{nomultithumb}Europaweit lassen die etablierten Parteien Federn, neue politische Kräfte wie die Piraten befinden sich im Aufwind. Das hat auch Auswirkungen auf DIE LINKE. Von Lucia Schnell
Erst ungläubiges Staunen, dann grenzenloser Jubel: Die Außenseiter haben es geschafft. Ohne Geld und ohne Parteistrukturen haben sie die Etablierten ausgeknockt. Nein, es ist nicht die Wahlkampfparty der Piratenpartei in Saarbrücken. Wir befinden uns in Bradford. Die nordenglische Industriestadt ist seit Jahrzehnten ein Erbhof der Labour Party. Doch dann kommt George Galloway, Ex-Labour-Abgeordneter, Kriegsgegner und Frontmann der kleinen linken Partei RESPECT.
Im Wahlkreis Bradford West findet Ende März eine Nachwahl zum Unterhaus, dem britischen Parlament, statt – und Galloway erreicht, so seine eigene Einschätzung, »den sensationellsten Wahlsieg unserer Geschichte«. Es ist in der Tat ein politisches Erdbeben, über das am folgenden Tag die gesamte britische Medienlandschaft debattiert: Er gewinnt den Wahlkreis mit einem Stimmenanteil von 56 Prozent, erzielt also mehr Stimmen als alle anderen Kandidaten zusammen.
Linksfront in Frankreich
Paris, Place de la Bastille, am 18. März: Hier steht der Mann, den bei der französischen Präsidentschaftswahl bislang keiner auf dem Zettel hatte: Jean-Luc Mélenchon, ehemaliges Parteimitglied der Sozialisten, jetzt Spitzenkandidat der Front de Gauche, der Linksfront. Er ist sozusagen der französische Oskar Lafontaine. Wie Lafontaine war er Ende der 1990er Jahre Minister einer sozialdemokratisch geführten Regierung, wie Lafontaine brach er mit der Sozialdemokratie und gründete eine Linkspartei, die Parti de Gauche.
Mélenchon ist nicht allein auf der Place de la Bastille, sondern hat für seine Massenkundgebung 100.000 Anhänger mitgebracht. Es ist der bisherige Höhepunkt der Wahlkampagne der Front de Gauche. Ihr Kandidat ist der Senkrechtstarter der Präsidentschaftswahl, Mélenchons Umfragewerte sind binnen weniger Wochen von zwei auf fünfzehn Prozent gestiegen. Gegenwärtig liefert er sich mit Marine Le Pen von der rechtsradikalen Front National einen Wettkampf um Platz drei.
›Widerstand, Widerstand‹
Spiegel Online beschreibt halb fasziniert, halb angewidert den Charakter von Mélenchons Kampagne: »Sein Publikum ist anders. Die Menschen, die am Dienstagabend vor der Bühne des ›Grand Palais‹ in Lille versammelt sind, haben wenig gemein mit den braven Bürgern von Nicolas Sarkozy oder den biederen Genossen des François Hollande. Hier überwiegen gegerbte Gesichter, gestandene Arbeiter, Studenten und Schüler mit glänzenden Augen. Sie rufen Slogans wie ›Gebt nichts ab‹ oder skandieren schlicht ›Widerstand, Widerstand‹. Die gefühlte Stimmung brodelt vor revolutionärem Elan, als Mélenchon vor 15.000 Fans ans Podium tritt – vor der Halle haben sich weitere 7000 Zuhörer eingefunden.«
Eine Umfrage von Ende März zeigt, dass 36 Prozent der Franzosen meinen, Mélenchon führe den besten Wahlkampf – weit vor Sarkozy, Hollande und Le Pen. Seine Slogans sind »la place au peuple« (»Platz für das Volk«) und »prenez le pouvoir« (»Ergreift die Macht«). Damit klagt er die Aushöhlung der Demokratie durch das dominierende Parteienkartell aus Konservativen und Sozialdemokratie an.
Unzufrieden mit den Parteien
Saarbrücken ist nicht Bradford und die Piraten sind nicht die »Front de Gauche«. Dennoch gibt es ein verbindendes Element zwischen den politischen Verschiebungen in England, Frankreich und dem kometenhaften Aufstieg der Piraten in Deutschland. Alle drei resultieren aus einer tiefen Unzufriedenheit mit den vorhandenen Parteien.
