Thilo Sarrazin erlangt mit seinen Thesen über vererbte Dummheit viel Aufmerksamkeit. Doch was ist dran? Wird Intelligenz tatsächlich durch Gene bestimmt?
Der frühere Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin behauptete schon im Juni, die Bevölkerung in Deutschland werde »auf natürlichem Wege durchschnittlich dümmer«. Einwanderer aus der Türkei, dem Nahen und Mittleren Osten sowie aus Afrika seien weniger intelligent, vermehrten sich jedoch stärker. Da Intelligenz zu fast 80 Prozent vererbt würde, drohe Deutschland im internationalen Vergleich ins Hintertreffen zu geraten.
Wenn das stimmen würde, wären schlechtere Schulnoten von türkischen Einwanderern ebenso zwangsläufig wie die elenden Verhältnisse in ärmeren Ländern. Der Versuch, die Benachteiligung auszugleichen, wäre ein sinnloser Kampf gegen die Natur. Dem ist natürlich nicht so. Aber wie ist es wirklich?
Gene sind die Erbanlagen, die sich in jeder Zelle von Lebewesen finden. Wie bei einem biologischen Bauplan übermitteln sie körperliche Eigenschaften an weitere Zellen und an die Nachkommen. Deshalb ähneln wir unseren Verwandten. Auch bei der Anfälligkeit für bestimmte Krankheiten gibt es angeborene Zusammenhänge. Die menschlichen Gene haben einen Informationsumfang, der auf eine einzelne DVD passen würde. Über 95 Prozent davon stimmen mit den Genen von Schimpansen überein. Die Nervenzellen des erwachsenen menschlichen Gehirns dagegen enthalten eine Informationsmenge, die tausende von DVDs füllen würde. Aus diesem Rechenbeispiel wird klar, dass Gene die Anatomie bestimmen können, nicht jedoch die konkrete Funktion des menschlichen Gehirns: Der biologische Bauplan bestimmt den Aufbau der Gehirnzellen, aber nicht, was sie tun.
Gene wurden für Depressionen, Suchtkrankheiten, Diabetes, Gewalttätigkeiten und vieles mehr verantwortlich gemacht. Doch die Entschlüsselung der Gene in den letzten Jahren hat keine solch zwangsläufigen Zusammenhänge nachgewiesen. Auch Gene für die Intelligenz hat noch keiner gefunden; vielleicht gibt es keine.
Denken, Sprache und Kultur sind nämlich nicht angeboren, sondern in einem jahrelangen sozialen Lernprozess erworben. Das unterscheidet uns von Tieren, deren Verhalten zu einem größeren Teil biologisch vorgegeben ist. Es gibt auch kein Tier, das achtzehn Jahre lang lernen müsste, um erwachsen zu werden und dann lebenslang weiterlernt. Um es im Computerjargon auszudrücken: Gene bestimmen die Hardware. Was wir lernen, ist Software. Das Programm kann an die Umweltbedingungen angepasst werden. Diese Flexibilität macht den Menschen als Gattung so erfolgreich.
Im Alltag machen wir die Erfahrung, dass jeder andere Dinge gut kann. Manche rechnen besser, andere sind langsamer oder machen mehr Fehler. Manche lesen blitzschnell, andere tun sich damit schwer. Angesichts dessen glauben viele an eine angeborene, unveränderliche »Begabung«. Doch tatsächlich ist die sogenannte Begabung die Summe vieler Einflüsse über einen langen Zeitraum. Wer etwas sehr gut kann, hat es in der Regel gern und oft getan. Das bringt Erfolgserlebnisse, die wiederum das Training und die Motivation verstärken.
Natürlich gibt es angeborene persönliche Eigenheiten. Jeder Mensch ist ein Individuum, dessen Gesicht und Stimme wir aus Millionen anderen wiedererkennen können. Unsere Gehirne sind genauso ähnlich und genauso verschieden wie etwa unsere Beine oder Herzen. Es gibt immer Unterschiede, aber diese sind im Alltag so unbedeutend, dass wir die Qualität unserer Beine oder Herzen normalerweise nicht messen. Einige Kinder werden mit Behinderungen geboren. Bei den meisten Menschen funktionieren die Körperteile jedoch ausreichend gut, so dass deren Leistungsfähigkeit davon abhängt, wie sie im Laufe des Lebens behandelt werden. Menschen, deren Gehirn schlechter behandelt wurde, etwa durch Schläge und intellektuelle Vernachlässigung – beispielsweise durch übermäßige Lektüre der Bild-Zeitung -, können also auch schlechter denken.
