marx21 sprach mit dem griechischen Aktivisten Sotiris Kontogiannis über die Schuldenkrise, Korruption und den Widerstand gegen die Kürzungspolitik der Regierung.
marx21: Die griechische Regierung will die Schuldenkrise mit einem drastischen Sparprogramm in den Griff bekommen. Mit Lohnkürzungen, Einstellungsstopp im öffentlichen Dienst und Steuererhöhungen soll der Haushalt saniert werden. Wie reagiert die Bevölkerung darauf?
Sotiris Kontogiannis: Griechenland ist im Aufruhr. Die Wut auf die harten Kürzungsmaßnahmen, die der Arbeiterklasse von der »sozialistischen« PASOK-Regierung und der EU aufgebürdet werden, steigt. Das griechische Parlament verabschiedete das neue Kürzungspaket am 5. März. Es war bereits das dritte Paket seit der letzten Parlamentswahl, die erst fünf Monate zurück liegt. Ziel ist die Reduzierung des Staatsdefizits um 16 Milliarden Euro, was für ein kleines Land wie Griechenland eine enorme Summe darstellt.
In den vergangenen Jahren mussten wir häufig erleben, dass die Mobilisierungen zu Protesten schnell aufhörten, sobald die Regierung einen ihrer Angriffe im Parlament durchgebracht hatte. Das war vor zwei Jahren der Fall, noch unter der konservativen Vorgängerregierung. Es gab zwei große Proteste gegen die Rentenreform. Sogar die Zentralbank wurde besetzt, was alle Finanztransaktionen an jenem Tag lahm legte. Die Streikwelle kam aber zu einem abrupten Ende, nachdem der Plan im Parlament Gesetzeskraft erlangte. Noch am gleichen Abend kamen die Gewerkschaftsführer zusammen und entschieden, dass weitere Aktionen in Anbetracht der Parlamentsentscheidung sinnlos seien.
Heute läuft es ganz anders. Das Parlament verabschiedete erwartungsgemäß den Kürzungsplan. Das war aber kein Signal für das Ende der Mobilisierungen, sondern für eine neue Streikwelle. Am gleichen Tag nämlich besetzte die Belegschaft der »Nationalen Druckerei« ihren Betrieb, um eine Veröffentlichung des neuen Gesetzes im »Regierungsblatt« zu verhindern. Die Verfassung sieht vor, dass ein Gesetz erst nach Veröffentlichung im »Regierungsblatt« Gültigkeit erlangt.
Am gleichen Tag besetzten die entlassenen Arbeiter der mittlerweile privatisierten Fluggesellschaft Olympic Airways die zentrale Buchhaltung, und Arbeiter der vor einem Jahr bankrott gegangenen Textilfabrik Lanaras zwei Banken in der nördlich gelegenen Stadt Komotini.
Die Gerichtsbeamten haben den Entschluss gefasst, täglich zwei Stunden zu streiken, was effektiv einer fast vollständigen Blockade der Gerichte gleichkommt. Die Gemeindearbeiter haben beschlossen, die Müllkippen zu schließen. Die Angestellten einer der angesehensten Verlagshäuser, Lamprakis Press, haben aus Protest gegen geplante Entlassungen 24 Stunden gestreikt. Die Arbeiter des mittlerweile teilprivatisierten Energieunternehmens DEH streikten für 48 Stunden und es kam zu erheblichen Stromausfällen in ganz Griechenland. Wahrscheinlich wird es am 5. und 6. Mai den nächsten Generalstreik geben. Die Linke in Griechenland steht vor großen Herausforderungen.
Die »Bild«-Zeitung hier in Deutschland schrieb kürzlich über Griechenland: »Ohne ›Fakelaki‹ geht gar nichts«. Das Wort »Fakelaki« ist die Verniedlichungsform von »Fakelo« (Briefumschlag) und symbolisiert die alltägliche Bestechung. Die nichtstaatliche Antikorruptionsorganisation Transparency International hat ausgerechnet, dass eine Durchschnittsfamilie 1700 Euro Schmiergeld im Jahr zahlt. Warum ist Korruption in Griechenland so weit verbreitet?
