Im Herbst findet die Bundestagswahl statt. Fünf Thesen des Netzwerks marx21, wie DIE LINKE ihre Krise überwinden und wieder neue Anhänger gewinnen kann
1. Das schlechte Ergebnis der LINKEN bei der Niedersachsenwahl zeigt: Die Perspektive eines »Hilfsarbeiters« in einem wie auch immer gearteten »rot-grünen Projekt« überzeugt weder Partei noch Wählerinnen und Wähler.
Das Versprechen, nur mit der LINKEN gebe es einen Regierungswechsel, hat die meisten Wählerinnen und Wähler in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen nicht überzeugt. Selbst diejenigen, die an diese Perspektive geglaubt haben, sind durch die scharfe Absage der SPD an eine Zusammenarbeit demobilisiert worden.
Die Nähe von Kanzlerkandidat Peer Steinbrück zu Banken und Konzernchefs hat die Sozialdemokratie in eine Krise gestürzt. Dennoch ist es der LINKEN bei der Landtagswahl in Niedersachsen nicht gelungen, der SPD Wählerinnen und Wähler abzujagen. Im Gegenteil: Sie hat sogar 15.000 Stimmen an die Sozialdemokratie verloren und weitere 17.000 an die Grünen.
Offensichtlich war die Argumentation dieser beiden Parteien überzeugender, eine Stimme für DIE LINKE sei wertlos, weil sie ohnehin an der Fünfprozenthürde scheitern würde. Nach Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen fand nun in Niedersachsen die dritte Landtagswahl statt, die gezeigt hat, dass rot-grüne Mehrheiten auch ohne DIE LINKE möglich sind. Die Argumentation, Rot-Grün käme nur mit den Stimmen der LINKEN zustande, ist nicht nur falsch, sondern sie lässt die Linkspartei überflüssig erscheinen.
Die Orientierung darauf, vermeintlich Einfluss auf die Politik von SPD und Grünen (ob in oder außerhalb von Regierungskoalitionen) nehmen zu können, ist nicht zielführend. Sie leistet der Illusion Vorschub, DIE LINKE könnte allein Kraft stärkerer parlamentarischer Repräsentanz einen Politikwechsel erzwingen. Doch das ist nicht realistisch. Vielmehr verstärken wir durch die Unterstützung eines rot-grünen Lagerwahlkampfes (Abwahl von Schwarz-Gelb als gemeinsames Ziel der »linken« Parteien) Illusionen in die Politik des »kleineren Übels«. Zudem verleihen wir so indirekt den linken Wahlkampfphrasen von SPD und Grünen eine gewisse Glaubwürdigkeit.
Die objektiven Bedingungen sind zurzeit schwierig für DIE LINKE: Die vergleichsweise gute wirtschaftliche Situation Deutschlands stärkt Bundeskanzlerin Angela Merkel, das Niveau der Arbeitskämpfe und außerparlamentarischen Bewegungen ist gegenwärtig niedrig. Außerdem haben Politiker von SPD und Grünen in der Opposition mehr Raum, linke Reden zu schwingen. Vor allem die Sozialdemokratie kann so den Boden, den sie in den Gewerkschaften an DIE LINKE verloren hat, wieder gut machen.
Doch aus dieser schwierigen Situation befreit sich die Partei nicht dadurch, dass sie sich selbst auf eine Funktionspartei und Mehrheitsbeschafferin für Rot-Grün reduziert. Dass wir SPD und Grüne zu Versprechungen nötigen, die sie nach den Wahlen wieder fallenlassen, genügt weder als Existenzberechtigung für unsere Partei noch motiviert es unsere Mitglieder. Vielmehr muss DIE LINKE ein eigenständiges Profil entwickeln und ihre Alleinstellungsmerkmale in den Vordergrund stellen, ansonsten wird sie im anstehenden Lagerwahlkampf aufgerieben. Alle Argumente für die Bildung eines »linken Lagers« unter Einschluss der LINKEN, das dem bürgerlichen Lager aus CDU und FDP gegenübersteht, haben sich in Niedersachsen als falsch herausgestellt. Wir brauchen eine ganz andere Vision vom Sinn der Partei und der Art des Parteiaufbaus.
