Mubaraks Strategie die Revolte der Ägypter zu spalten und zu diskreditieren scheint gescheitert. Die Tatsache, dass Mubarak gezwungen ist, sich auf eine Armee zu stützen, deren Loyalität er sich nicht mehr sicher sein kann, ist ein Anzeichen für die tiefgehenden Veränderungen in der ägyptischen Gesellschaft seit den Massenprotesten. Von Lee Sustar
Die ägyptische Politik steht auf Messers Schneide. Der Volksaufstand dort hat die Frage der Revolution in den Mittelpunkt der Weltpolitik gerückt. In der Morgendämmerung über Kairo mischten sich tausende Demonstranten mit Panzern und Panzerfahrzeugen der Streitkräfte auf dem Tahrirplatz. Die Frage ist, ob die Soldaten für die Forderungen der Demonstranten nach Absetzung von Präsident Hosni Mubarak gewonnen werden, oder die Befehle des Diktators befolgen und einen breiten Volksaufstand unterdrücken.
Die Tatsache, dass Mubarak gezwungen ist, sich auf eine Armee zu stützen, deren Loyalität er sich nicht sicher sein kann, ist ein Anzeichen für die tiefgehenden Veränderungen in der ägyptischen Gesellschaft seit den Massenprotesten vom 25. Januar. Plötzlich steht einer der am meisten gefürchteten und effektivsten Polizeistaaten der Welt vor dem Zusammenbruch, weil Millionen nicht mehr bereit sind, sich einschüchtern zu lassen, und überall im Land auf die Straßen gehen.
Die Arbeiterklasse könnte ihre gesellschaftliche Macht schon bald zeigen, wenn der Aufruf zu einem Generalstreik am Dienstag sich trotz der Abschaltung des Internets und der Telefonnetze verbreitet.
Die Dynamik des ägyptischen Aufstands folgt klassischen revolutionären Bewegungen des 20. Jahrhunderts. Arbeitende Menschen halten Angriffen brutaler Sicherheitskräfte stand und pochen weiterhin auf ihre Rechte und – wie so viele auf den Straßen Reportern erzählt haben – auf ihre Würde.
Außerhalb der Massenmobilisierungen auf dem Tahrirplatz haben Arbeiter und Arbeiterinnen sich in Alexandria und Suez Schlachten mit der Polizei geliefert und gewonnen. Inn Kairo selbst haben Demonstranten die politische Zentrale des Regimes, das Gebäude der herrschenden Nationaldemokratischen Partei Mubaraks, in Brand gesetzt.
Jetzt ist die wichtigste Frage, wie sich die Streitkräfte verhalten werden. Dass die Armee noch keine Entscheidung getroffen hat, zeigte sich auf dem Tahrirplatzam Sonntag, als in den USA gebaute Kampfflugzeuge bedrohlich über die Köpfe von zehntausenden Demonstranten auf dem Platz hinwegflogen. Panzer und andere Armeefahrzeuge bezogen Stellung an wichtigen Zugangspunkten zum Tahrirplatz, so al-Dschasira.
Gleichzeitig jedoch verbrüderten sich Demonstranten weiterhin mit Soldaten, und etliche Panzerkommandanten unternahmen nicht dagegen, dass Graffiti gegen Mubarak und andere Zeichen auf ihre Panzer gesprüht wurden oder diese sogar als Plattform für Reden an die Menge benutzt wurden.
Trotzdem ist die wachsende Präsenz der Armee ein Zeichen dafür, dass Mubarak und seine neu besetzte Führung auf die Armee als letztes Bollwerk zum Machterhalt setzen – wenn auch vielleicht nicht, um Mubarak im Amt zu halten, so doch, um seinen Staatsapparat so weit wie möglich zu retten angesichts des großen Aufschwungs, den die Bewegung seit den Protesten vom 25. Januar genommen hat. Als die Unterdrückung durch die Polizei, die auch scharfe Munition benutzte und über 100 Menschen erschoss, die Demonstranten nicht aufhalten konnte, zog das Regime sie von den Straßen ab und ließ sie anscheinend als Plünderer von der Leine. Zur Verteidigung gebildete Nachbarschaftskomitees berichteten, dass sie Diebe ergriffen haben, die Polizeiausweise mit sich trugen.
