Die USA bauen ein Bündnis auf, um dem Vormarsch der Terrorgruppe Islamischer Staat zu bremsen. Doch wird eine Militärintervention den Menschen im Irak wirklich helfen? Wir beantworten die wichtigsten Fragen zum Konflikt.
Der Bundestag hat die Entsendung von Waffen nach Irak beschlossen. Was steckt dahinter?
Die Bundesregierung hat die Bilder der dramatischen Flucht der Jesiden vor den Truppen des „Islamischen Staats“ im nordirakischen Sindschar-Gebirge genutzt, um Waffenlieferungen an die kurdische Regionalregierung im Nord-Irak zu rechtfertigen. Kanzlerin Angela Merkel sprach von einem „Völkermord“, den es abzuwenden gelte. Doch die Jesiden haben nichts davon. Die deutschen Waffen, darunter drahtgesteuerte Boden-Boden-Panzerabwehrlenkwaffen vom Typ Milan, 8.000 Sturmgewehre G36 sowie 10.000 Handgranaten, werden erst Wochen nach dem Ende des Fluchtdramas der Jesiden im Nord-Irak ankommen.
Die Waffen erreichen auch die Falschen. Sie gehen an die Peschmerga, die Armee der kurdischen Regionalregierung. Doch sie sind nicht jene, die geholfen haben. Ihre Kampfbereitschaft für die Jesiden, die im kurdischen Teil wie überall im Irak diskriminiert werden, ist gering. Als der „Islamische Staat“ Anfang August die Jesiden angriff, flohen die vor Ort stationierten Peschmerga Hals über Kopf. Verantwortliche Funktionäre der dort herrschenden Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) hatten es sogar versäumt, die jesidische Bevölkerung zu warnen, bevor sie selbst in der Nacht getürmt sind. Das hat viele Menschen das Leben gekostet.
Worum es der Bundesregierung tatsächlich ging, verdeutlichte Verteidigungsministerin von der Leyen in einem Interview mit der „Zeit“. Sie sagte: „Wichtiger als die Frage, ob und welche Waffe wir am Ende liefern, ist die Bereitschaft, Tabus beiseite zu legen und offen zu diskutieren. An dieser Stelle sind wir gerade.“
Das Tabu, dass von der Leyen meint, heißt: offene Intervention Deutschlands in einen laufenden Krieg mittels Waffenlieferungen. Bislang hat die Bundesregierung Israel gegen die Palästinenser, und in den 90er Jahren die Türkei gegen die Kurden militärisch unterstützt. Doch die Beteiligung im Irak ist viel offener, direkter und geschieht im Kontext eines amerikanischen Luftkrieges. Von der Leyen schloss im selben Interview denn auch Waffenlieferungen an die Ukraine nicht mehr grundsätzlich aus.
Sehr kalkuliert hat von der Leyen zunächst die Entsendung von humanitären Hilfslieferungen nach Nord-Irak mit Militärtransportern in Szene gesetzt. Kurze Zeit später wurde daraus „nicht-letale militärische Hilfe“ wie Schutzwesten und Nachtsichtgeräte, schließlich lieferte Berlin Panzerfäuste und Handgranaten. So sollte die Mehrheit in der Bevölkerung, die Auslandseinsätzen und Waffenexporten kritisch gegenüber steht, Schritt für Schritt an die neue Situation gewöhnt werden.
Was kommt nach den Waffenlieferungen?
Es ist naiv zu glauben, die deutsche Beteiligung am Krieg im Irak werde bei dieser Waffenlieferung Halt machen. Denn jede militärische Intervention hat ihre eigene Logik. Zur Verteilung der deutschen Waffen wurden vorab sechs Bundeswehrsoldaten nach Irakisch-Kurdistan geschickt. Als nächstes beschloss das Merkel-Kabinett die Entsendung von 40 deutschen Fallschirmjägern, um kurdische Soldaten an den gelieferten deutschen Waffen auszubilden. Es dauerte nicht lang, da kam Philipp Mißfelder als außenpolitischer Sprecher der CDU/CSU aus der Deckung und brachte die direkte Beteiligung der Bundeswehr am US-geführten Kampfeinsatz ins Spiel.
Die Bundesregierung selbst betont, dass die deutsche Waffenlieferung mit mehr als einem Dutzend Partnerländern abgestimmt sei, darunter Frankreich und die USA. Zudem bombardieren US-amerikanische Kampfflugzeuge und Kampfdrohnen seit dem 8. August feindliche Stellungen im ganzen Land. Zur Unterstützung haben die USA mittlerweile eine internationale Koalition von 29 Staaten organisiert. Es geht um ein Gesamtpaket, mit dem der Westen im Irak interveniert. Es geht um die Zurückgewinnung von Einfluss, den die USA und ihre Verbündeten nach dem Rückzug aus dem Irak 2011 verloren haben.
