Der Parteienstaat westdeutscher Prägung löst sich auf. Nichtwähler und Piratenpartei sind nur zwei der Symptome. DIE LINKE hat nur eine Chance, meint Arno Klönne: Sie muss eine Alternative zum Demokratieabbau finden, statt nach einer Heimat in einem maroden System zu suchen
Als Überraschungsgast in der deutschen Politikshow haben die Freibeuter viel publizistische Aufmerksamkeit gewonnen, und die kommerziellen wie die öffentlich-rechtlichen Medien verhalten sich ihnen gegenüber bemerkenswert wohlwollend. Das neue Angebot im politischen Markt kommt offenbar dem Bedürfnis nach Abwechslung entgegen, die altgewohnten Offerten wirken reichlich abgenutzt, für die Berichterstattung geben sie nur etwas her, wenn das Personalgerangel bei ihnen als aufregend dargestellt werden kann.
Und einer ansehnlichen Zahl von Wählerinnen und Wählern erscheint die Piratenpartei als willkommene Gelegenheit, dem Verdruss über den etablierten Politikbetrieb Ausdruck zu geben. Eine längerfristige Festlegung auf die Newcomer muss dies nicht bedeuten.
Piraten als Antipartei
Keineswegs zeichnet sich ab, dass durch den Auftritt der Piraten der Parteienstaat insgesamt wieder an Zustimmung oder Beteiligung gewinnen könnte. Der Anteil der Stimmverweigerer bei Wahlen bleibt hoch, wahrscheinlich mit ansteigender Tendenz.
Der Erfolg der Piraten hängt auch damit zusammen, dass diese sich präsentierten als eine Partei, die selbst noch nicht weiß, was sie will – außer der Absicht, parteipolitisches Handeln aus seinen starren Gewohnheiten zu lösen, es transparent und mitvollziehbar zu gestalten. Die Altparteien reagieren darauf mit oberflächlichen Bemühungen, mehr innerparteiliche Mitbestimmung zu inszenieren, und zwar so, dass der Macht ihrer jeweiligen Führungskaste kein Abbruch getan wird.
Krise des Parteienstaats
Die Politologen deuten diese Krisenerscheinungen des deutschen Parteienstaats als fällige Anpassung an die politische Postmoderne – der heutige gesellschaftliche Zustand erfordere eben auch in diesem Handlungsfeld Flexibilität. Andauernde Bereitschaft zum Produktwechsel und Antipathie gegen längerfristige Bindungen würden zur Normalität auch in der Politik.
Vorbei sei die Zeit der auf Beständigkeit basierenden Weltanschauungs- und Volks-Parteien. Beweglichkeit im Politmarkt, von einem professionellen Marketing angetrieben, sei das zeitgerechte Muster.
Willensbildung 2.0
Formuliert man dies kritisch, würde es heißen: Politikmacher sind die Profis, eine Elite, die immer wieder personell aufgefrischt werden muss; die Wählerinnen und Wähler sind Flugsand, der durch werbende Performance der Parteien und publizistische Kampagnen von materiell dazu fähigen Medien mal hierhin und mal dorthin getrieben wird; Partizipation von Mitgliedern der Parteien kann als virtuelles Spiel betrieben werden, dessen Regeln die Hauptamtlichen setzen.
Ironisch lässt sich dies als eine innovative Ausfüllung des Artikels 21 im Grundgesetz der Bundesrepublik verstehen, in dem es heißt: »Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit«. Sie tun dies dann ja, aber auf eine Weise, von der die Erfinder der Verfassung noch keine Ahnung hatten.
Parteienstaat auf dem Altenteil
Der bundesrepublikanische Parteienstaat, der nun also aufs Altenteil gerät, was stellte er dar, weshalb wird er ausgemustert? Die Gründung eines westdeutschen Staates nach dem Untergang des Hitler-Regimes, der wirtschaftliche Wiederaufbau und die gesellschaftspolitische Ausgestaltung der jungen Bundesrepublik verliefen wie nach einem Masterplan.
Entscheidung für ein kapitalistisches Teildeutschland. Soziale Integration der Arbeitnehmerbevölkerung in eine Ökonomie, die konkurrenzfähig auf dem Weltmarkt werden sollte und wurde. Politische, wirtschaftliche und militärische Eingliederung in das von Interessen der USA geprägte westliche Blocksystem. Übernahme der Rolle eines Frontstaates im Kalten Krieg, um den Preis einer langandauernden deutschen Teilstaatlichkeit.
