Eigentlich hätte er »Auf Bewährung am Arsch der Welt« heißen sollen. Damit wäre der Plot des Films »Familienbande« gut beschrieben. Doch sein Reiz liegt sowieso nicht in der Handlung, findet unser Autor Phil Butland
Aidan Gillen kennt man als Darsteller in erfolgreichen Fernsehserien. In »Queer as Folk« spielt er den promiskuitiven Stuart und in »The Wire« den ambitionierten Tommy Carcetti; zurzeit ist er in »Game of Thrones« als gerissener Petyr Baelish zu sehen. Es sind charismatische und charmante Rollen, mit denen Gillen sich Aufmerksamkeit erkämpft, die inmitten des Überangebots von Stars nicht leicht zu haben ist. Im Film »Familienbande«, der ab 19. November in den deutschen Kinos läuft, sehen wir hingegen einen ganz anderen Aiden Gillen, der zulässt, dass ihm ein elfjähriges Mädchen ihm die Show stiehlt.
Knastbruder und Rotzgöre
Gillens Charakter Will wird frühzeitig aus dem Gefängnis entlassen, nachdem seine Schwester gestorben ist. Um auf freiem Fuß zu bleiben, muss er beweisen, dass er in der Lage ist, sich um seine elfjährige Nichte Stacey zu kümmern. Dabei kann er kaum auf sich selbst aufpassen. Einmal in seinem Leben hat er vielleicht Verantwortung übernommen – und ist dafür im Knast gelandet.
Aus diesem Film hätte leicht ein banales, moralgeränktes Lehrstück werden können, in dem Nichte und Onkel voneinander lernen und alle ihre Probleme lösen. Als die belgische Nachbarin Emilie in der Handlung auftaucht, weist alles auf eine reizende Liebesgeschichte hin: nett anzuschauen, aber auch leicht zu vergessen.
Es ist Regisseur Mark Noonan sowie den Schauspielerinnen und Schauspielern hoch anzurechnen, dass »Familienbande« viel mehr bietet. Lauren Kinsella spielt Stacey rotzig und fluchend, aber nie nervig frühreif. Der andauernde Schlagabtausch zwischen Onkel und Nichte, den meist Stacey gewinnt, bleibt lustig und glaubwürdig. Will erscheint großherzig, aber schwach. Er bemüht sich redlich, den Erwachsenen zu geben, aber als ehemaliger Häftling fällt es ihm schwer, eine Arbeit zu finden. Aus Frust fängt er an zu saufen und klaut Stacey die Amphetamine, die sie gegen ihre Narkolepsie verschrieben bekommt.
Eine Mischung von Genres aus dem Alternativkino
Noonan verwebt zwei beliebte Genres des US-amerikanischen Alternativkinos: das Roadmovie, in dem zwei unterschiedliche Charaktere lange Strecken gemeinsam zurücklegen, und den Wohnwagenplatz als Handlungsort, wo nur die sogenannte Unterschicht wohnt und zusammen älter wird bis sie ausstirbt. In den riesigen USA dient diese Umwelt als Zeichen der Isolation der Protagonisten. In Irland, wo man die längste Straße in ein paar Stunden abgefahren ist, sind diese Wohnwagenplätze immer am Rand eines Dorfs und wir sehen, inwiefern sie immer noch Teil einer lebendigen Gesellschaft sind. So ist der Wohnwagenplatz zwar eine Art Vorhölle – ein neues Gefängnis für Will, aus dem er nicht fliehen kann – gehört aber zu einer weiteren Welt. Die Belgierin Emilie mit ihrem rumänischen Mann Tibor sind genauso Teil dieser Welt wir die Bewohnerinnen und Bewohner des angrenzenden Dorfs. Im gesamten Film wird die Herkunft dieser beiden kein einziges Mal zum Thema gemacht. Noonan, dessen Freundin ebenfalls aus Belgien stammt, bemerkte dazu, dass inzwischen in jedem irischen Dorf Menschen aus unterschiedlichsten Ländern leben. Vielleicht wäre es anders, wenn sie eine andere Hautfarbe hätten, aber der Film wäre laut Noonan nicht authentisch, wenn Emilies und Tibors Nationalität für andere Leute ein Thema wäre.
Der Umgang mit dieser Kleinigkeit ist beispielhaft für Noonans Stil, der auf jegliche Didaktik verzichtet. In einem Interview betonte der Regisseur: »Ich finde es sehr wichtig, dem Publikum Raum zur Spekulation zu lassen. Filme, in denen alles bis ins kleinste Detail erklärt wird, interessieren mich nicht«. Nie wirkt der Film besserwisserisch, stattdessen zeigt er Szenen, die wir selbst interpretieren müssen.
Das bedeutet auch, dass »Familienbande« manche frustrieren wird. Es gibt kein Happy End, aber auch keine große Tragödie, nur eine Reihe von kleinen Gewinnen und Verlusten. Wir sehen Ausschnitte aus dem Leben der Protagonisten. Das Leben geht weiter – mal besser, mal schlechter. Ohne die eindrucksvolle darstellerische Leistung, vor allem von Gillen und Kinsella, könnte der Film in die Belanglosigkeit abgleiten. Doch für mich ist »Familienbande« eine Rückkehr zu dem, wie Filme gestaltet werden sollten. Auf Noonans nächsten Film freue ich mich jetzt schon.
Der Film: Familienbande, Regie: Mark Noonan, Irland 2014, Pandora Filmverleih, 80 Minuten, ab 19. November in den Kinos