Ich weiß nicht, woher Transparency International seine Zahlen nimmt. Damit will ich nicht sagen, dass es keine Korruption gibt. Aber sie ist nicht so weit verbreitet, wie die Medien uns glauben machen wollen. Deswegen bin ich sehr vorsichtig, was diese Berichte über »Fakelaki« angeht. Man braucht sich nur anzusehen, wie damit umgegangen wird. Die Medien pushen diese Berichte regelrecht – mit versteckter Kamera werden Ärzte in Krankenhäusern dabei gefilmt, wie sie Bestechungsgelder annehmen. Es werden in den Zeitungen Geschichten über Finanzbeamte verbreitet, die mit einem Packen markierter Banknoten in den Taschen gefasst werden usw. All diese Gruselgeschichten haben etwas gemeinsam: Sie richten sich immer gegen Angehörige des Öffentlichen Diensts. Die Medien führen eine ständige Schmutzkampagne gegen Staatsbedienstete.
Sie behaupten, es gebe zu viele, ihre Beschäftigung sei nur eine Begünstigung der Regierung, sie würden nicht arbeiten und so weiter. Die »Fakelaki«-Legende ist Teil dieser Schmutzkampagne. Es gibt zwei Gründe, warum die Medien den Staatsbediensteten so feindlich gesinnt sind: Der erste ist das große Staatsdefizit. Die Regierung bemüht sich, die Gehälter im öffentlichen Dienst zu senken (es wird gerade Druck von der Europäischen Kommission ausgeübt, die Zulagen für den Oster- und Sommerurlaub zu streichen) und so viele »unnötige« Arbeitsplätze wie möglich abzuschaffen.
Eine der ersten Handlungen der »sozialistischen« PASOK-Regierung nach Machtantritt bestand in der Entlassung der »Stage«-Arbeiter. Das waren junge Leute, die als Zeitarbeiter vom Staat über ein besonderes Ausbildungsprogramm der EU (»Stage«) mit rund 500 Euro im Monat beschäftigt waren, allerdings ohne jede Sozialversicherung.
Der zweite Grund für die Schmutzkampagne ist politischer Natur: Angestellte des Öffentlichen Diensts können auf eine lange, kämpferische Tradition zurückblicken und hatten immer einen hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad. Öffentliche Angestellte wie Lehrer, Krankenhauspfleger, Müllarbeiter usw. sind unkündbar. Diese Art der »Privilegien« treiben die herrschende Klasse in den Wahnsinn. Die Ärzte in den öffentlichen Krankenhäusern, die angeblich so korrupt sind, dass Patienten ohne »Fakelaki« nicht behandelt werden, widersetzten sich auch einem rassistischen Gesetz, das sie verpflichtete, die Polizei zu rufen, wenn ein illegaler Immigrant zu ihnen kommt. Statt sie der Polizei zu übergeben, entschieden die Ärztegewerkschaften, Immigranten zu behandeln, ohne sie zu fragen, ob sie sich legal oder illegal im Land aufhalten. Das nächste Mal, wenn du hörst, dass die Ärzte der öffentlichen Krankenhäuser in Griechenland nicht nur korrupt sind, sondern auch keinen Respekt für Gesetze haben, dann weißt du, worum es geht.
Arbeiterkämpfe haben eine lange Tradition in Griechenland. Es gibt durchschnittlich jedes Jahr einen oder zwei Generalstreiks. Wie haben die Gewerkschaften auf die Kürzungspläne der sozialdemokratischen Regierung reagiert?
Die Streikwelle gegen die Kürzungspläne begann mit einem »inoffiziellen« Generalstreik am 17. Dezember, der von der Lehrergewerkschaft initiiert worden war. Er wurde jedoch von den beiden Dachverbänden des privaten und öffentlichen Sektors, GSEE und ADEDY, verurteilt. Die Führung der Dachverbände wird politisch von den Sozialdemokraten dominiert. Der Streik mobilisierte dennoch hunderttausende Arbeiter und zwang die Führung von ADEDY, dann doch zu einem 24-stündigen Streik am 10. Februar aufzurufen. Zu ihrer Schande ignorierte die GSEE die vielen Appelle, am gleichen Tag ebenfalls zum Streik aufzurufen. Schlimmer noch, um die Wut zu zerstreuen und die Bewegung zu spalten, rief sie zu einem eigenen, separaten Generalstreik am 24. Februar auf.