Die Strategie des Regimes bestand offenbar darin, die Spannungen zu verschärfen und der Armee einen Vorwand zu liefern, die Rolle des patriotischen Retters der Nation vor dem Chaos zu spielen.
Statt jedoch die Bevölkerung einzuschüchtern, bildete sie Nachbarschaftskomitees gegen das staatlich geförderte Plündern, richtete Kontrollpunkte ein und nahm Diebe fest. Das an sich ist ein Zeichen für das Selbstbewusstsein und die Weiterentwicklung der Rebellion. Wenn Mubarak immer noch an der Macht festhält, dann unter anderem deswegen, weil die US-amerikanische Regierung ihn seit Jahrzehnten unterstützt hat und nur zahme Kritik äußerte, selbst jetzt noch, wo der Aufstand auf den Straßen Ägyptens ausgebrochen ist.
Der stellvertretende Präsident Joe Biden gab den Ton vor, als er sich am 27. Januar bei einem Fernsehinterview weigerte zuzugeben, dass Mubarak ein Diktator ist. In gequälten Stellungnahmen fordern Präsident Barack Obama und Außenministerin Hillary Clinton demokratische Reformen, jedoch nur, um eine Revolution zu verhindern, die ihren wichtigsten Helferstaat im Nahen Osten hinwegfegen könnte. Wie Mubarak will Obama die Führung der Armee und die politische Elite möglichst an der Macht behalten. Schließlich hat Ägypten einen Friedensvertrag mit Israel geschlossen, dem Hauptverbündeten der Region, und ist Israels faktischer Verbündeter, die Palästinenser im Gazastreifen auf Hungerration zu halten. Der Verlust Ägyptens als Verbündeter könnte unkalkulierbare, negative Folgen haben auf die Außenpolitik der USA im Nahen Osten und darüber hinaus.
Die USA scheinen zu dem Ergebnis gekommen zu sein, dass Mubarak nicht unbeschränkt an der Macht zu halten ist. Statt ihn jedoch durch einen Volksaufstand hinweggefegt zu sehen, möchte Washington einen geordneteren Übergang. Der Ruf der britischen, französischen und deutschen Regierungen nach freien Wahlen in Ägypten war ein Zeichen dafür, dass andere westliche Regierungen versuchen, auf der Seite einer künftigen Regierung zu stehen. Da die europäischen Mächte weniger enge Bindungen an Mubaraks Clique haben als die USA, sind sie bereit, auf ein anderes Regime zu setzen.
Angesichts der in Bewegung gekommenen westlichen Außenpolitik hat sich Mohammed El Baradei als Kopf der Opposition angeboten. El Baradei, ehemaliger Chefinspektor der UN-Atombehörde, war Kritiker Mubaraks und wurde als möglicher Kandidat für die kommenden Präsidentenwahlen betrachtet. Es hat jedoch kaum noch eine Basis, da er in Wien gelebt hat und recht spät nach Ägypten geflogen ist, um sich den Protesten anzuschließen. El Baradei hat an Ansehen gewonnen, weil er unter Hausarrest gestellt wurde. Als Zeichen dafür, dass einige Leute in der Armee, oder in Washington, bereit sind, ihn als gemäßigte Figur zu benutzten, die die revolutionären Energien in eine sicherere Richtung lenkt, durfte er am 30. Januar zum Tahrirplatz gehen. Dort verkündete er, dass er bereit sei, sich an die Spitze einer Übergangsregierung zu stellen – und die beiden liberalen Parteien ebenso wie die Muslimbrüder erklärten sich zur Unterstützung von El Baradeis Bemühungen bereit.
Für die USA ist die Beteiligung der Muslimbruderschaft, die lange Zeit vom Regime unterdrückt und unter dem Deckmantel des US-amerikanischen „Kriegs gegen den Terror“ verteufelt wurde, das kleinere Übel verglichen mit einer Revolution, die Ägyptens nationalen Sicherheitsapparat hinwegfegen könnte.
