Die Portugiesen wehren sich gegen die von der EU diktierten Kürzungen. Für November ist ein Generalstreik in Vorbereitung, berichtet Catarina Príncipe
»Fick dich, Troika. Wir wollen leben«, war das Motto der Massendemonstration am 15. September in Portugal, der größten seit der Revolution von 1974. Etwa eine Million Menschen gingen in 40 Städten auf die Straße – im ganzen Land, aber auch im Ausland, in Brasilien, in Brüssel, London und Paris – gegen die Kürzungspläne und um der Troika und der portugiesischen Regierung Lebewohl zu wünschen.
Premierminister Pedro Passos Coelho und Finanzminister Vitor Gaspar hatten die neuen Sozialkürzungen für das Jahr 2013 erst eine Woche zuvor, am 7. September, verkündet: Lohnsenkungen, Rentenkürzungen, Streichung von Urlaubs- und Weihnachtsgeld, Kürzung des Arbeitslosengelds und der Wiedereingliederungshilfen.
Bestrafung der Ärmsten
Die Maßnahme, die den größten Zorn hervorrief, war aber die Änderung bei den Sozialversicherungsbeiträgen: Der Arbeitnehmeranteil sollte von 11 auf 18 Prozent erhöht werden, und der der Unternehmer von 23,75 auf 18 Prozent gesenkt. Beide sollten in Zukunft den gleichen Beitrag zahlen. Praktisch bedeutet das den Verlust eines Monatslohns pro Jahr, der den größten Arbeitgebern geschenkt wird, eine drastische Absenkung der Binnennachfrage und eine deutliche Bestrafung der ärmsten Teile der Bevölkerung.
Diese Maßnahmen riefen eine Welle der Revolte in der Bevölkerung hervor. Viele Menschen reicht es jetzt. Mehrere Aktivistengruppen hatten die Demonstration vorbereitet: Initiativen gegen Prekariat, feministische und LGBT-Organisationen und andere, die bereits an den früheren Protesten wie die dem vom 15. Oktober 2011 beteiligt waren.
Tausende Lehrer arbeitslos
Nach der Verkündung der neuen Maßnahmen bekam der Demoaufruf für den 15. September immer mehr Unterstützung, auf Facebook und in den Medien. Der Zeitpunkt war gut gewählt: Anfang des politischen Jahres und zum Schulbeginn, mit der Ankündigung, dass tausende Lehrer arbeitslos sein würden. Die informell zusammengesetzte Gruppe der Organisatoren versuchte auch, sich mit den Gewerkschaften zu verbinden, erhielt von ihnen aber keine Antwort.
Obwohl die Gewerkschaftsbürokratie, weitgehend in der Hand der Kommunistischen Partei, beschloss, sich nicht aktiv an der Organisierung zu beteiligen (der Generalsekretär verkündete seine Anwesenheit auf der Demonstration erst einen Tag davor, und das auch nur in persönlicher Eigenschaft), war die Beteiligung der Aktivisten und Mitglieder von der Basis enorm.
»Raus mit der Troika«
Das Motto, »Raus mit der Troika, raus mit der Regierung«, das überall im Land am 15. September widerhallte, ist ein deutliches Signal, dass diese Demonstration mehr war als ein seelischer Befreiungsschlag. Sie war die Aufkündigung der bisherigen Duldung einer Politik von sozialen Kürzungsorgien, steigender Arbeitslosigkeit und Armut und Umverteilen von der Arbeiterklasse zugunsten des Kapitals.
Der Tag wurde passend »Tag Null im Kampf zum Sturz der Regierung« genannt. Am Ende des Tages riefen die Organisatoren zu einem allgemeinen Generalstreik auf und beschlossen, mit dieser Forderung an die Gewerkschaften heranzutreten.
Damit liegen sie ganz richtig – ein Generalstreik kann der Kampfbereitschaft, die sich am 15. September zeigte, mächtig Auftrieb geben. Es muss ein Streik sein, der neue Erfahrungen in die Arbeiterbewegung hineinträgt, der den öffentlichen Raum nutzt und die ganze Kreativität der Bewegung aufgreift.