Die Platzhirsche des politischen Systems, Konservative und Sozialdemokratie, haben mit unterschiedlichen Akzenten ähnliche Schlussfolgerungen aus der Wirtschaftskrise gezogen: Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit und strikte Sparpolitik. Die Kosten sollen auf die Beschäftigten, Arbeitslosen, Rentner und Jugendlichen abgewälzt werden. Die Banken, Verursacher der Krise, erfreuen sich hingegen an staatlichen Schutzmaßnahmen und weiter sprudelnden Profiten.
Heraus aus dem Abseits
Diese Politik hat die schon seit Jahren bestehende Krise der politischen Repräsentanz noch verschärft. In das dadurch geschaffene Vakuum können Kräfte hineinstoßen, die bislang am Rande standen und binnen kürzester Zeit zu unerwarteter Prominenz kommen. Galloway war bis zu seinem Sieg in Bradford, auch durch missglückte Publicity-Stunts wie seinem Fremdschämauftritt beim britischen Prominenten-»Big Brother«, ins politische Abseits geraten.
Mélenchons Kandidatur haben die Medien zunächst unter »linker Spinner« abgebucht und ihn zu Beginn der Kampagne nicht einmal erwähnt. Und die Piraten haben bei der letzten Bundestagswahl gerade einmal zwei Prozent der Stimmen geholt. Dass sie nur drei Jahre später mit den Grünen um den dritten Platz bei den Umfragewerten konkurrieren würden, hat wohl niemand für möglich gehalten – am wenigsten sie selber.
Frühphase der LINKEN
Mitgliedern und Anhängern der LINKEN dürfte die Dynamik, die die Piraten jetzt entfalten, bekannt vorkommen. Es ist der gleiche Prozess, der ihre Partei in der Frühphase in zahlreiche westdeutsche Landesparlamente brachte und ihr im Jahr 2009 ein herausragendes Bundestagswahlergebnis von 11,9 Prozent bescherte.
DIE LINKE wurde damals als Alternative zu den Etablierten wahrgenommen und gewann als einzige Partei massiv Nichtwählerstimmen. Die Mehrheit erklärte, aus Protest für DIE LINKE gestimmt zu haben, nur eine Minderheit gab an, eine tiefere politische Bindung zu haben. Genau diese Protestwähler verliert die Partei jetzt wieder. Sie gehen entweder gar nicht mehr wählen oder stimmen für die Piraten.
Ein Drittel Nichtwähler
Laut ARD-Deutschlandtrend hat von den gegenwärtig 3,3 Millionen potenzieller Piraten-Wähler ein Drittel an der letzten Bundestagswahl gar nicht teilgenommen. Den größten Zuwachs erhält die Partei von der FDP. Rund 600.000 ehemalige Liberalenwähler würden jetzt für die Freibeuter stimmen. Eine halbe Million Stimmen kommt von der LINKEN, 400.000 von der SPD, jeweils etwa 250.000 von Union und Grünen.
Das Fazit der Meinungsforscher: »Den Piraten gelingt es, die Unzufriedenen einzusammeln – sowohl jene, die bei der letzten Wahl zu Hause geblieben sind, als auch jene, die von den bisher gewählten Parteien, vor allem der FDP und der Linken, enttäuscht sind.«
Mehr als Netzpolitik
Zu kurz greifen die Analysen, die den Erfolg der Piraten lediglich mit dem Thema Netzpolitik erklären wollen. So gaben 40 Prozent der Piratenwähler im Saarland an, »soziale Gerechtigkeit« sei ihnen am wichtigsten gewesen, nur 27 Prozent nannten hingegen Netzpolitik. Außerdem gaben 94 Prozent der Piratenwähler an, die Partei sei eine gute Alternative für Nichtwähler. Zudem meinten 84 Prozent, die Piraten seien eine gute Alternative zu den etablierten Parteien. Und 83 Prozent hoffen, dass die Piraten dafür sorgen, die Politik offener und transparenter zu machen.
In der Zustimmung für die Piraten drückt sich also ein Protest gegen die etablierten Parteien und den etablierten Politikbetrieb aus – und zwar auf einer sozialen Grundlage, der Wahrnehmung einer sozialen Schieflage der Gesellschaft. Die Piraten drücken eine diffus-linke Proteststimmung aus. Das ist relativ unabhängig davon, welche Positionen sie vertreten. Die sind nämlich oftmals nicht links.