Rassisten wie Sarrazin führen unterschiedliche Lernerfolge auf angeborene Eigenschaften zurück. Doch die Vererbung erklärt nicht die teils dramatischen Unterschiede bei den Fähigkeiten von Schulkindern unterschiedlicher Herkunft. Wenn 30 Prozent der 15-Jährigen in Hamburg nicht richtig lesen können, in Finnland dagegen nur fünf Prozent, liegt das an den Lernbedingungen und nicht an den Genen. Die Qualität des Unterrichts schwankt stärker als es die Talente der Schüler tun.
Viele Faktoren spielen für ein gutes Lernumfeld eine Rolle: Ernährung, die Wohnung, Familientraditionen, Vorbilder, Bücher und vor allem Zuwendung. Dagegen können Gewalt, Angst oder Vernachlässigung die Entwicklung empfindlich beeinträchtigen. Wenige Kinder schaffen es, solche Hindernisse zu überwinden. Schulen sollten die unterschiedlichen Voraussetzungen der Elternhäuser ausgleichen. In der Praxis hängt der schulische Erfolg in Deutschland jedoch vom Elternhaus ab. Bereits in den Grundschulen sorgen die Hausaufgaben dafür, dass vor allem diejenigen weiterkommen, die zu Hause Deutsch sprechen und ein eigenes Zimmer mit Büchern haben.
Mit dem Begriff Intelligenz verhält es sich ähnlich wie mit dem Begriff Pornografie: Jeder hat eine Meinung dazu, aber es gibt keine genaue Definition. Deshalb soll der Intelligenzquotient das allgemeine intellektuelle Leistungsvermögen eines Menschen in einer Zahl zusammenfassen. Das Ergebnis eines Tests wird dabei ins Verhältnis zu einem Durchschnittswert gesetzt, deshalb heißt er Quotient. Die Zahl 100 entspricht dem Durchschnitt, mehr ist besser. Je nach Bezugsgröße kann dasselbe Testergebnis unterschiedlich gewertet werden. Dabei wäre es falsch zu glauben, dass Intelligenz objektiv »gemessen« werden könnte wie die Körpergröße oder das Gewicht. Ergebnisse von IQ-Tests hängen wesentlich von den Testbedingungen, der Motivation und der Aufgabenstellung ab. Für den Vergleich von Gruppen ist er ungeeignet, weil die Bezugsgrößen nicht übereinstimmen.
Doch selbst wenn man auf IQ-Tests als Messinstrument für Intelligenz setzt, ist die Behauptung »Wir werden immer dümmer« falsch. In Wirklichkeit erbrachten die Ergebnisse von IQ-Tests bis in die 1990er Jahre immer höhere Werte. Die Zunahme heißt Flynn-Effekt und betrug ungefähr drei IQ-Punkte pro Jahrzehnt. Im selben Zeitraum blieben die Gene praktisch dieselben wie vor zigtausenden von Jahren. Der Intelligenzquotient kann also nicht genetisch festgelegt sein. Außerdem ändert er sich im Laufe eines Lebens. Ein Kind von Höhlenmenschen, das bei uns aufwachsen würde, wäre von heutigen Kindern weder körperlich noch geistig zu unterscheiden. Die erwachsenen Höhlenmenschen würden bei unseren Intelligenztests freilich grandios scheitern. Schon deshalb, weil sie die Tests nicht lesen könnten. Umgekehrt würden wir bei ihren Aufgaben versagen: Wer kann etwa ein Wildschwein fangen oder mit Steinen Feuer machen? Ebenso können Einwanderer aus ländlichen Gegenden der Türkei oder Afrikas bei mitteleuropäischen Intelligenztests schlechter abschneiden. Bei einem angepassten Test muss ihr Durchschnitts-IQ dagegen bei exakt 100 liegen, so ist der IQ schließlich definiert. Wissenschaftler sind sich weitgehend einig, dass es keine genetisch klügeren oder dümmeren Völker gibt.