Massenloyalität durch Volksparteien
Sollte dies alles gelingen, so war Voraussetzung dafür Massenloyalität – im politischen Terrain zu erreichen und zu sichern durch ein parlamentarisches System mit stabilen, aus den genannten Grundentscheidungen nicht ausscherenden Parteien. Ressentiments früherer Nazis mussten ruhiggestellt werden, und wichtiger noch: Der nach 1945 zunächst kräftige Druck von links her, in Richtung auf eine gesellschaftspolitische und ökonomische Neuordnung, musste stillgelegt oder ins Abseits verdrängt werden.
Die Herausbildung der beiden Volksparteien CDU/CSU und SPD, mit der FDP als dauerhafter und disponibler Juniorpartnerin, bot hierfür ideale Möglichkeiten. Die Unionsparteien und die Sozialdemokratie waren keine künstlichen Produkte, sie konnten sich jeweils auf traditionelle politische und soziale Milieus stützen, die einen vor allem auf ein konfessionell geformtes, die andere auf ein gewerkschaftlich organisiertes.
Echte gesellschaftliche Konflikte
Die CDU verstand es, auch herkömmlich deutschnationale Protestanten an sich zu ziehen; die SPD gewann frühere Linkssozialisten und enttäuschte Kommunisten für sich. Beide Volksparteien erwiesen sich als hochgradig integrativ, und sie waren keineswegs nur Wahlparteien.
Der bundesrepublikanische Parlamentarismus hatte über einige Jahrzehnte hin nicht etwa den Charakter eines Scheingefechtes, in seinem Rahmen wurden inhaltliche Konkurrenzen ausgetragen, eben dies festigte die beiden Volksparteien. Freilich war der Konflikt begrenzt, er betraf ab Beginn der 1960er Jahre nicht mehr die Entscheidung für das westliche Blocksystem, zudem wurde er überwölbt durch einen antikommunistischen Konsens.
Die Grünen stören nur kurz
Die zwei großen und neben ihnen die eine kleine Partei wurden zu festen Größen der gesamten politischen Regulierung in der Altbundesrepublik, sie hatten finanziellen Rückhalt durch Mitgliederbeiträge und Steuergeld, in der Zivilgesellschaft wurden viele Positionen im Proporz dieser Parteien vergeben, die Medien waren ihnen zu Diensten, korporatistisch ging es auch in der Welt der westdeutschen Parteien zu.
Die neu auftretenden Grünen brachten dann nur kurzzeitig Verunsicherung in die Parteienszene. Schon bald erwiesen sie sich als anpassungsfähig, das Modell des Parteienstaates schien bestätigt.
Erosion durch Demokratieabbau
Inzwischen ist alles anders, und das Eindringen von Piraten in Landesparlamente ist nicht die Ursache, sondern ein Symptom des Wegfalls überkommener Gewissheiten auch in den Altparteien. Schon vorher waren die Stammwählerschaften von SPD und Unionsparteien in Erosion geraten, hatten sich Neigung zur Wechselwahl und Abneigung gegen die Teilnahme an Wahlen ausgebreitet, blieb der Nachwuchs an Mitgliedern aus.
Dazu hat gewiss auch beigetragen, dass traditionelle Milieus, aus denen die Volksparteien rekrutierten, sich weitgehend verflüchtigt haben. Weitaus wirksamer ist aber der Wandel in den Funktionsbedingungen des Parlaments- und Parteienbetriebs: Die wichtigsten wirtschaftspolitischen Entscheidungen sind dem parlamentarischen Zugriff entrückt, mühsam wird versucht, dem Bundestag wenigstens noch ein formales Haushaltsrecht zu bewahren.
Diktatur der Finanzmärkte
Die Finanzmärkte sind erklärtermaßen als supranationale oberste Instanzen anerkannt, denen sich staatliche Politik zu unterwerfen habe. In der Sozialpolitik haben Regierungen und Parlamente den Wünschen der Großunternehmerschaft zu folgen, diese zu ihrer Agenda zu machen; das Kabinett von Gerhard Schröder hat diese Aufgabe beispielhaft übernommen und erfüllt.
Außen- und militärpolitisch wird der Wille des nordatlantischen Bündnisses als alternativlos akzeptiert und befolgt, mit geringen Spielräumen, die Washington gelegentlich zugesteht. Weshalb sollten sich angesichts dieser Zustände in der Politik Massen von Bürgern parteipolitisch engagieren, sich an die eine oder die andere Partei binden, sich eifrig an die Wahlurnen begeben?
