Die Massenbewegung gegen Mubaraks Regime bringt neue politische Organisationen hervor. Aktivisten aus verschiedenen Lagern bereiten die Gründung einer neuen Arbeiterpartei vor. Im letzten Teil seines Internettagebuchs berichtet Philip Bethge von den Plänen der ägyptischen Linken
Sa, 26.02.11: Um 10.00 Uhr sind schon rund 1000 Leute auf dem Tahrir Platz. Die Hälfte war die ganze Nacht dort, und manche schlafen noch in improvisierten Zelten. In vielen Ecken diskutieren Gruppen darüber, wie es weitergehen soll. Ich suche Suzanne, aber sie ist nirgends zu sehen.
Nachdem ich ein bisschen fotografiert habe, gehe ich zum Internetcafé. Unter meinen E-Mails sehe ich einen Bericht von einer Genossin aus Berlin, dass gestern Nacht Sondertruppen die Demonstranten angegriffen haben. Ich gehe schnell zum Tahrir-Platz zurück.
Elektroschocks im Ägyptischen Museum
Suzanne ist immer noch nicht zu sehen – ich höre später, dass mehrere Leute verhaftet worden sind, und ich kann mir gut vorstellen, dass Suzanne dabei war. Statt dessen treffe ich Mona. Ihre Stimme ist noch heiser, aber sie will unbedingt mit mir sprechen. Mona hat auch auf dem Tahrir-Platz geschlafen und war dort, als die Soldaten kamen. Sie waren vermummt und haben mit Gewalt versucht, den Platz zu räumen. Wie nach dem 28. Januar sind die Verhafteten zum Ägyptischen Museum mitgenommen worden, und es gibt wieder Gerüchte, dass sie gefoltert werden. Später treffe ich einen Arzt, der selbst nicht anwesend war, aber gehört hat, dass die Soldaten Elektroschocks einsetzen.
Die Geschichten sind schrecklich, aber sie haben zwei Folgen. Erstens sind die Proteste militanter geworden. Die Demonstranten – immer noch viele Familien darunter – besetzen den Platz den ganzen Tag und ich höre ihre lauten Parolen immer noch, als ich spät abends zum Flughafen gehen muss. Zweitens ist es einigen Leuten deutlicher geworden, dass die Rolle der Armee widersprüchlich ist. Die einfachen Soldaten mischen sich immer noch unter die Leute – deswegen wurde wohl eine Sondereinheit eingesetzt -, aber der Militärrat ist offensichtlich bereit, mit Gewalt gegen Demonstranten vorzugehen. Und dieser Rat hat immer noch die Macht im neuen Ägypten.
Sozialistische Aktivisten
Ich pendele den ganzen Tag zwischen der Demonstration, die im Laufe des Tages immer größer wird, und dem Internetcafé hin und her, bis mein Handy klingelt. Ich habe die ganze Woche gehofft, dass ich auch sozialistische Aktivisten treffen würde, aber sie waren selbstverständlich sehr beschäftigt. Aber jetzt hat Mohamed Waked ein bisschen Zeit. In der halben Stunde, die wir reden können, bekomme ich viele Hintergrundinformationen zu meinen Erfahrungen der letzten Woche.
Monas Demonstration am Dienstag hat doch stattgefunden. Es haben aber nur etwa 6000 Leute teilgenommen – winzig klein neben den Massenmobilisierungen auf dem Tahrir-Platz. Mohamed versteht den Frust derer, die demonstriert haben, findet sie aber auch vorschnell – um Ägypten zu verändern, muss man Massen mobilisieren, meint er. Genauso findet er, dass die Besetzung des Tahrir-Platzes gestern Abend zu isoliert von der Massenbewegung war. Wir werden noch sehen, inwieweit diese permanente Aktion erweitert werden kann.
Minderheit und Mehrheit
Mohamed bestätigt meinen Eindruck, dass es eine Kluft gibt zwischen der Minderheit von Aktivisten, welche die Revolution sofort weiterführen wollen, und den Millionen, die tendenziell bereit sind, ein bisschen abzuwarten. Die Minderheit misstraut dem Militärrat, sieht, dass bisher fast keine Reformen umgesetzt worden sind, und versucht, weiter zu kämpfen, am besten gemeinsam mit der Arbeiterbewegung. Die Massen werden weiterhin jeden Freitag demonstrieren, aber Aktionen wie die Demo letzten Dienstag und die Besetzung des Tahrir-Platzes beziehen zurzeit zu wenige Leute ein.
Entscheidend ist, mehr Leute für die militanten Aktionen zu gewinnen. Hier hat Mohammed gute Nachrichten. In zwei Wochen soll eine neue Arbeiterpartei gegründet worden. Diese Partei wird hoffentlich drei Strömungen zusammenbringen – erstens Sozialisten und Gewerkschafter, zweitens radikale Jugendliche, die in den Räten für die Verteidigung der Revolution von 25. Januar aktiv sind und drittens den linken Flügel der Liberalen.
Räte zur Verteidigung der Revolution
Mohamed erzählt mehr über die Räte zur Verteidigung der Revolution. Es gibt etwa 20 solcher Räte, organisiert nach Bezirk, die sich miteinander koordinieren. Jede Gruppe hat zwischen 20 und 200 aktive Unterstützer, und die Vorgehensweise ist oft von anarchistischen Ideen geprägt, aber die neuen Aktivisten haben – wie viele Ägypter – wenig genaue politische Vorstellungen.