Die Muslimbrüder sind faktisch eine konservative Mittelschichtbewegung, die sich der jetzigen Rebellion zunächst nicht anschloss, bis der Druck der Ereignisse sie dazu zwang. Statt sich gegen Mubaraks Staat zu stellen, hat die Muslimbruderschaft versucht, mit Berufs- und Wohltätigkeitsorganisationen zu einer Institution zu werden. Obwohl sie nicht offen auftreten darf, hatte sie bis zum letzten Jahr, als die Wahlen schlimmer als bisher gefälscht wurden, einige Parlamentsabgeordnete. Da die USA bisher kaum Druck auf Mubarak ausüben, versucht Mubarak sich zu retten, indem der Omar Suleiman als Teil einer größeren Regierungsumbildung zum Stellvertreter ernannt hat, den Spionagechef des Landes und ehemaligen General. Das Amt des Vizepräsidenten war seit 30 Jahren unbesetzt. Indem Mubarak jemanden ausgewählt hat, der so eng mit dem Regime identifiziert wird, und da er bisher nicht das geringste Zugeständnis für politische Reformen und freie Wahlen gemacht hat, hat er lediglich dafür gesorgt, dass die Demonstranten jetzt auch nach der Absetzung Suleimans rufen.
Mubarak versucht auch einen Klassenkeil in die Protestbewegung zu treiben, die bisher ein breites Spektrum der ägyptischen Gesellschaft umfasst, fast jeden außer den Superreichen, die unmittelbar von dem Regime profitiert haben.
In öffentlichen Ankündigung am 30. Januar forderte Mubarak die Schaffung von Arbeitsplätzen und die weitere staatliche Subventionierung der Lebensmittelpreise. Mit diesen Wirtschaftsinititativen versucht er an die Armen und die Arbeiterklasse zu appellieren und sie von den Mittelschichtführern der Demokratiebewegung zu trennen. Da fast die Hälfte der ägyptischen Bevölkerung von 80 Millionen mit weniger als 2 US-Dollar auskommen muss, hofft das Regime verzweifelt, der Revolution mit etwas mehr Brot zuvorzukommen.
Aber dafür ist es zu spät. Wie bei dem Aufstand in Tunesien, der den Anstoß für Ägyptens eigene Revolution gab, ist die wirtschaftliche Lage ein Motor der Bewegung. Durch inflationäre Lebensmittelpreise sind Arbeiterinnen und Arbeiter und die Armen von Unterernährung bedroht, während die Reichen Ägyptens einen Luxus wie die Elite in vielen westlichen Ländern genießen. Wichtiger noch ist, dass es in der ägyptischen Arbeiterklasse in den vergangenen fünf Jahren zur Wiederbelebung von Kämpfen gekommen ist mit mehreren erfolgreichen Streiks, vor allem in der Textilindustrie der Stadt Mahalla. Diese wirtschaftlichen Kämpfe haben die Voraussetzung für die politischen Proteste geschaffen, die am 25. Januar ausbrachen.
Jetzt stellt sich die Frage, ob der politische Kampf für Demokratie und für die Absetzung Mubaraks zurückfließen wird in die ökonomischen Forderungen der Arbeiterklasse. Darin besteht die Perspektive der sozialistischen Aktivisten, die versucht haben, Verbindungen zur neuen Arbeiter- und Demokratiebewegung zu knüpfen, die schon vor dem tunesischen Aufstand von Reformern aus der Mittelschicht mit einer schmalen sozialen Basis angeführt worden waren.