Politikersatz in Showkämpfen
Verständlicherweise expandieren der Verdruss an dieser Art von Demokratie und das durchaus realitätsnahe Gefühl, der Parteienbetrieb sei ein Selbstbedienungsladen für Berufspolitikerinnen und -politiker und solche, die es werden wollen.
Politikersatz bieten unter diesen Umständen die medial hochgepuschten Showkämpfe politischer Spitzenkräfte, deren oft rätselhafter Aufstieg und jäher Abstieg. Da kann es dann passieren, dass ein freiherrlicher Schwindler zum Publikumsliebling wird, weil er als Politiker den Antipolitiker spielt.
Im falschen Film
Aber auch diese Aufführungen sind nicht auf Dauer unterhaltsam. Immer mehr Bürger und Bürgerinnen haben, wenn von parlamentarischer und parteipolitischer Demokratie gesprochen wird, den Eindruck, dass sie im falschen Film sich befinden.
Die gesellschaftliche Machtelite wiederum meint, auch ohne das alte Modell des Parteienstaates Massenloyalität sichern zu können, genauer gesagt: Sich politische Dienstleister halten, die Bürgerinnen und Bürger aber ruhigstellen zu können, durch Politiksurrogate oder durch Entlassung in politische Apathie.
Kaum kritische Analyse
Und die Partei DIE LINKE? Sie hat sich, als sie in die politische Arena trat, mit einer kritischen Analyse des Parlaments- und Parteienbetriebs kaum beschäftigt. Viele ihrer Funktions- und Mandatsträger waren darauf aus, im Parteienstaat nach westdeutschem Muster anzukommen. Aber der war zu diesem Zeitpunkt schon im Abgang, dem Verfallsdatum sich nähernd.
Andere Repräsentanten oder Aktivisten der linken Partei hatten die Hoffnung, durch Konkurrenzdruck die SPD wieder zu ihren früheren Eigenschaften zurückführen zu können. Aber die hat ihre Identität nicht durch Zufall verloren.
Kein Platz für DIE LINKE
Ganz überwiegend richtete sich DIE LINKE im konventionellen Stil von Parteihäuslichkeit ein. Der jedoch vermag heute niemanden mehr zu faszinieren.
Und so erscheint diese linke Partei vielen, die sich mit der Demontage von sozialen Rechten und mit politischer Entmündigung nicht abfinden wollen, als ein Relikt aus der politischen Welt von gestern. Als hilfloser Versuch, in einem Parteienstaat Platz zu finden, den es so, wie viele in der Linkspartei es annehmen, gar nicht mehr gibt.
Linke in Bewegung
In einer Reihe anderer europäischer Länder ist die Linke wieder in Bewegung gekommen, außerparlamentarisch und auch bei Wahlen, die parteipolitischen Strukturen formen sich dort neu. Die Politik in der Bundesrepublik wird sich diesem Prozess nicht entziehen können, auch das hiesige Machtsystem behält nicht die Stabilität, auf die seine Inhaber und Nutznießer noch hoffen, in all seinen Fugen zeigt es schon Brüche.
Eine linke Partei hierzulande hat eine Chance, wenn sie das Dahinschwinden von Demokratie zum öffentlichen Thema macht, sich in ihrer eigenen Methodik darauf einstellt, neue Formen demokratischen und parteilichen Lebens und Wirkens entwickelt. Schafft die Partei DIE LINKE das nicht, bleibt sie eine Episode.
Zuletzt in Klönnes Klassenbuch:
- Sonntag in NRW: Volksabwählung. Der Spitzenkandidat der CDU in NRW Norbert Röttgen möchte die Wahl zu einer Volksabstimmung über den EU-Fiskalpakt machen. Wer dem Spardiktat zustimmt, gibt seine demokratischen Rechte auf, meint Arno Klönne
- Betreuungsgeld – Krieg gegen das Prekariat: Arme sollen kein Betreuungsgeld erhalten, wenn es nach der Bundesregierung geht. Dahinter steht der Wille zur sozialen Selektion, meint Arno Klönne
- Schleckers Pleite ist Röslers Pleite: Die FDP verhindert eine Transfergesellschaft für die Schlecker-Frauen und ist auch noch stolz darauf. Kein Wunder, dass die Partei nur noch ein Prozent bekommt, meint Arno Klönne