2. Um aus der Krise zu kommen, ist ein Perspektivwechsel notwendig. Will DIE LINKE gesellschaftliche Veränderungen erreichen, muss sie sich langfristig von »Lagerdenken« und Koalitionsarithmetik befreien und stattdessen ihren Fokus auf die Verankerung vor Ort legen.
Wenn der zentrale Fokus einer Partei das Parlament ist, dann sind die 3,1 Prozent, die wir in Niedersachsen erhalten haben, eine Katastrophe. Denn sie stellen das Ende der parlamentarischen Präsenz in diesem Bundesland dar. Wir können die Dinge aber auch andersherum betrachten: 116.000 Menschen haben der LINKEN ihre Stimme gegeben – das sind immer noch fast sechsmal so viel, wie die PDS zu ihren besten Zeiten in Niedersachsen erreicht hat. Dieser Wählerschaft stehen gegenwärtig 3.000 Mitglieder gegenüber. Das heißt: Auf ein Mitglied kommen 39 Wählerinnen und Wähler.
Jetzt steht die Partei vor der Aufgabe, diese passive Unterstützung in ein aktives Verhältnis zu verwandeln. Presseerklärungen und gutes politisches Agieren in den Parlamenten legen die Grundlage für ein politisches Verhältnis der LINKEN zu ihrem Umfeld. Eine dauerhafte Einbindung und Aktivierung unserer Wählerinnen und Wähler wird aber nur durch die alltägliche Arbeit vor Ort gelingen. Wir brauchen eine kontinuierliche Präsenz der Partei vor Ort durch Veranstaltungen und Infostände. Darüber hinaus müssen wir uns dauerhaft in den lokalen Kämpfen, Initiativen und Bewegungen verankern.
Die Palette der Auseinandersetzungen im Stadtteil oder Landkreis ist breit: Sie reicht von gewerkschaftlichen Kämpfen über die wachsende Bewegung gegen Mietwucher und Gentrifizierung bis zu Aktionen gegen Neonazis und den Kampf gegen Studiengebühren. In diesen Bewegungen sind deutschlandweit Hunderttausende aktiv. Sie erwarten von der LINKEN mehr als ein aufmunterndes Schulterklopfen. Sie wollen, dass die Partei aktive Mitkämpferin wird. Wenn sich DIE LINKE mit diesen Kernen des Widerstands verbindet, hat nicht nur sie eine Zukunft – auch die Bewegungen von unten werden stärker. Das ist die Voraussetzung dafür, gesellschaftliche Kräfteverhältnisse zu verschieben. Denn nur so können wir tatsächlich Veränderungen im Sinne der Menschen durchsetzen.
3. Die Orientierung darauf, sich lokal zu verankern, führt zu einer anderen Art des Wahlkampfs. Er wird so zum Bestandteil einer kontinuierlichen Aufbauarbeit – und ist nicht mehr nur hektisches Plakatkleben ohne bleibenden Effekt.
Ende November vergangenen Jahres ließ ein Wahlergebnis die europäische Linke aufhorchen: Bei den Gemeinderatswahlen in Graz, der zweitgrößten Stadt Österreichs, wurde die KPÖ (Kommunistische Partei Österreichs) mit 19,9 Prozent der Stimmen zweitstärkste Kraft. Gegenüber der letzten Wahl konnte sie um 8,7 Prozentpunkte zulegen. Meinungsumfragen lüften das Geheimnis des Erfolgs: Für 87 Prozent der KPÖ-Wähler war die Wohnungspolitik für die Wahlentscheidung »sehr« oder »ziemlich wichtig«. Drei Viertel sprachen der KPÖ hier Kompetenz zu – mehr als allen anderen Parteien.
Diese Zustimmung war nicht vom Himmel gefallen, sondern das Ergebnis jahrelanger Arbeit. Bereits seit zwanzig Jahren widmet sich die KPÖ in Graz dem Thema Wohnungspolitik – und zwar nicht nur auf parlamentarischer Ebene. Die Partei hatte großen Anteil an der Gründung lokaler Mieterinitativen. Die unterstützte sie nicht nur organisatorisch, sondern auch finanziell, im Wesentlichen aus den Diäten der Gemeinderatsmitglieder. Dadurch gewann die KPÖ jene Glaubwürdigkeit, die sich nun in dem sehr guten Wahlergebnis widerspiegelte.