Die Entscheidung, mit Waffen am Irak-Konflikt teilzunehmen, verstrickt die Bundesrepublik Deutschland in den nächsten Nahostkrieg – mit unabsehbaren Folgen. Deshalb ist es richtig, dass DIE LINKE den Waffenexport abgelehnt hat.
Aber ist es nicht grundsätzlich richtig, dass die Bundesregierung die Kurden gegen den „Islamischen Staat“ unterstützt?
Die Kurden bilden in den Ländern Türkei, Irak, Iran und Syrien jeweils eine große nationale Minderheit. In allen diesen Ländern werden sie diskriminiert, und manchmal wurden sie brutaler Verfolgung ausgesetzt. Deshalb sollten Linke und Sozialisten das Recht der Kurden auf nationale Selbstbestimmung und einen eigenen Staat unterstützen. Doch genau das hat Außenminister Steinmeier explizit ausgeschlossen. Die Bundesregierung weigert sich auch, das Verbot der Kurdischen Arbeiterpartei PKK aufzuheben. Dies, obgleich es die mit der PKK verbündeten syrisch-kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) waren, die viele der belagerten Jesiden aus dem Sindschar-Gebirge gerettet haben.
Seit jeher ist die Unterstützung der Bundesregierung für die Kurden heuchlerisch. Im Jahr 1988 ließ der irakische Diktator Saddam Hussein die kurdische Stadt Halabdscha mit Giftgas angreifen, das mit Hilfe deutscher Firmen hergestellt worden war. Dem Angriff fielen bis zu 5000 Kurden zum Opfer. Damals sprach niemand der westlichen Regierungschefs von einem Völkermord. Denn der Angriff richtete sich zugleich gegen eine kurdische Peschmerga-Miliz, die die Stadt am Vortag erobert hatte. Anders als heute galten die Peschmerga als Gegner des Westens. Sie kämpften auf Seiten des Iran gegen das irakische Regime, das damals die Unterstützung der USA genoss.
Wenn es die Bundesregierung ernst meinen würde mit der Unterstützung der Unterdrückten in der Region, dann würde sie den Jesiden großzügig Asyl gewähren und das Verbot der PKK aufheben. Doch das passiert nicht. Stattdessen unterstützt sie die kurdische Regionalregierung im Nordirak gerade so, dass es ausreicht, den Vormarsch ihrer sunnitischen Gegner einzudämmen. Dadurch soll verhindert werden, dass ein Gebiet entsteht, das sich jeder Kontrolle durch den Westen entzieht. Denn unter dem Boden des Iraks lagern die zweitgrößten Erdölreserven der Welt, um die Staaten und Unternehmen wetteifern. Der ehemalige irakische Ministerpräsident Nuri al-Maliki führte jahrelang harte Verhandlungen mit Ölmultis wie der US-amerikanischen ExxonMobil, der britisch-niederländischen Royal Dutch Shell, der französischen Total, der russischen Gazprom und der chinesischen Sinopec. Seit 2009 wurden viele Lizenzen vergeben, so dass die Erdölförderung bei 3,6 Millionen Barrel pro Tag liegt. Das sind fast 50 Prozent mehr als vor vier Jahren und auch mehr als unter dem Saddam-Regime.
Dieser Wettlauf um das Öl erklärt, warum sich so viele Staaten im Irak militärisch engagieren. Um die Rechte der Kurden geht es dabei nicht. Es wäre eine Tragödie, wenn sich der kurdische Befreiungskampf – in der Hoffnung auf Waffen und Gelder – zu einer Marionette des Westens machen ließe. Die Erfahrungen im Kosovo zeigen, wohin das führt: Die unterdrückten Albaner stellten im zerfallenen Jugoslawien mit der UCK eine eigene Miliz, die mit Unterstützung der NATO für ein eigenständiges Kosovo kämpfte. Sie hatten zwar Erfolg. Doch anstatt eines freien Landes entstand im Kosovo ein rassistisches EU-Protektorat, in dem Serben ausgegrenzt und Tausende Roma vertrieben wurden.
Aber die Kurden haben doch Waffen gefordert, wie kann man dann gegen Waffenlieferungen sein?
