In Spanien protestieren seit Monaten zehntausende Studierende gegen die Bildungspolitik der sozialdemokratischen Regierung. Isaac Salinas Ávila sprach mit Roser Vime aus Barcelona über die Ursachen und Perspektiven des Protestes.
Isaac Salinas Ávila: Was hat zu den Massenprotesten der Studierenden in Spanien geführt?
Roser Vime: Seit einigen Jahren ist in Spanien der Kampf gegen den Bologna-Prozess der Schwerpunkt der meisten Fachschaftsversammlungen (FSV). Das sind die Hauptorgane der studentischen Organisation landesweit. Der Bologna-Prozess ist der Versuch der EU, ein einheitliches europäischen Hochschulwesens zu schaffen. Allerdings bewirkte bis vor kurzem die fehlende Klarheit bezüglich der Umsetzung des so genannten »Europäischen Raumes für Hochschulbildung« (ERH) eine gewisse Gleichgültigkeit unter den Studierenden. Sie hielten es nicht für eine Bedrohung für das öffentliche Bildungssystem. Daher war es unmöglich, eine breite und kämpferische Bewegung aufzubauen.
Man darf nicht vergessen, dass die Bologna-Erklärung, die von einer Versammlung der europäischen Bildungsminister am 19. Juni 1999 entworfen wurde, ausschließlich eine Absichtserklärung ist. Sie besteht nur aus drei Seiten. In dieser Erklärung setzt man darauf, einen einheitlichen europäischen Raum für Hochschulbildung zu etablieren und gleichzeitig das europäische Hochschulbildungssystem weltweit zu bewerben. Dafür stützten sie sich auf drei Schwerpunkte: Erstens auf die Durchsetzung des ECTS-System. Das ist der Erwerb von Leistungspunkten, die bei einem Wechsel von einer Hochschule zur anderen, auch grenzüberschreitend, anrechenbar sind. Zweiter Schwerpunkt ist die Förderung der Mobilität durch die Beseitigung der Hindernisse, die den Studenten für einen einfachen effektiven Austausch im Weg stehen und dritter ist die Annahme eines Systems, das hauptsächlich auf zwei wesentlichen Abschlüssen beruht: »Grado« und »Postgrado«.
Um den Kampf gegen die Durchsetzung des ERH zu verstehen, muss man berücksichtigen, dass die EU im Bildungsbereich keine Kompetenz hat. Das so genannte LOU ist das Gesetz, das in Spanien die Umsetzung der ERH darstellt. Dieses Gesetz wurde 2001 von der konservativen Aznar-Regierung verabschiedet und nachher von der sozialdemokratischen PSOE (Spanische Sozialistische Arbeiterpartei) nur leicht verändert.
Allgemein wird die Durchführung dieses Gesetzes weitgehend die Marktlogik in das Bildungssystem integrieren und dieses privatisieren. Es verursacht Elitenbildung durch die Verteuerung des Universitätszugangs. Der niedrige Wert des »Grado«, die Erhöhung der Studiengebühren, die Preise der Master, das mangelnde Studienprogramm, die Unvereinbarkeit von Arbeit und Studium – das sind nur einige der Folgen des Gesetzes. Sie werden sich negativ auf das öffentliche Bildungssystem auswirken und ermöglichen, dass es ein Teil der marktliberalen Logik wird.
Welche Forderung haben die Studierenden?
Der Anfang des Wintersemesters hat alle Erwartungen hinsichtlich der Mobilisierungen übertroffen. Nicht einmal die zuversichtlichsten Leute hätten gedacht, dass die Besetzungen von Fakultäten sich landesweit ausdehnen würden. In Barcelona wurden die Lehrveranstaltungen in einer philosophischen Fakultät länger als einen Monat gestoppt. Das Gebäude der Uni-Leitung einer anderen Hochschule der Stadt blieb sogar über Weihnachten besetzt. Diese Aktionen führten zu einem Domino-Effekt, indem sie zusätzliche Besetzungen in weiteren Städte nach sich zogen.
Ein Grund dieses Erfolgs war der andere Umgang mit unseren bisherigen Forderungen. Zum ersten Mal im Kampf gegen den Bologna-Prozess wurde die pessimistische Einstellung überwunden und positive Vorschläge gemacht. In dieser Hinsicht fordern die Studierenden landesweit, dass die Zwangsexmatrikulationen von sechs Studierenden rückgängig gemacht wird, die wegen der Teilnahme an Protestaktionen vom weiteren Studium ausgeschlossen worden sind. Man darf niemanden wegen des Kampfes gegen den Bologna-Prozess kriminalisieren.
Außerdem fordern wir die Verwirklichung verbindlicher Umfragen an den Hochschulen, um alle Betroffenen zu befragen, ob man die Durchführung des Gesetzes blockieren sollte. Das wurde schon an einigen Hochschulen in Barcelona und Madrid gemacht, mit dem Ergebnis, dass mehr als 90 Prozent der Studierenden gegen den Bologna-Prozess gewählt haben. Der verbindliche Charakter der Umfrage ist besonders wichtig, weil ihr Ergebnis von der Leitung jeder Uni unbedingt wahrgenommen werden muss.