Auch wenn diese Erfahrung sich nicht komplett auf Deutschland übertragen lässt, enthält sie doch eine wichtige Lehre: Linke Parteien erwerben das Vertrauen der Menschen nicht dadurch, dass sie alle vier Jahre Plakate aufhängen, sondern dadurch, dass sie sich kontinuierlich vor Ort für die Lebensinteressen der Bevölkerung einsetzten, Initiativen anstoßen und unterstützen und so die Lage zum Besseren zu ändern. Deshalb sollte die Verbindung mit lokalen Kampagnen, Streiks und Bewegungen das zentrale Element des Wahlkampfes der LINKEN sein. Ansatzpunkte dafür gibt es vielerorts – sei es der Kampf gegen die Schließung des Opel-Werkes in Bochum, der Widerstand gegen die Mietpreisexplosion in Hamburg, das Volksbegehren zur Rekommunalisierung der Energieversorgung in Berlin, die Proteste zur Rückverstaatlichung der Universitätsklinik Marburg/Gießen oder die bundesweite Umfairteilen-Bewegung.
Eines sollte uns jedoch bewusst sein: Auch am Ende des bestmöglichen Wahlkampfs mit den tollsten Parolen und Projekten kann ein Ergebnis stehen, das die Mitglieder enttäuscht. Diese Erfahrung hat DIE LINKE im Jahr 2011 in Baden-Württemberg gemacht. Trotz eines aktivistischen Landtagswahlkampfs wurde die Partei von den Grünen überrollt und kam lediglich auf 2,8 Prozent der Stimmen. Der Grund war die Atomkatastrophe im japanischen Fukushima.
Daher ist es wichtig, dass im Prozess der Wahlkampfvorbereitung und im Wahlkampf selber schon Erfolge erzielt werden, die gegebenenfalls auch ein schlechtes Ergebnis überdauern. Das gilt sowohl für Bewegungen und Kämpfe, die auf ein höheres Level gehoben werden können, als auch organisatorisch. Der von der Partei geplante Aktivierungswahlkampf hat die Funktion, dauerhaft den Aktivitätsgrad der Mitglieder zu erhöhen und zugleich neue Mitstreiterinnen und Mitstreiter zu gewinnen. Je mehr LINKE-Unterstützerinnen und -Unterstützer sich in den Aktivierungswahlkampf einbringen, desto besser.
4. DIE LINKE muss Sozialdemokratie und Grüne an deren Achillesferse angreifen: ihrer Unterstützung für Merkels Krisenpolitik. Zentrale Bedeutung haben hierfür Bewegungsprojekte, die sich auf europaweite Kämpfe beziehen, wie zum Beispiel Blockupy in Frankfurt. Wenn es gelingt, den Widerstand gegen die Krise mit dem Wahlkampf zu verbinden, kann DIE LINKE auch über das Jahr 2013 hinaus profitieren.
Die offene Flanke von SPD und Grünen ist ihre Unterstützung für Merkels Eurokurs. Die beiden Parteien stehen hinter den Milliardenpaketen für die europäischen Banken, der sogenannten »Griechenland-Hilfe« und dem hiesigen Spardiktat, das via Schuldenbremse durchgesetzt wird. In diesen Fragen hat DIE LINKE nach wie vor ein Alleinstellungsmerkmal. Hier lässt sich die Glaubwürdigkeit einer »sozialen Wende« von SPD und Grünen angreifen. Mit der Großdemonstration im Frankfurter Bankenviertel kann es gelingen, die beiden Parteien praktisch herauszufordern. Dort müssten sie zeigen, wie ernst ihre Rhetorik gegen die Banken und für europäische Solidarität gemeint ist.