Tatsächlich haben weder die PKK noch die in Syrien gegen den Islamischen Staat kämpfenden kurdischen YPG eine Anfrage an die Bundesregierung mit der Bitte um Waffen gerichtet, sondern die im nordirakischen Erbil sitzende kurdische Regionalregierung. Deren Präsident Masud Barsani hat eine lange Geschichte der Kooperation mit den USA und den Regierungen der Nachbarländer. Seit den 1980er Jahren hat er als Vorsitzender der KDP abwechselnd Bündnisse mit der Türkei oder dem Iran gesucht, obgleich diese ihrerseits Kurden unterdrücken.
In den letzten Monaten hat Barsani die Kooperation mit Ankara verstärkt. So schloss seine Regionalregierung im Frühjahr einen milliardenschweren Deal mit der türkischen Regierung ab. Dieser sieht türkische Investitionen in die Exploration von sechs potenziellen kurdischen Erdölfeldern und den Import von jährlich zehn Milliarden Kubikmeter Erdgas aus Kurdistan vor. Die US-amerikanische Regierung unterstützte Barsani und übte diplomatischen Druck auf die Zentralregierung in Bagdad aus, diesen Deal zu akzeptieren.
Doch die Zusammenarbeit mit der Türkei hat ihren Preis. Als Zeichen des guten Willens gegenüber der Erdogan-Regierung ergriff Barsani Maßnahmen, die die Wirtschaft des benachbarten kurdischen Teils in Syrien treffen sollten. Die türkische Regierung will dieses Rückzugsgebiet der PKK schwächen, das infolge der Revolution gegen das syrische Assad-Regime de facto unabhängig geworden ist.
So ließ Barsanis Regionalregierung einen drei Meter breiten und zwei Meter tiefen Graben an der Grenze zu Syrisch-Kurdistan ziehen. Eine provisorische Brücke zwischen den kurdischen Gebieten westlich und östlich der Grenze wurde demontiert. Betroffen waren hauptsächlich jene Kurden, die vom Handel über die Grenze abhängig sind. Es kam zu Protesten, die Peschmerga mit Waffengewalt beantworteten und die Menschenleben kosteten.
Die gegenwärtige westliche Intervention unterscheidet zwischen vermeintlich guten und schlechten Kurden. Willfährigen Parteien werden Waffen geliefert, andere werden als terroristisch eingestuft. Hier ist bereits eine Teile-und-Herrsche-Politik angelegt, die die kurdischen Parteien, die momentan unter dem Druck des gemeinsamen Feindes gemeinsam kämpfen, am Ende gegeneinander ausspielen soll.
Ein unabhängiger kurdischer Staat wird nicht mit Unterstützung westlicher Regierungen oder durch US-Luftangriffe entstehen. Die herrschende Klasse in Irakisch-Kurdistan um Barsani hingegen setzt auf ein solches Bündnis. Ein unabhängiges und überlebensfähiges Kurdistan kann nur entstehen, wenn es innerhalb der kurdischen Gesellschaft zu Solidarisierungen über Staatengrenzen hinweg kommt. Diese zu unterstützen ist eine politische Aufgabe der Linken weltweit.
Wie ist der „Islamische Staat“ entstanden?
Vor einem Jahr kannte kein Mensch den Islamischen Staat. Heute kontrolliert die Gruppe große Gebiete im Irak und Syrien. Das lässt sich nicht mit dem bloßen Verweis auf deren abstoßende Brutalität erklären. Offenbar wird der IS von bestimmten Teilen der sunnitischen Bevölkerung in den eroberten Gebieten geduldet, wenn nicht sogar unterstützt.
IS nannte sich bis vor kurzem noch „Islamischer Staat im Irak und Syrien“. Die Organisation konnte im vergangenen Jahr in Syrien an Boden gewinnen. Dies gelang ihr, indem sie hinter der Front in den vom Assad-Regime befreiten Gebieten eine Terrorherrschaft gegen die Revolutionäre durchzusetzen versuchte. Doch im Kern ist der IS ein irakisches Gewächs, ein Produkt des Krieges, den die USA im Jahr 2003 nach Irak brachte.
Hervorgegangen ist die Gruppe aus „Al-Qaida im Irak“ (AQI), die sich infolge der amerikanischen Invasion von 2003 gebildet hatte. Doch während viele andere Gruppen des Widerstands die Truppen der US-amerikanischen Besatzer und deren Marionettenregierung bekämpften, erklärte die radikal-sunnitische AQI alle Nicht-Sunniten zum Feind. Bombenattentate gegen schiitische Wallfahrtsorte oder von Schiiten frequentierte Marktplätze wurden ihr Markenzeichen.