Piraten für Schuldenbremse
Während zum Beispiel im saarländischen Wahlprogramm viele Punkte recht allgemein gehalten sind, bekennt sich die Partei eindeutig zur Schuldenbremse im Grundgesetz. Die wird von den etablierten Parteien genutzt, um massive Sozialkürzungen zu rechtfertigen. Im Piraten-Programm heißt es sogar: »Das Ziel eines ausgeglichenen Haushaltes ohne Neuverschuldung hat für uns unter dem Gesichtspunkt einer nachhaltigen, zukunftsorientierten Wirtschaftspolitik oberste Priorität.« Gelder müssten, argumentieren die Piraten, vor allem in der Verwaltung eingespart werden, um diese effizienter zu organisieren. Das ist nur eine andere Formulierung für Stellenabbau im öffentlichen Dienst.
Solche Positionen können im Falle einer Regierungsbeteiligung der Piraten bittere Folgen haben. Und zumindest ein Teil der Partei strebt eine Regierungsbeteiligung an. Ihr Bundesvorsitzender Sebastian Nerz sagte nach der Saarlandwahl: »Wir wollen langfristig Politik in Regierungen gestalten und nicht als Protestpartei beschrieben werden. Das Interesse der anderen Parteien ist groß. Da gibt es intensive Gespräche.«
Strategisch offen
Insgesamt ist die Partei strategisch nicht festgelegt. Überlegungen darüber, ob sie ihre Ziele über das Parlament, durch außerparlamentarische Bewegungen oder die Veränderung des individuellen Verhaltens erreichen wollen, stecken noch in den Kinderschuhen. Dabei zielen zahlreiche ihrer Forderungen darauf, die Macht der Konzerne zu brechen. Diese Forderungen sind nur durch große Mobilisierungen durchzusetzen.
Neben der politischen Heterogenität ist ein weiteres Problem der Piraten ihre flächendeckende Strukturlosigkeit: Sie sind weitestgehend eine Papier- und Online-Diskutierpartei ohne lokale Gliederungen. Geschäftsführerin Marina Weißband spricht es offen aus: »Wir haben das Geld einer 0,2-Prozent-Partei, Programm und Struktur einer 2-Prozent-Partei – aber an uns werden die Erwartungen einer 12-Prozent-Partei gestellt.«
Die weitere Entwicklung der Piraten ist also offen. Es ist durchaus denkbar, dass sie aufgrund der zahlreichen ungelösten Widersprüche noch vor der Bundeswahl wieder abstürzen – auch die Grünen konnten ihr Nach-Fukushima-Hoch nicht halten.
Das kleinere Übel
Absehbar ist auf jeden Fall, dass SPD und Grüne im kommenden Jahr behaupten werden, dass jede Stimme für die Piraten – und natürlich auch für DIE LINKE – ein mögliches rot-grünes Regierungsbündnis in Gefahr bringe. Da viele Piratenwähler gerne die schwarz-gelbe Koalition beenden wollen, kann diese Kampagne durchaus Druck aufbauen.
Doch es ist ebenfalls möglich, dass sich die Piraten langfristig etablieren und mit der LINKEN um diejenigen konkurrieren, die den rot-grünen Heilsversprechungen misstrauen. Eine Herausforderung stellen die Piraten allemal dar. Ihre Existenz ist eine deutliche Kritik an dem Stil und der Gleichförmigkeit des Politikbetriebs, von dem sich auch DIE LINKE zu selten abhebt.
Trümpfe der LINKEN
Dennoch hat DIE LINKE einige Trümpfe in der Hand, die sie in der Konkurrenz mit den Piraten ausspielen kann: Die Analyse, dass die Gesellschaft zwischen Reich und Arm, zwischen Kapital und Arbeit gespalten ist, und die Tatsache, dass sie Position für die Schwächeren bezieht. Aus einem solchen Klassenstandpunkt folgen dann politische Positionierungen, zum Beispiel zum Mindestlohn und zum Afghanistankrieg.
Außerdem benennt DIE LINKE die Ursachen gesellschaftlicher Probleme: Es ist nicht der Machtmissbrauch einzelner Konzerne, sondern der Kapitalismus als Ganzes. Daraus folgt eine Strategie, die auf Gegenmacht setzt, auf Bewegung und Klassenkämpfe. DIE LINKE sollte also daran arbeiten, sich in den kommenden sozialen Protesten zu profilieren. So kann sie deutlich machen, dass Aktivitäten gegen die herrschenden Verhältnisse nach wie vor ihr Kerngeschäft sind.
Zur Person:
Lucia Schnell ist aktiv in der LINKEN in Berlin und Mitglied des SprecherInnenrats der Sozialistischen Linken.
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