»Mit seinem mehrfach wiederholten Satz 'Intelligenz ist zu 50 bis 80 Prozent erblich' zeigt Thilo Sarrazin, dass er Grundlegendes über Erblichkeit und Intelligenz nicht verstanden hat. Deshalb muss man auch viele seiner Folgerungen infrage stellen.« Das erklärt ausgerechnet die Intelligenzforscherin Elsbeth Stern, auf die sich Thilo Sarrazin in seinem Buch beruft.
Im Laufe der Geschichte hat sich das menschliche Denkvermögen spektakulär und mit zunehmender Geschwindigkeit entwickelt. Das Wissen der ganzen Gesellschaft wurde in Wechselwirkung mit den Produktivkräften ständig erweitert. Im Feudalismus durch Ackerbau und Viehzucht, dann durch Schrift und Handwerk, im Kapitalismus noch schneller durch Industrie und Technik. Somit konnten und mussten die meisten Kinder immer mehr lernen, was ihr Denkvermögen weiter entwickelte. Intelligenz ist nämlich nichts Vorbestimmtes – sie kann wachsen wie eine Blume, oder – um bei diesem Bild zu bleiben – vertrocknen, wenn sie kein Wasser mehr bekommt.
Ein Jesus von Nazaret würde heute bei uns ebenso wie 99 Prozent seiner Zeitgenossen keinen Hauptschulabschluss schaffen. Ob er überhaupt schreiben konnte, weiß keiner. Mit seinen primitiven römischen Ziffern hätte er nicht einmal herausfinden können, ob das 750-Gramm-Glas Nutella günstiger ist als das 400-Gramm-Glas. Erst die arabischen Ziffern halfen vielen Europäern ab dem 16. Jahrhundert, auf dem Niveau heutiger Zweitklässler zu rechnen. Dennoch wäre es verkehrt, auf frühere Generationen herabzusehen, die ja gleiche Gene und somit biologisch gleiche Gehirne hatten. Die ersten Faustkeile waren, unter völlig anderen Voraussetzungen, ebenso eine großartige Leistung wie die antike Astronomie. Doch das damalige Wissen stand nur einer Minderheit zur Verfügung. Von daher bringt es wenig, geistige Fähigkeiten mit einem Intelligenzquotienten losgelöst von den Anforderungen der Umgebung zu betrachten. Das Denken steht immer in einem sozialen und historischen Zusammenhang. Thilo Sarrazin fordert, vermeintlich dümmeren Zuwanderern die Einreise zu verweigern, um unsere genetische Intelligenz zu konservieren. Das sei dumm und führe nicht weiter, hat Angela Merkel darauf richtig geantwortet.
Das Berufsleben ändert sich in dieser Generation grundlegend. Im Jahr 1950 arbeitete bei uns jeder Zweite in der Landwirtschaft, mittlerweile nur noch jeder Fünfzigste. Heute werden in qualifizierten Berufen Fremdsprachen und Computerkenntnisse ebenso erwartet wie der Umgang mit anderen Kulturen, Teamwork und Weiterbildung aus eigener Initiative. Die kommenden Jahrzehnte mit dem zunehmenden weltweiten elektronischen Austausch stellen ganz neue Anforderungen an die soziale Kompetenz, die mit Auswendiglernen nicht zu erlangen ist. Früher standen Lehrer alleine vorne, fragten Hausaufgaben ab und gaben gehorsamen Schülern gnädige Noten. Schüler zu sortieren und zu testen, anstatt sie weiter zu bringen, ist ein veraltetes Konzept, das zu Anpassung und Passivität führt. Heute müssen Schulen ein selbstorganisiertes, kooperatives Lernen einüben. Selbst konservative, schwarz-grüne Politiker modernisieren die Bildung, damit die Wirtschaft funktioniert. Doch Eigeninitiative und zentrale Kontrolle stehen im Gegensatz zueinander.
Was sie Flexibilisierung nennen, ist kein Freiraum. Die eingebildete Elite und das Konkurrenzdenken sind gleichermaßen ein Hindernis für das Lernen und für die Produktivität.
Einige moderne Schulen sind mit einer weniger hierarchischen Organisation erfolgreich. Doch aktive und selbstbewusste Schüler sind politisch unbequem. Die Bundesregierung belohnt lieber die Anpassung an die Autoritäten, wie zuletzt bei den Stipendien nur für Streber. Bessere Bildung lässt sich daher nur erreichen, wenn die Betroffenen dies selbst durchsetzen.