Anders als man meinen könnte, ist der IS keine Organisation, die von Klerikern angeführt wird. Tatsächlich hatten viele der führenden Personen vor 2003, dem Beginn des Krieges im Jahr 2003 keinen besonderen Bezug zur Religion. So sind rund ein Drittel der 25 Stellvertreter des IS-Anführers Abu Bakr al-Baghdadi Personen, die als Offiziere in der irakischen Armee unter Saddam Hussein gedient haben. Saddam hatte vor seinem Sturz durch die US-Armee eine brutale Diktatur errichtet, aber sie war durch und durch säkular.
Baghdadi hat die meisten seiner Stellvertreter kennengelernt, als ihn die US-Armee in Camp Bucca gefangen hielt. IS und seine Vorläufer entstanden in den Gefängnissen der Besatzungsmacht. Dies hat seinen Teil zur Verrohung der Kämpfer beigetragen. Im Jahr 2005 gingen Bilder um die Welt, die zeigten, wie die US-Armee Gefangene systematisch demütigte und folterte – mit Billigung des damaligen US-Präsidenten George W. Bush.
Der sunnitische Gouverneur der Provinz Anbar, Ahmed Dulaimi, erklärte gegenüber einem Korrespondenten der New York Times, er selbst habe eines der Mitglieder des IS-Militärrats, Adnan Nidschim, an der Militärakademie ausgebildet. Nidschim sei 1993 Offizier im irakischen Heer geworden. „Es sah niemals so aus, als würde er in diese Richtung gehen“, so Dulaimi. „Er kam aus einer einfachen Familie, mit hohen Moralvorstellungen.“ Es war die Erfahrung mit dem US-Krieg, der alles veränderte, so Dulaimi weiter. „All diese Leute wurden nach 2003 religiös.“ Nidschim sei von den US-Streitkräften verhaftet worden, dann habe er sich 2005 Al-Qaida im Irak angeschlossen.
Ist der „Islamische Staat“ mit anderen islamistischen Organisationen wie der Hamas zu vergleichen?
Nein. Die Hamas stellt eine in Gaza gewählte Regierung, deren bewaffneter Arm sich gegen den barbarischen Angriff der übermächtigen israelischen Besatzungsmacht zur Wehr gesetzt hat. In Gaza herrscht kein Regime, das mit den harschen Regeln des „Islamischen Staats“ zu vergleichen wäre. Die Hamas hat eine junge geschiedene Frau zu ihrer Sprecherin gemacht. Hamas schneidet auch keinen amerikanischen Journalisten die Kehle durch, sondern wäre froh, wenn ihr Standpunkt in den westlichen Medien auftauchen würde.
Im Unterschied zur Hamas ist der „Islamische Staat“ auch ein Feind der Revolution in Syrien. Dorthin dehnte sich die Vorläuferorganisation „Al-Qaida im Irak“ aus, nachdem sie im Irak an Boden verloren hatte. Baghdadi überwarf sich 2013 mit Al-Qaida und nannte seine Organisation in „Islamischer Staat im Irak und Syrien“ (ISIS) um. ISIS vermied jede militärische Konfrontation mit dem Assad-Regime, sondern konzentrierte sich darauf, in den befreiten Gebieten mit Waffengewalt eigene Räume für ihre Herrschaft durchzusetzen.
Im Konflikt mit den Lokalen Koordinierungskomitees der Revolution und anderen Gegnern verhängte ISIS regelmäßig per Deklaration Todesurteile, die als Strafe das Abschneiden des Kopfes oder das Durchtrennen der Kehle vorsahen. Im syrischen Rakka kam es vor diesem Hintergrund zu Massendemonstrationen. ISIS hatte eine Kirche zu einem Folterzentrum umgewandelt. Massen an Bürgern, darunter viele Muslime, demonstrierten hinter einem riesigen christlichen Kreuz für die Befreiung politischer Gefangener.
ISIS profitierte lange davon, dass alle anderen bewaffneten Kräfte an der Front gegen die Truppen Assad gebunden waren. Bis es im Januar 2014 zu einem gemeinsamen Vorgehen der revolutionären Kräfte um die Freie Syrische Armee zusammen mit anderen islamistischen Kräften kam, um ISIS zu vertreiben – häufig erfolgreich. Viele sprachen von der »zweiten Revolution«.
Wenn überhaupt, dann erinnern die vom „Islamischen Staat“ erlassenen Vorschriften eher an die Vorstellungen, wie sie die Sittenpolizei im wahabitischen Saudi-Arabien durchzusetzen versucht. Dort verhängte barbarische Strafen wie das Abhacken von Händen hielt die Bundesregierung bislang allerdings nicht davon ab, das Regime zu unterstützen. Denn es ist pro-westlich. Saudische Panzer haben 2011 die Revolution im benachbarten Bahrain niedergewalzt. Die putschistischen Militärs in Ägypten erhielten vom saudischen König viele Milliarden Dollar an Finanzhilfe. Doch Kanzlerin Merkel rechtfertigte Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien damit, dass es sich um einen „Stabilitätsanker“ in der Region handeln würde. US-Präsident Obama hat nun Saudi-Arabien als einen wichtigen Verbündeten in der Kriegskoalition gegen den IS gewinnen können.
