabien, Iran heute) oder gegen Unterdrückung kämpfen (wie die Hamas oder die Hisbollah). Nebenbei ist Nagel Mitglied einer Freimaurerloge, in deren Tempel eine Deutschlandfahne hängt und wo »bekleidet mit weißen Handschuhen und schwarzem Zylinder, mit Schurz und dem Logenabzeichen am himmelblauen Band rituelle Wechselgespräche« geführt werden.
Dass dies der »wissenschaftliche« Zeuge des rot-roten Senats ist, aufgrund dessen »Expertise« nun die zweite Gerichtsinstanz gegen einen Gebetsraum entschied, sollte jeden Linken beschämen. Wie sehr Religionen ungleich behandelt werden, zeigt sich an einem anderen Fall: Im Januar 2009 hatte das Schulamt des Rheinkreises Neuss es für unzulässig erklärt, dass Kinder der zweiten Klasse mit gefalteten Händen zu Beginn des Unterrichts einen Text des evangelischen Theologen und Widerstandskämpfers gegen den Faschismus, Dietrich Bonhoeffer, in Gebetsform sprechen. Die nordrhein-westfälische Schulministerin Barbara Sommer ordnete daraufhin die Zulassung des Gebets – also eines Kollektivrituals als Schulveranstaltung – an. Sommer: »Schüler sollen auf der Grundlage christlicher Bildungs- und Kulturwerte unterrichtet und erzogen werden.« Für Schüler, die nicht teilnehmen wollten, sollte eine Ausweichmöglichkeit gefunden werden.
Das Gebetsverbot für Muslime an Schulen nennt die Juristen Kirsten Wiese »brandgefährlich«. Nach der Einschränkung der Religionsfreiheit von Lehrerinnen, die ein Kopftuch tragen, rückten jetzt die Schülerinnen und Schüler in den Blick: »Wenn man den Grundgedanken des OVG-Urteils ernst nimmt, ist auch das Kopftuch ein sichtbares Zeichen der Religionsausübung, das zur Wahrung des Schulfriedens verboten werden könnte. Das Gleiche könnte für Kreuze an Halsketten von Schülerinnen und Schülern gelten. Möglicherweise droht bald hunderten von Schülerinnen, die ihr Kopftuch nicht abnehmen wollen, der Schulausschluss.« (TAZ)
Mit anderen Worten, der einen Diskriminierung würde eine noch viel gravierendere folgen, die Jugendliche aus dem öffentlichen Bildungssystem ausschließt. Der Streit über den Islam ist nur vordergründig ein Religionsstreit. Islamfeindlichkeit wurde von Politik und Medien seit langem systematisch geschürt. Sie dient wie jede Spielart von Rassismus als politisches Unterdrückungssystem und zur Spaltung, zur Entsolidarisierung in der Arbeiterbewegung gerade in der Krise und angesichts der immer schärferen Versuche, diese auf uns abzuwälzen.
Auf dem Boden gesellschaftsfähiger Islamfeindlichkeit gründen sich jetzt offen rassistische Parteien wie »Pro Deutschland«, »Pro NRW«, »Pro Berlin« mit Nazidrahtziehern, um gegen die »Islamisierung Europas« und das »Multikulti-Elend«, das die Linke (!) zu verantworten habe, zu kämpfen. All das zeigt, wie notwendig es ist, der Islamfeindlichkeit keinen Fußbreit zu lassen. Das erste Urteil im Rechtsstreit über das islamische Gebet an der Schule ist deshalb zu begrüßen. Es geht von der grundgesetzlich verbrieften Religionsfreiheit und dem Recht auf ungestörte Religionsausübung aus. In anderen Ländern wie den USA, Großbritannien oder Australien ist die Einrichtung von Gebetsräumen für Muslime oder andere Konfessionen zum Beispiel an Universitäten nichts Ungewöhnliches. Unis werben sogar gezielt religiöse Studenten damit an, um ihre Studierendenzahl zu erhöhen. Der Schüler Yunus sollte von Linken unterstützt werden, wenn er die nächsten Gerichtsinstanzen anruft.
Über die Autorin:
Rosemarie Nünning ist aktiv in der Partei Die LINKE in Berlin-Neukölln