Niemand will die Kürzungen
Die Reaktionen auf die Verkündung der veränderten Aufteilung der Sozialversicherungsbeiträge waren überall negativ. Niemand wollte sich öffentlich dafür aussprechen. Der Staatspräsident berief ein Treffen des Staatsrats (bestehend aus prominenten politischen Persönlichkeiten von Mitte bis Rechts) für den 21. September ein. Die Demoorganisatoren riefen für den Tag zu einer Kundgebung direkt vor dem Präsidentenpalast auf.
Es kamen 20.000 Menschen, und auch in vielen anderen Städten wurde demonstriert. Der Staatsrat sprach sich gegen eine Umverteilung der Sozialversicherungsbeiträge aus, während das Verfassungsgericht sich beeilte zu erklären, dass eine gleichzeitige Kürzung des Urlaubs- und des Weihnachtsgeldes gegen die Verfassung verstoße.
Erste Erfolge gegen Sparpaket
Die Regierung nahm daraufhin Abstand von beiden Vorhaben, verkündete zugleich aber neue Maßnahmen in Bälde. Währenddessen rief der gewerkschaftliche Dachverband CGTP zu einer Demonstration für den 29. September auf.
Einen Tag vor dieser Demonstration wurde bekannt, dass die Regierung die Staatsausgaben für die Behandlung von Patienten mit chronischen Krankheiten wie HIV oder Krebs kürzen will. Auf dieser Demonstration kamen in Lissabon mehr als 200.000 Menschen zusammen. Der CGTP-Generalsekretär Arménion Carlos nahm in seiner Rede den populären Ruf der sozialen Bewegung nach einem Generalstreik auf, nannte allerdings kein Datum.
Täglich 1000 Arbeitslose mehr
Am 3. Oktober trat dann der Finanzminister vor die Fernsehkameras, um neue Maßnahmen zu verkünden. Nachdem sie auf zwei zentrale Vorhaben (Sozialbeiträge und das Urlaubs- und Weihnachtsgeld) hatten verzichten müssen, präsentierte er neue Kürzungsmaßnahmen:
- Anhebung der Mehrwertsteuer um etwa 35 Prozent durch die Einführung einer Sondersteuer von 4 Prozent
- Reduzierung der Steuerstufen von acht auf fünf – die größte Steuererhöhung in der Geschichte des Landes
- Anhebung der Immobiliensteuer, mit der Folge, dass Hauseigentümer jährlich bis zu einem Monatslohn verlieren werden
- Kompensation für die Nichtstreichung des 13. Monatsgehalts für Arbeiter und Rentner durch eine neue Steuer, so dass Arbeiter und Rentner im öffentlichen Sektor zwei Monatsgehälter im Jahr verlieren, und die Arbeiter im privaten Sektor einen Monatslohn
Gleichzeitig verkündete der Minister, dass die offizielle Arbeitslosenrate auf 16.5 Prozent steigen werde – wobei alle wissen, dass mit 1,5 Millionen Arbeitslosen die Arbeitslosenrate bereits heute bei über 24 Prozent liegt. 922 Menschen verlieren täglich ihren Job derzeit.
Generalstreik am 14. November
Nach diesem brutalen Angriff auf Arbeiterrechte rief die CGTP zu einem Generalstreik am 14. November auf, während der spanische Dachverband Confederacion Sindical de Comisiones Obreras seine Bereitschaft signalisierte, zu einem Iberia-weiten Generalstreik aufzurufen. Der europäische Dachverband European Confederation of Trade Unions trifft sich seinerseits am 16. Oktober, um die Möglichkeit einer Ausweitung der Welle von Generalstreiks auf den ganzen Kontinent zu diskutieren.
Daher ist zu erwarten, dass der 14. November zu einem europaweiten Kampftag wird, an dem Streiks und Solidaritätsaktionen überall organisiert werden können.
So oder so spricht dieser Streik für alle, die die Politik von Sparkursen, verschärfter Ausbeutung und Verarmung als Krisenlösung ablehnen. Es ist an der Zeit, dass die Menschen ganz Europas aufwachen, aufstehen und Demokratie und Respekt für sich wieder einfordern.
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