Wieso konnte der „Islamische Staat“ plötzlich so stark werden?
Im Januar dieses Jahres befand sich ISIS – unter dem Druck des Widerstands der syrischen Opposition – auf einem umfassenden Rückzug und musste unter anderem Aleppo verlassen, die größte Stadt des Landes. Im Juni ist die Organisation mit dem Blitzangriff auf die irakische Millionenstadt Mosul als militärischer Akteur zurückgekehrt. Die irakische Armee brach binnen Stunden zusammen, zehntausende Soldaten flohen in Panik. Daraufhin rückte ISIS an allen Fronten vor – im Irak und in Syrien. Anführer Baghdadi fühlte sich ermutigt, Eroberungen in anderen Ländern wie Saudi-Arabien anzukündigen und erklärte sich zum „Kalifen“, zum Führer aller sunnitischen Muslime. Seine Organisation nannte er entsprechend in Islamischer Staat um.
Diesen dramatischen Umschwung in der Kräftekonstellation kann man nur mit einem Blick auf die Natur des Regimes erklären, das die US-amerikanischen Besatzer im Irak installiert haben. Um politischen Einfluss auszuüben, teilten sie Machtpositionen im Staatsapparat und im Parlament nach einem ethnisch-religiösen Schlüssel auf. Dies hat zu einem Machtpoker innerhalb der herrschenden Klasse des Irak geführt, der sich an der Unterscheidung nach der Zugehörigkeit zum schiitischen, sunnitischen oder kurdischen Block orientiert.
Dem schiitischen Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki gelang es, Kräfte der sunnitischen Eliten von der Teilhabe an der Macht zu verdrängen und die politische Kontrolle über den Staatsapparat zu nutzen, um sich an der Vergabe von Lizenzen zur Ausbeutung der Bodenschätze reich zu stoßen. Als Schiit wurde er unter Saddam Husseins sunnitischer Herrschaft verfolgt. Nun drehte er den Spieß einfach um.
Die seit einigen Jahren sprudelnden Erdöleinnahmen haben den meisten Menschen im Irak kein besseres Leben beschert. Der Reichtum fließt in die Taschen derjenigen, die den Staatsapparat kontrollieren, und von dort häufig auf Konten oder in Immobilien in der Schweiz und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Für die einfache Bevölkerung fehlt es an grundlegenden Dingen wie einer sicheren Stromversorgung. Auch Benzin muss teuer importiert werden, weil es an eigenen Raffinerien mangelt.
Auch die kurdische Regionalregierung konnte ebenfalls vom Ölreichtum profitieren, nachdem sie eigene internationale Verträge abschloss. Die Folge war ein immer härter geführter Streit mit der schiitisch dominierten Zentralmacht in Bagdad um Ressourcen, Gelder und Territorien. Kurdische Peschmerga haben den Zusammenbruch der irakischen Armee genutzt, um im Schatten der internationalen Aufmerksamkeit das ölreiche Kirkuk zu besetzen.
Die Einheit des Iraks steht nur noch auf dem Papier. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die deutschen Waffen, die zur Bekämpfung des IS an die Peschmerga geschickt worden sind, in Zukunft in einem bewaffneten Konflikt zwischen Bagdad und Erbil zum Einsatz kommen.
In diesem Kampf um den Zugang zu Ressourcen sind die sunnitisch geprägten Gebiete ins Hintertreffen geraten. Die Provinz Anbar ist heute das Armenhaus des Irak. Hier, in den Städten Falludscha und Ramadi, brachen im Dezember 2013 Massenproteste gegen die unsoziale Politik der Regierung Maliki aus. Inspiriert waren sie von den Revolutionen in anderen arabischen Ländern. Im Internet sind zahlreiche Dokumente dieser Proteste unter dem Banner »Irakischer Frühling« zu finden. Sie waren weitgehend friedlich, auf den Ausgleich zwischen Schiiten und Sunniten bedacht.
Doch westliche Medien nahmen das kaum zur Kenntnis – ebenso wenig wie die Tatsache, dass Falludscha und Ramadi als Hotspots des Volkswiderstands von der irakischen Armee erst eingekesselt und dann blindlings bombardiert worden sind. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat im Mai einen umfangreichen Bericht veröffentlicht, der Angriffe auf Krankenhäuser und Wohngebiete dokumentiert.