Der Schuss ging aber nach hinten los. Anstatt sich einfach damit zu begnügen, die GSEE-Führung an den Pranger zu stellen, drängten die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes die ADEDY-Führung, auch zu einem Generalstreik am 24. Februar aufzurufen. Mit Erfolg. Schätzungsweise 2,5 Millionen Arbeiter beteiligten. Das zwang die Führung beider Dachverbände, zu einer außerordentlichen Demonstration vor dem griechischen Parlament am 5. März, dem Tag der Verabschiedung der Kürzungspläne, und zu einem erneuten Generalstreik am 11. März aufzurufen.
Die Regierung tut alles in ihrer Macht stehende, um die Mobilisierungen zu vereiteln. Und die herrschende Klasse wird alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, um der Regierung beizustehen. Die Konservativen unterstützen die Kürzungspläne, die rechtsextreme LAOS unterstützt die Kürzungen, die Medien unterstützen sie.
Anstatt den Widerstand zu organisieren, versuchen Teile der Gewerkschaftsbürokratie, die Wut abzulenken. Die GSEE hatte gerade ihre Jahreskonferenz, auf der viel debattiert, aber keine Mobilisierung beschlossen wurde. Giannis Panagopoulos, Generalsekretär der GSEE, verkündete die Unterstützung des Dachverbandes für die Kürzungspläne, die »in die richtige Richtung« wiesen. Doch diese Orientierung stößt an der Basis auf Widerstand.
Was erwartest du für die kommenden Monate?
Die herrschende Klasse und die Regierung werden ihre Angriffe gegen die Arbeiterklasse eskalieren lassen. Ihr Kürzungsprogramm lässt sich nur mit dem von Thatcher gegen die britische Arbeiterklasse zu Beginn der 1980er Jahre vergleichen. Tausende kleinerer Betriebe werden bankrott gehen und zehntausende Arbeiter entlassen. Die Deutsche Bank schätzt, dass sich die Arbeitslosenzahlen im Laufe des Jahres verdoppeln werden. Ob diese Vorhersagen eintreten oder nicht, hängt vom Ausmaß des Widerstandes ab. Unsererseits sind wir zu allem bereit, um eine Niederlage der Herrschenden herbeizuführen.
Sie sagen immer wieder: »Aber es gibt kein Geld«. Doch es ist genug Geld da. Griechenland gibt Jahr für Jahr 4,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für die »Verteidigung« aus. Das entspricht genau dem Umfang der geplanten Kürzungen. Warum nicht den Verteidigungsetat streichen?
Der diesjährige Haushaltsplan umfasst 13 Milliarden Dollar allein an Zinszahlungen für die Banken. Das sind aber genau die Banken, denen die Regierung vorwirft, gegen die »nationale Wirtschaft« zu zocken. Warum die Zinszahlungen an diese Erpresser und Profiteure nicht einfach einstellen?
Die Regierung hat den Krieg gegen die »Steuerhinterziehung« erklärt. Die Lohnsteuerquote macht nur 7,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus, das sind 5 Prozent weniger als der europäische Durchschnitt. Nach dem neuen Gesetz werden hunderttausende Arbeiter und Rentner herangezogen, die bisher als zu arm galten, um Steuern zu zahlen. Aber die Schiffseigner – Griechenland besitzt die weltweit größte Handelsflotte – bleiben von der Steuerpflicht verschont. Ihr Recht auf Befreiung von der Steuer wurde 1967 unter der damaligen Militärregierung beschlossen und seitdem hat keine Regierung gewagt, dieses Gesetz anzutasten. Reichensteuern wären eine realistische Alternative zum Thatcherprogramm unserer »sozialistischen« Regierung.
Das wird kein einfacher Kampf sein. Es wird auch keine kurze Auseinandersetzung sein. Wir werden einen tagtäglichen Kampf führen müssen gegen jeden einzelnen Versuch, uns für die Krise zahlen zu lassen. Gleichzeitig werden wir versuchen, eine starke antikapitalistische Alternative aufzubauen, damit wir für jene großen geschichtlichen Momente, die zweifelsohne auf uns zukommen, gewappnet sind.
(Die Fragen stellte Yaak Pabst)
Zur Person:
Sotiris Kontogiannis ist Sozialist und arbeitet als Journalist. Er lebt in Athen.
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