So ist es auch mit den Liberalen. Das Bild, das Mohamed zeichnet, deckt sich mit einigen meiner Erfahrungen von unseren verschiedenen Treffen mit El-Baradei-Unterstützerinnen und -Unterstützern in Kairo und Mahalla. Es gibt unter ihnen gewisse Übereinstimmungen: Die meisten sind jung, stammen eher aus den Mittelschichten und oft erst kürzlich politisch aktiv geworden. Sie sind überwiegend für einen säkularen Staat – auch wenn viele gläubig sind.
In anderen Fragen sind sie aber sehr verschiedener Meinung: Manche wollen eine bürgerliche Demokratie und haben Illusionen, dass die USA eine progressive Rolle spielen können. Im Gegensatz, sagt Mohamed, zur Muslimbruderschaft, die – trotz aller anderen politischen Defizite konsequent antiimperialistisch ist. Andere tendieren zu sozialistischen Ideen, oder etwas Ähnlichem, und können für linke Ideen gewonnen werden, wenn es eine relevante Organisation gibt – möglicherweise wie die neue Arbeiterpartei.
Solidarität aus Deutschland
Ich frage Mohamed, was die Deutschen für die ägyptische Revolution tun können. Ich erzähle, dass viele fragen, ob sie Geld sammeln sollen. Mohamed meint, zu diesem Zeitpunkt eher nicht. Es ist nicht nur illegal, Geld nach Ägypten zu schicken, wenn man nicht zufällig eine Regierung ist, es gab außerdem genug westliche Unterstützung für Mubarak und Konsorten, und jeder angeblich vom Westen finanzierten Organisation würden die meisten Ägypter sehr misstrauen.
Nichts desto trotz gibt es viele Möglichkeiten, um Solidarität zu leisten. Erstens können ägyptische Aktivisten nach Deutschland eingeladen werden, um über ihre revolutionären Erfahrungen zu berichten. Zweitens würden ägyptische Aktivisten es sehr begrüßen, wenn Delegationen, besonders von Gewerkschaftern, nach Ägypten reisen. Wer in der Lage ist, Einladungen oder Delegationen zu organisieren, und Kontakt mit Mohamed oder anderen Aktivisten, die wir getroffen haben, aufnehmen möchte, kann die Kontaktdetails gern von mir über redaktion@marx21.de bekommen.
Die Dynamik bleibt
Nachdem Mohamed sich verabschiedet hat, gehe ich zur Demonstration zurück, und nachdem ich mich von Nivin verabschiedet habe, fahre ich zum Flughafen. Es waren tolle 10 Tage, aber jetzt will ich zurück nach Deutschland, um die Erfahrungen im revolutionären Ägypten weiter zu verbreiten. Der erste Termin bei der LINKEN in Darmstadt am Donnerstag steht bereits fest. Wer sonst von mir oder Steffi hören will, kann uns gerne kontaktieren. Ich glaube auch, dass ich zu einem guten Zeitpunkt gehe. Vor ein paar Tagen war mir noch nicht klar, ob die Revolution ihre Dynamik behalten würde, aber die Aktionen vom Wochenende und die Nachrichten über die neue Partei zeigen mir, dass sie nicht vorbei ist. Die Ägypter beobachten auch, was in ihren Nachbarländern stattfindet – besonders in Libyen, dessen Bewegung gegen Gaddafi hier volle Unterstützung genießt.
Zu sagen, dass die Revolution nicht vorbei ist, bedeutet aber auch, dass viele Fragen noch ungelöst sind. Das Maß, in dem der Militärrat seine Macht behalten kann, die Frage, ob eine bürgerliche Revolution mit reinem Regierungswechsel ausreicht, die Möglichkeit einer Umverteilung des Reichtums in Ägypten und anderen Ländern bleiben offen. Aber die ägyptische Bewegung kämpft weiter, und überall auf der Welt werden Menschen durch ihre Erfahrung viel lernen.
Zur Person:
Philip Bethge ist wieder in Deutschland und steht für Berichte und Veranstaltungen zur Verfügung. Wer ihn auch einladen möchte, kann per E-Mail an redaktion@marx21.de mit ihm in Kontakt treten.
Mehr zum Thema:
Der »MARX IS MUSS«-Kongress Anfang Juni eröffnet mit einem Podium über die Lehren von Ägypten mit Prof. Werner Ruf, der in Ramallah lebenden niederländischen Sozialistin Mona Dohle und hoffentlich dem ägyptischen linken Blogger Hossam el-Hamalawy.
Mehr auf marx21.de:
- Internettagebuch »E-Mail aus Kairo«: #1 Ägypter feiern die Befreiung (18.02.11) – #2 Die Angst vor den Neuwahlen (19.02.11) – #3 Erfolgreicher Streik in Mahalla (20.02.11) – #4 Vereint und doch verschieden (21.02.11) – #5 Ägypter wollen Gerechtigkeit (22.02.11) – #6 Der Alltag hat sich verändert (23.02.11) – #7 Illusionen in Europa (24.02.11) – #8 Alle sollen gehen (25.02.11)