In die sich entwickelnde militärische Konfrontation zwischen den örtlichen Stämmen und der irakischen Armee mischte sich ISIS, aus Syrien kommend, ein. Dem irakischen Regime stand dementsprechend nicht ISIS allein, sondern ein Bündnis von sunnitischen Kräften gegenüber, das von der ansässigen Bevölkerung unterstützt wurde. Deshalb scheiterte der Versuch der irakischen Armee, Falludscha zu erobern. Auch in Ramadi ist die Armee mittlerweile eingekesselt und kann sich nur noch selbst verteidigen.
Der Journalist Imran Khan betont, dass auch die Eroberung des multiethischen Mosul nur gelingen konnte, da neben dem IS mit den Naqschbandi eine mächtige Miliz gekämpft habe. Die Naqschbandi-Miliz wurde von Essat Ibrahim ad-Duri gegründet, der als General unter Saddam eine führende Rolle innehatte und den Widerstand der verbotenen, ehemaligen Staatspartei Ba‘ath unter der amerikanischen Besatzung fortsetzte. Die Naqschbandi, so Khan, würden den Nationalismus der Ba’ath-Partei mit volkstümlichen Ideen der Sufi vermischen – ein Ideologiemix, unvereinbar mit dem Dschihadismus des IS.
Der IS ist also nur ein Teil des bewaffneten Kampfes, der sich aus der Mitte der sunnitischen Bevölkerung rekrutiert. Allerdings hat er nach der Eroberung Mosuls an Zugkraft gewonnen. Dies hat durchaus materielle Gründe, denn die Armee hinterließ auf der Flucht Ausrüstung im großen Umfang. Auch konnte der IS die Kontrolle über einen großen Staatsschatz in der Zentralbank Mosuls sichern. Deren Mittel haben ebenso wie der militärische Erfolg selbst zu einem enormen Wachstum der Organisation geführt. In einem Land, in dem eine Anstellung in der Armee oder in einer der Milizen für viele junge Männer die einzige Berufsperspektive darstellt, ist der IS für einige zum Arbeitgeber geworden.
Ausschlaggebend für den Erfolg des IS ist aber Tatsache, dass die Sunniten im Irak ausgegrenzt und von der schiitisch dominierten Armee beschossen und bombardiert werden. Das hat es den Dschihadisten ermöglicht, Mitstreiter zu gewinnen, die sich sonst kaum IS angeschlossen hätten. Die Verankerung der Organisation beruht nicht auf religiösem Fanatismus, sondern auf dem Gefühl vieler Sunniten, dass der IS sie effektiver als alle anderen Kräfte vor der Armee des irakischen Regimes schützt.
Ist eine neue Regierung unter Einbindung der Sunniten die Lösung?
Auch die Regierungen in Washington und Berlin verstehen mittlerweile, dass der IS nur geschlagen werden kann, wenn ein relevanter Teil der Sunniten sich gegen ihn stellt. Deshalb hatten sie Ministerpräsident Maliki nachdrücklich auf die „Einbindung der Sunniten“ in die Regierung gedrängt. Doch Maliki stellte sich quer, bis er im August gestürzt wurde.
Sein Nachfolger Haidar al-Abadi wird als Hoffnungsträger gezeichnet, der einen versöhnlicheren Ton anschlägt. Doch Abadi stammt aus derselben Partei wie Maliki, der schiitischen Dawa. Bis zu seiner Ernennung als Ministerpräsident ist er niemals als Kritiker Malikis oder der herrschenden Zustände im Irak aufgefallen.
Der Krieg ging während und nach der Regierungsbildung im August weiter. Er folgt einer Logik, welche die Versuche erschwert, die sunnitische Elite gegen den IS zu gewinnen. So hat die irakische Armee auch nach Malikis Sturz weiter Fassbomben gegen Wohngebiete in Falludscha eingesetzt. Diese sind vollgestopft mit 200 bis 300 Kilogramm Sprengstoff und zerstören ganze Häuser. Der sunnitische Stammesälteste Scheich Mohammed al-Badschari spricht von 10 bis 15 Fassbomben pro Tag. Er bezeichnete dies zu Recht als kollektive Bestrafung von Zivilisten.
Die Bundesregierung will uns vermitteln, im Irak begingen nur die Milizen des IS Gräueltaten. Damit rechtfertigt sie ihre Beteiligung an dem Konflikt auf Seiten der Peschmerga und des Regimes in Bagdad. Doch nach dem Zusammenbruch ihrer Armee in Mosul kann sich die irakische Regierung nur mit Hilfe schiitischer Milizen halten, die vom Geist des Rassismus gegen die Sunniten erfüllt sind.