Wir meinen, dass der Aufschub der Durchührung der ERH unabdingbar ist, um eine öffentliche Debatte mit verschiedenen Akteuren zu eröffnen, also mit Professoren, Universitätsangestellten, sozialen Bewegungen un anderen. Wir wollen darüber reden, was für eine Universität wir wollen, um zu gewährleisten, dass sie der Gesellschaft statt dem Markt dient.
Jenseits dieser gemeinsamen Forderungen hat jede FSV vor Ort ihre eigenen zusätzlichen Ansprüche. Als Bewegung hat uns die Forderung nach einer öffentlichen Debatte viel Kraft gegeben. Zugleich hat man uns jedoch mehrmals einen inhaltlosen »Dialog« angeboten. Doch weder die Uni-Leitung noch die Regierung haben je einen Aufschub der ERH ermöglicht.
Welche Rolle spielt die politische Linke in der Bewegung?
Heute ist die studentische Bewegung eine Basisbewegung, deren Kern von den FSVs gebildet wird. Sie sind die Organe, welche die Studierenden in jeder Fakultät vertreten. Hier treffen die Studierenden ihre Entscheidungen.
Dank dieser neuen Bewegung konnten die FSVs neue Leute einbinden, die sich bisher noch nicht an Protestaktionen beteiligt hatten. Folglich ist derzeit die Rolle der linksradikalen Organisationen in der Bewegung ganz speziell. Sie nehmen an ihr teil und treiben die FSVs voran. Sie bringen ihre organisatorische, kämpferische und strategische Erfahrung mit. Sie agieren jedoch stets als Einzelne innerhalb der FSVs und selten explizit als Mitglieder ihrer eigenen Organisation.
Andererseits ist in diese Bewegung keine Organisation der institutionellen Linken eingebunden. Die linken Parteien haben sich nicht nur von uns ferngehalten, sondern sie haben sogar die Kriminalisierung der Bewegung vorangetrieben. Der kleinste Hinweis genügt: In Barcelona ist Joan Saura (der Vertreter der grünen-linken Partei ICV) der Abgeordnete der katalanischen Polizei. Diese hat systematisch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer studentischer Kundgebungen angegriffen.
Darüber hinaus leidet die studentische Bewegung unter einer Kriminalisierung seitens der Medien. Man hält uns für eine radikale und gewalttätige Minderheit. Jedenfalls darf man nicht vergessen, dass diese neue Bewegung viel Potenzial hat und einen entscheidenden Druck ausüben kann, zumal sie sehr kämpferisch ist. Eine ihrer größten Herausforderungen ist, den Rest der Gesellschaft zu erreichen und der Manipulation der Massenmedien entgegenzuwirken.
Wie soll es weiter gehen?
Zu Beginn des Wintersemesters war das Entscheidende, die Befestigung der neuen FSVs und die Einbindung von neuen Aktivistinnen und Aktivisten zu erreichen. Viele FSVs sind enorm gewachsen und viele neue sind entstanden. Das bedeutet einen Erfolg der Bewegung, aber das reicht nicht. Wir müssen sie weiter stärken.
Bisherige Erfahrungen haben uns gezeigt: Die Besetzungen der Fakultäten ohne Blockierung der Lehrveranstaltungen üben keinen ausreichenden Druck auf die Uni-Leitung und die Regierung dar. Es gibt in dieser Hinsicht ein deutliches Beispiel: Die einzige FSV, der es gelungen ist, in Verhandlungen mit der Uni-Leitung zu treten, ist die UAB. Sie ist die einzige FSV landesweit, die die Lehrveranstaltungen gestoppt hat. Wir müssen diese Strategie anwenden, um unser Ziel zu erreichen: den Bologna-Prozess zu stoppen. Aber dafür muss sich die Radikalität unserer Forderungen und unseres Vorgehens weiter steigern. Die Verhinderung der Lehrveranstaltungen, der unbefristete Streik und die Durchsetzung von Protestaktionen könnten dafür geeignete Mitteln sein.
Eine weitere Herausforderung der Bewegung ist, eine stärkere landesweite Koordination zu schaffen. Bislang gab es eine geringe Koordinierung durch ein landesweites Treffen, das eine erste Kontaktaufnahme ermöglicht hat. Diese hat dazu gedient, unterschiedliche Erfahrungen auszutauschen. Es ist jedoch notwendig, einen Terminplan von gemeinsamen Mobilisierungen und Protestaktionen aufzustellen.
Außerdem besteht meiner Ansicht nach die Notwendigkeit, die studentische Bewegung mit dem Rest der sozialen Bewegungen zu verbinden, da wir ein Solidaritätsnetzwerk aufbauen wollen. Die Zusammenarbeit mit Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schülern ist unerlässlich, um die Durchführung der ERH zu verhindern. Wir streben die Aufstellung eines Terminplanes gemeinsamer Mobilisierungen an, die dabei helfen sollen, einen Generalbildungsstreik auszurufen. Damit soll der Bewegung zu einem Sieg über dem Bologna-Prozess verhoilfen werden.
Zu den Personen:
Roser Vime ist Aktivistin der studentischen Bewegung in Barcelona und Mitglied der sozialistischen Gruppe »En Lucha«. Isaac Salinas Ávila studiert an der Humboldt Universität in Berlin und ist aktiv im Sozialistischen Demokratischen Studierendenverband (SDS.Die Linke).