Horst Haenisch: »Hauptsache, eine Lehrstelle? Das Duale System der Berufsausbildung und der Kampf um seine Reform«, Edition Aurora, Frankfurt/M. 2008, 62 Seiten, 5,- Euro
Von Lisa Hofmann
»Hauptsache, eine Lehrstelle?«. Diese Frage liest sich angesichts von tausenden fehlenden Ausbildungsplätzen und der DGB-Forderung »Ausbildung für Alle!« sehr provokant. Ist dem Autor der Broschüre, Horst Haenisch, nicht klar, welches Ausmaß die Ausbildungskrise und das mit ihr entstandene System der Warteschleifen hat?
Dieser erste Eindruck, der beim bloßen Lesen des Titels entsteht, täuscht erheblich. Haenisch entwickelt in seiner Analyse des Berufsbildungssystems die These, dass Ausbildung nur stattfindet, weil die Unternehmen dadurch profitieren. So bilden kleine Handwerksbetriebe aus, weil sie die Lehrlinge nach kurzer Zeit auch als produktive Arbeitskraft einsetzen können, ihnen aber keinen regulären Lohn zahlen müssen. Die Großbetriebe, in denen in der Regel arbeitsteilig produziert wird, profitieren von dieser Praxis, da sie die Lehrlinge nach ihrer Lehre berufsfremd in der eigenen Produktion beschäftigen können. Dies ist möglich, weil die Auszubildenden aus den handwerklichen Kleinbetrieben sich neben dem Lehrstoff auch eine ordentliche Portion Disziplin und Gehorsam einverleibt haben. Diese Praxis der Ausbeutung wird erst durch das Duale System ermöglicht. Ein Kernbestandteil der dualen Ausbildung besteht darin, dass die Auszubildenden einen Teil der Ausbildung in der Berufschule und den anderen Teil im Betrieb verbringen. Aber die Inhalte dieser Ausbildung werden nicht wie bei Schule oder Studium vom Staat bestimmt, sondern von den Arbeitgeberorganisationen – eine Spezialität des deutschen Ausbildungssystems.
Das Besondere der Broschüre von Horst Haenisch besteht darin, dass er das Duale System kritisiert, in Frage stellt und zugleich einen Entwurf für eine neuartige Berufsausbildung macht. Dies ist neu: Von den Gewerkschaften beispielsweise wird zwar auch eine Krise der Berufsausbildung bemängelt, das Duale System aber auf keinen Fall infrage gestellt. Alle Lösungsansätze der Gewerkschaften sind immer innerhalb des Dualen Systems gedacht. Horst Haenisch zeigt in seiner Broschüre, dass diese Lösungsansätze oft nur die Masse der vorhandenen Ausbildungsplätze im Blick haben, aber nicht ihre Qualität oder Bezahlung.
Das von Haenisch vorgeschlagene Ausbildungssystem unterscheidet sich in drei Punkten von den bisherigen. Erstens sollen nicht mehr viele verschiedene, stark spezialisierte Berufe ausbildet werden, sondern nur noch wenige Grundberufe. Die Spezialisierung erfolgt dann in Form von Weiterbildungen oder an den Universitäten. Dies steht im Gegensatz zum modulisierten Modell, dass die EU forciert, da dieses System auf eine immer stärkere und immer frühere Spezialisierung der Auszubildenden hinausläuft. Eine weitere Neuerung ist der Vorschlag, die Ausbildung nur noch von staatlichen Lehrkräften vornehmen zu lassen. Sie soll in überbetrieblichen Lehrwerkstätten stattfinden, die zwar auch noch produzieren, aber nur in dem Rahmen, der für den praktischen Teil der Ausbildung nötig ist. Der dritte Punkt besteht in der Forderung, neben mehr Ausbildungsplätzen eine Obergrenze für die Zahl von Auszubildenden pro Betrieb zu setzen. Diese Grenze liegt bei 15 Prozent (Zum Vergleich: Die Gewerkschaften fordern einen Mindestanteil von 7 Prozent Auszubildenden pro Betrieb). Die Obergrenze soll verhindern, dass Lehrlinge als kostengünstige Arbeitskräfte eingesetzt werden.
Neben der umfassenden Analyse der Situation und der Ideen die Ausbildungsplatzmisere zu lösen, entwickelt Haenisch in diesem Text eine politische Perspektive für den Kampf um eine gerechte Berufsausbildung. Diese besteht in einem neuartigen Ausbildungssystem, dass zwar nicht mehr nach den Regeln des Dualen Systems funktioniert, aber den Praxisbezug der Ausbildung erhält. Dadurch könnte ermöglicht werden, den positiven Teil der dualen Ausbildung (gleichzeitige Ausbildung in Theorie und Praxis) zu erhalten und sich von seinen negativen Aspekten zu trennen.
Die Broschüre bietet neben den Ideen zu einer gerechten Berufsausbildung auch einen Einblick darin, wie sich Gewerkschaften immer weiter von den Interessen derer, die sie Vertreten sollen, hin zu den Interessen derer, die es zu bekämpfen gilt, entwickelt haben. Dies wird vor allem in einem Abschnitt zur Lehrlingsbewegung deutlich, durch den Broschüre rund wird.