Bereits während der Verhandlungen zur Bildung der neuen Regierung haben mutmaßliche schiitische Radikale in der Provinz Diyala ein Blutbad angerichtet und in einer sunnitischen Moschee rund 70 Gläubige erschossen. In Diyala operiert die gefürchtete Schiiten-Miliz Asaib Ahl al-Haqq, die keinen Unterschied zwischen IS und anderen Sunniten macht. Der Korrespondent Ghaith Abdul-Ahad illustrierte die rassistische Logik dieses Kampfes in einem Bericht für den britischen Guardian. Er zitiert einen schiitischen Milizionär: „Wenn ich ein Gebiet vom Islamischen Staat befreie, warum sollte ich es ihnen zurückgeben? Entweder lösche ich es aus oder lasse Schiiten darin siedeln.“
Abdul-Ahad beschreibt, wie in der Provinzstadt Bakuba zwei Leichen an einer Straßenlaterne hingen, eine kopfüber. Ein sunnitischer Bauer erklärt: „Wenn sie [die schiitischen Milizen] einen Mann an der Front verlieren, dann überfallen sie unsere Dörfer und schnappen sich Männer zur Vergeltung. Neun Männer wurden im letzten Monat auf diese Weise entführt. Wir haben die Leichen von dreien gefunden, die anderen werden noch vermisst.“
Die Bundesregierung will uns Glauben machen, im Irak beginge nur die Miliz des IS Gräueltaten. Damit rechtfertigt sie ihre Beteiligung an der US-geführten Kriegskoalition auf Seiten der Peschmerga und dem irakischen Regime. Doch dies macht Deutschland zugleich zum Verbündeten der schiitischen Milizen. Wohin das führt, zeigt die Schlacht um die Stadt Amerli nördlich von Bagdad. Nachdem Anfang September eine Allianz aus schiitischen Milizen und Peschmerga die Belagerung der ethnisch durchmischten Stadt mit US-Luftunterstützung beenden konnte, brannten die schiitischen Milizen 50 sunnitische Dörfer in der Umgebung nieder. Laut der irakischen Zeitung »As-Saman« wurden dabei achtzehn Sunniten hingerichtet und enthauptet.
Selbst wenn es Abadi gelingt, Teile der sunnitischen Elite in seine Regierung einzubinden, ändert das nichts an der fatalen Logik des interreligiösen Konflikts. Von seiner Koalitionsregierung ist zudem keine Verbesserung der sozialen Lage der Bevölkerungsmehrheit zu erwarten, die allein die Grundlage für eine Aussöhnung bieten kann.
Muss die UNO handeln?
Die humanitäre Lage im Irak, besonders im Norden, ist dramatisch. Es befinden sich bereits rund zwanzig Unterorganisationen der Vereinten Nationen im Irak. Sie organisieren eine der größten humanitäre Hilfsaktionen der letzten Jahre. Diese Aktivitäten sind grundsätzlich zu begrüßen. Nicht zu begrüßen sind Beschlüsse der UNO, die dem US-amerikanischen Bombardement und anderen militärischen Aktivitäten politische Rückendeckung geben.
Die UNO hat ihren Anteil am Desaster im Irak. Beispielsweise legitimierte sie die erste von der US-Armee geführte Invasion im Jahr 1991. In den folgenden Jahren verhängte sie Wirtschaftssanktionen, die zu akutem Mangel etwa an Medikamenten führte. Hunderttausende Iraker bezahlten die Militärintervention und das folgende Embargo mit dem Leben.
Präsident Barack Obama hat nun eine internationale Koalition geschmiedet und einen Luftkrieg nach dem Vorbild der US-amerikanischen Angriffe auf Jemen und Somalia angekündigt. Dort sterben unter dem Beschuss durch US-Kampfdrohnen seit Jahren unschuldige Menschen, während die Länder immer tiefer im Krieg versinken. Die angekündigten Angriffe von Zielen in Syrien stellt eine weitere Eskalation dar. Ein UN-Mandat würde diese Bombenangriffe nicht besser machen, sondern einzig der Verschleierung der tatsächlichen Motive dienen.
Auch zeigt sich, dass die US-amerikanischen Bomben nur eine begrenzte Wirkung entfalten. Nach den ersten Luftangriffen hat der IS seine Taktik verändert. Statt gegen den Norden hat er seine Vorstöße auf Dschalaula und Chanakin nahe der iranischen Grenze konzentriert. Geschlossene Verbände lösen sich auf und vermischen sich in Ortschaften mit der Zivilbevölkerung.