Wenn es der LINKEN zudem gelingt, sich – wie bei den erfolgreichen Blockupy-Mobilisierungen im vergangenen Jahr – auf einzelne Kampagnenschwerpunkte zu konzentrieren und diese als gesamte Partei mit all Ressourcen zu unterstützen, wird sie in Zukunft erfolgreicher sein. Auch wenn sich DIE LINKE für Bewegungsaktivisten öffnet und attraktive politische Angebote für Jugendliche und Studierende formuliert, kann sie neue Kraft tanken. Denn für die Demonstrantinnen und Demonstranten im Frankfurter Bankenviertel wird sich die Frage stellen, wie es gelingen kann, hierzulande mehr Menschen und größere Teile der Gewerkschaften für europaweite Solidarität zu gewinnen. Eine wichtige Frage ist, ob Merkel bei der Bundestagswahl scharfen Gegenwind gegen ihre Politik des Sozialkahlschlags in Europa zu spüren bekommt. Hier spielt DIE LINKE die zentrale Rolle. Mit einem bewegungsorientierten Wahlkampf können wir Aktivistinnen und Aktivisten auch für eine »wahlkampforientierte Bewegung« gewinnen.
5. An den Punkten, in denen SPD und Grüne mit der LINKEN zumindest verbal in eine Richtung ziehen – etwa bei der Forderung nach der Wiedereinführung der Vermögenssteuer – macht es einen Unterschied, ob reale Kämpfe existieren. Hier besteht für DIE LINKE die Chance, sich ein weiteres Alleinstellungsmerkmal zu erarbeiten.
Im Rahmen der großen Unterschriftenaktion zur Reichensteuer des Bündnisses Umfairteilen kann DIE LINKE bei gemeinsamen Aktivitäten mit dem rot-grünen Milieu nur gewinnen – vorausgesetzt sie überbietet die beiden anderen Parteien in ihrem Aktivitätsgrad und mit ihren Argumenten. Gerade in SPD-regierten Ländern wird der Widerspruch zwischen den sozialen Versprechungen der Sozialdemokratie und den realen Kürzungen auf Landesebene deutlich. Die Unterschriftenaktion ist auch eine gute Gelegenheit, die Mobilisierung zu den Blockupy-Protesten gegen Bankenmacht und EU-Spardiktat voranzutreiben.
Ähnliches gilt für aufkommende Bewegungen. In Rheinland-Pfalz hatte die SPD ihre Kreisverbände angewiesen, die Arbeitskämpfe der Cinestar-Angestellten zu unterstützen. Ähnliches sollte DIE LINKE auch tun. Es reicht nicht aus, nur verbal gegen Niedriglöhne aufzutreten – große Teile der Bevölkerung müssen in dieser Frage nicht mehr überzeugt werden. Wenn es der LINKEN gelingen würde, sich exemplarisch in zwei oder drei Arbeitskämpfen zu verankern und sie zum Teil einer bundesweiten Kampagne zu machen, dann hätte sie im Wahlkampf ein Alleinstellungsmerkmal. Mit einer solchen Herangehensweise würde sie sich nämlich von der Stellvertreterpolitik von SPD und Grünen unterscheiden. Außerdem wäre sie die einzige Partei, die sich ernsthaft mit dem Widerstand der Betroffenen verbindet.
Mehr im Internet:
- Neustart notwendig: Wahlanalyse von Manfred Sohn in der jungen Welt
Mehr auf marx21.de:
- Das Wahljahr und die antikapitalistische Bewegung: Wie weiter nach Blockupy und Umfairteilen? Ein Ausblick auf Bewegung, Wahlkampf und Klassenkampf im Jahr 2013 von Christine Buchholz
- Mehr und zugespitzter mobilisieren: Die umFAIRteilen-Kampagne für eine höhere Besteuerung von Vermögen gewinnt an Fahrt. Sie wird politisch auch von Teilen der SPD und den Grünen unterstützt. Wie soll die Linke damit umgehen? Stefan Bornost macht Vorschläge
- Neustart gelungen: Der Parteitag der LINKEN am 2./3.6. in Göttingen hat mit der Wahl eines neuen Vorstands die Grundlage für einen neuen Aufbruch als Bewegungspartei geschaffen. Von Christine Buchholz
- Neustart zur Bewegungspartei: Zum zweiten Mal ist DIE LINKE aus einem westlichen Landesparlament herausgeflogen. Nach Schleswig-Holstein scheiterte DIE LINKE mit 2,5 Prozent auch in Nordrhein-Westfalen. Was sind die Ursachen dieser Niederlagen? Und kann der Partei über 2013 hinaus ein zweiter Aufbruch gelingen? 13 Thesen zur Krise der LINKEN von marx21 – Netzwerk für internationalen Sozialismus