Die Demokratiebewegung hat sich in einen riesigen Kampf der Bevölkerung entwickelt. Aber es erfordert das gesellschaftliche Gewicht und die politische Organisation der Arbeiterklasse, nicht nur dafür zu sorgen, dass Mubarak sich nicht mehr halten kann, sondern auch den Kampf gegen Kumpanei und korrupte Unternehmenspolitik weiterzuführen, die das Herz seines Regimes bilden. Der Sturz eines verhassten Diktators wäre ohne Zweifel ein fantastischer Erfolg der ägyptischen Arbeiterklasse. Aber die Transformation der miserablen Bedingungen der ägyptischen Arbeiter und Arbeiterinnen und das Hinwegfegen der herrschenden Klasse, die Mubarak geschaffen und geschützt hat, wird einen fortgesetzten Kampf und das Neuerstehen unabhängiger Organisationen der Arbeiterklasse und unabhängiger Politik erfordern.
Kurzfristig muss die Bewegung einen Appell an die Soldaten auf der Basis der Solidarität innerhalb der Arbeiterklasse richten, um die drohende Unterdrückung zu neutralisieren. Der russische Revolutionär Leo Trotzki schrieb: „Das Heer ist ein Abbild der Gesellschaft und leidet an all ihren Krankheiten, meistens mit erhöhter Temperatur.“ Die Kommandohierarchie in der kapitalistischen Gesellschaft spiegelt sich in zugespitzter Form in ihren Streitkräften. Die Offizierskaste hält engen Kontakt zu den Kapitalisten. Aber selbst bei einem isolierten Regime wie dem Mubaraks gibt es keine Garantie dafür, dass die einfachen Soldaten das Risiko eingehen, die Befehle ihrer Offiziere zu missachten und den Schießbefehl zu verweigern. Sie müssen sich sicher sein, dass die Revolution einen Platz für sie bereit hält und dass sie Erfolg haben kann. Deshalb müssen die Appelle organisiert werden.
Die Demonstration von Arbeitermacht in Form eines Generalstreiks würde natürlich dem Bestreben, die Soldaten zu gewinnen, deutlich mehr Gewicht verleihen. Was jetzt geschieht, hängt von der ägyptischen Arbeiterklasse ab. Durch ihren Mut und ihr Handeln hat sie bereits einen besonders hässlichen autoritären Staat erschüttert und den Imperialismus der USA im Nahen Osten destabilisiert. Ihre Aktionen werden ein Antrieb für künftige Kämpfe sein.
Zum Text: Der Text erschien zuerst auf socialistworker.org. Übersetzung ins Deutsche Rosemarie Nünning.
Mehr auf marx21.de:
Ägypten
- Revolte in Ägypten: Das »Modell Tunesien« macht Schule. Siîan Ruddick über die neue Etappe im Aufstand gegen die Diktatoren Nordafrikas und des Nahen Ostens.
- »Mubarak, dein Flugzeug wartet«: Während in Ägypten Massen gegen die Diktatur revoltieren, fanden am 28. Januar 2011 in Berlin und Frankfurt am Main Solidaritätskundgebungen mit der aufständischen Bevölkerung statt. Frank Eßers war in Berlin dabei. Ein Bericht mit Fotos
Ägypten – ältere Artikel
- Ägypten: Mubaraks Bumerang – Der ägyptische Gewerkschaftsaktivist Saber Barakat und der Globalisierungskritiker Mamdouh Habashi berichteten Ende Juni 2008 auf einer Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin über »steigende Brotpreise und Arbeiterproteste in Ägypten« (Artikel vom 14. Juli 2008)
- Ägypten: »Frauen führten die Streiks der Männer an« – Im Sommer 2007 rollte eine Streikwelle durch das Nildelta. Der ägyptische Sozialist Sameh Naguib über die Streikbewegung unter Mubaraks Diktatur, ihre politischen Hintergründe und die millionenstarke Muslimbruderschaft (Artikel vom 9. November 2007)
- Ägypten: »Mutiger als hundert Mann« – Der Widerstand gegen die neoliberale Politik der ägyptischen Regierung entwickelte sich zu einer Streikwelle, an der sich tausende Arbeiterinnen und Arbeiter beteiligten. Anne Alexander beschreibt die entscheidende Rolle von Frauen in diesem Kampf. (Artikel vom 8. März 2008)
- Fotofeature: Massenproteste in Ägypten im April 2008 (zum Start der Bilderserie das oberste Vorschaubild anklicken)