Das Pentagon räumte gegenüber der Presse die begrenzte militärische Wirkung der Bombenangriffe ein. Ein Vertreter sagte Ende August: »Luftschläge als solche werden die Bodengewinne des Islamischen Staats nicht rückgängig machen können.«
Die US-Strategie zielt deshalb darauf ab, mit einzelnen sunnitischen Stammesführern zu Bündnissen zu kommen. So soll der IS aus der sunnitischen Gemeinschaft von innen heraus gelöst werden. Dies gelang bereits einmal, im Jahr 2007 während der US-Besatzung. Damals organisierten sich wichtige Teile der sunnitischen Gesellschaft in den so genannten Erweckungsräten, die Al-Qaida im Irak bekämpfte und nahezu auslöschte.
Ob dies erneut gelingen wird, ist offen. Denn der US-Luftkrieg konterkariert dieses Ziel. Der Chefredakteur der unabhängigen Zeitung Rai al-Yaum berichtet von Gesprächen mit Sympathisanten des IS im benachbarten Jordanien, die davon überzeugt sind, dass die „amerikanische militärische Intervention einen religiös-sektiererischen Krieg im Irak befeuern und die Sunniten hinter dem Islamischen Staat vereinen wird.“ Denn es handele sich um „eine Intervention auf Seiten der Schiiten“. Als Argument führten sie die oben zitierten anti-sunnitischen Gräueltaten nach der Schlacht um Amerli an.
Die Bomben der US-geführten Kriegskoalition können die militärischen Kräfteverhältnisse am Boden verändern und Frontlinien verschieben. Doch sie heizen zugleich die ethnisch-religiöse Logik des Konflikts weiter an. Die Bomben werden unweigerlich unzählige Zivilisten treffen. Ein dauerhafter Frieden kann so nicht erreicht werden. Daran ändert sich auch dann nichts, wenn sich Obama mit Russland und China einigen und die von ihm angeführte Kriegskoalition den Segen der UN erhalten sollte.
Was ist dann die Lösung?
Nach Jahren des Kriegs, der Zerstörung und der Etablierung eines rassistisch-geteilten Staates kann niemand eine schnelle Lösung präsentieren. Der einzig richtige Weg ist eine Politik, die den Kampf gegen jede ethnisch-religiöse Diskriminierung mit sozialen Forderungen verknüpft. Jegliche Intervention von außen, ob durch die Groß- oder Regionalmächte, ob mit oder ohne UN-Mandat, widerspricht einer solchen Politik.
Tatsächlich gibt es auf allen Seiten, auch unter den Sunniten, viele, die sich gegen die Logik des ethnisch-religiösen Konflikts stellen. Die New York Times berichtete über sunnitische Araber im Sindschar-Gebirge, die sich dem IS angeschlossen und ihn gegen die jesidischen Nachbarn unterstützt haben. Die Zeitung berichtete im selben Bericht aber auch über Fälle, in den Sunniten ihr Leben riskiert haben, um verfolgten jesidischen Familien zu helfen.
Es gibt sowohl in den arabischen als auch in den kurdischen Städten des Iraks Kerne einer politischen Linken, die einen Bezugspunkt für die internationale Linke bilden können. Revolutionäre Organisationen aus verschiedenen arabischen Ländern, darunter die Union Irakischer Kommunisten, haben Ende Juni in einer Erklärung dem IS und dem Regime in Bagdad den Kampf angesagt. Zugleich verurteilen sie jede Einmischung durch internationale und regionale Mächte.
Wörtlich heißt es: »Es muss eine breite linke Bewegung im Irak gegründet werden. Sie kann auf einem Gefühl des Aufbegehrens der Mehrheit der Menschen aufbauen, die in heruntergekommenen Gebieten leben und sich ihrer sozialen und ökonomischen Rechte beraubt fühlen (…) unabhängig, welcher Glaubensgemeinschaft sie angehören.«
Die Linke in Deutschland kann ihren Teil zu diesem Kampf beitragen. Dazu gehört der Widerstand gegen jede Beteiligung der Bundesregierung an dem Bürgerkrieg im Irak, sei es durch Waffenlieferungen, sei es durch die Unterstützung der US-amerikanischen Bombardements, sei es durch UN-mandatierte Militäreinsätze. Die Lösung im Irak kann nur aus dem Irak selbst, von unten erwachsen.
Der Artikel erschien in einer gekürzten Version im marx21 Magazin Nr. 37 unter der Titel »Der Weg ins Inferno«. Falls du noch kein marx21-Abo hast:
Foto: EU Humanitarian Aid and Civil Protection