Nazis versuchen, das Gedenken an die Bombardierung von Dresden für ihre Zwecke zu missbrauchen. Welche Antwort sollte die Linke geben? Ein Beitrag zur Debatte von Stefan Bornost
Im Februar 1945, drei Monate vor Ende des Zweiten Weltkrieges, ließen amerikanische und britische Bomber 200.000 Spreng- und 650.000 Brandbomben auf die historische Altstadt Dresdens niederregnen. Das entstandene Flammenmeer ließ Fensterscheiben schmelzen, Tausende erstickten in Kellern, wurden von Trümmern erschlagen oder verbrannten. Die Stadt lag anschließend in Schutt und Asche.
Diesen Angriff nehmen Nazis aus dem In- und Ausland seit Jahren zum Anlass für einen Großaufmarsch – 7000 Teilnehmer waren es letztes Jahr. Ihr Ziel: Anknüpfend an der Trauer vieler Dresdner über die Toten und Zerstörung wollen sie die Geschichte umschreiben. Die NPD redet in Bezug auf Dresden vom »Bombenholocaust« – und versucht so, die Verbrechen der Nazis zu relativieren. Die Nationalsozialisten haben den Zweiten Weltkrieg begonnen und allein in der Sowjetunion 25 Millionen Menschen getötet. Im Holocaust sind weitere 6 Millionen Juden, Sinti und Roma von ihnen ermordet worden. Zehntausende politische Gegner, Homosexuelle und Menschen mit Behinderung sind zudem den Nazi-Mördern in den Gaskammern von Auschwitz und anderen Vernichtungslagern zum Opfer gefallen.
Für Februar 2010 sind größere Aktionen gegen den Nazi-Aufmarsch geplant. In diesem Rahmen stellt sich die Frage, wie Antifaschisten mit dem eigentlichen Anlass des Gedenkens umgehen sollen – der Bombardierung Dresdens.
»Deutsche Täter sind keine Opfer« war einer der zentralen Slogans der antifaschistischen Proteste der vergangenen Jahre. Von Teilen des Protestbündnisses wird diese Position noch immer vertreten. So erklärt der Vorbereitungskreis »Keine Versöhnung mit Deutschland«: »Der Hintergrund vor dem die Neonazis ihre Propaganda anbieten, bleibt aber die Erzählung von den Deutschen als Opfer, die auch in ihren bürgerlichen Varianten die Relativierung der Schuld der Deutschen zum Ziel hat.« Deshalb lehnt der Vorbereitungskreis das öffentliche Gedenken per se ab.
Die Argumentation hinter dem Slogan »Deutsche Täter sind keine Opfer« läuft zugespitzt so: »Die Deutschen« haben es verdient, kollektiv durch Flächenbombardements bestraft zu werden, weil sie kollektiv mitschuldig geworden sind an Weltkrieg und Völkermord – mitschuldig durch die Wahl Hitlers, durch aktives Mittun im Regime oder passive Hinnahme, mitschuldig durch das Ausbleiben eines allgemeinen Aufstands gegen das Regime. Deshalb ist das Gedenken an die Opfer der Bombardierung eine Relativierung der Verbrechen des NS-Regimes, eine Reinwaschung der Schuldigen.
Diese Argumentation ist problematisch und behindert eine erfolgreiche Mobilisierung gegen die Nazis.
Selbst wenn man unterstellen würde, dass die überwältigende Mehrheit der Deutschen aktiv den Nazis beim Morden geholfen hat: Das wahllose Töten von Menschen, und darum handelt es sich bei Flächenbombardements auf Wohnviertel, kann keine »gerechte« Antwort darauf sein. Denn hier wird nicht unterschieden: Der Nazi-Funktionsträger wird genauso getroffen wie derjenige, der Juden bei sich versteckt hat, oder der Kommunist, der Widerstand gegen die Nazis organisierte, oder der Säugling, der noch gar keine individuelle Schuld haben kann.
In der Bombennacht wurde zum Beispiel die Gefangenenanstalt Mathildenstraße stark zerstört, 400 Insassen starben. Die Anstalt war 1933 von den Nazis als »Schutzhaftlager« eingerichtet worden. Hier waren sowohl politische Gegner als auch Dresdner Juden und eine Vielzahl von Tschechen inhaftiert. Grundsätzlich treffen Kollektivstrafen vor allem die Schwächsten der Gesellschaft. In Dresden saßen die Nazi-Führer sicher in ihrem Bunker, während die »einfachen Leute« verbrannten.
Natürlich wäre das Nazi-Regime ohne das aktive Zutun von Hunderttausenden und das Wegsehen von Millionen Deutschen nicht funktionsfähig gewesen. Doch das ist etwas anderes als das, was die »Kollektivschuld«-These besagt, die seit dem Zweiten Weltkrieg immer wieder aufgewärmt wird und die auch in der Formulierung »Deutsche Täter sind keine Opfer« durchscheint. Die Situation ist jedoch differenzierter.
So waren keineswegs alle Deutsche Unterstützer der Nazis. Vielmehr wurde von Anfang Widerstand gegen das Regime geleistet – insbesondere aus Reihen der politischen Linken, die deshalb brutal verfolgt wurde. Der deutsch-britische Historiker Francis L. Carsten geht davon aus, das zwischen 1933 und 1935 mindestens 75.000 KPD-Mitglieder inhaftiert wurden, sein Kollege Ben Fowkes sogar von weitaus mehr. Nach seiner Annahme wurden insgesamt 120.000 Kommunisten verhaftet und allein 1933 schon 2.500 ermordet. Selbst bei der niedrigeren Zahl ist davon auszugehen, dass die KPD in den ersten Jahren des Regimes mehr als ein Drittel ihrer 1932 registrierten Mitglieder verloren hat.
Auch wenn den linken Organisationen sehr schnell das Rückgrat gebrochen wurde, existierte weiterhin Widerstand – bis hinein in kirchliche und bürgerliche Kreise. Allein 8071 katholische Geistliche aus deutschen Bistümern wurden vom Nazi-Regime verfolgt – das ist ein Fünftel der deutschen Ordensgeistlichen.
Ein Gestapo-Bericht vom April 1939 führt auf, dass zu diesem Zeitpunkt 163.734 Menschen aus politischen Gründen in Untersuchungshaft saßen. Zwischen 1933-1945 wurden rund 40.000 Menschen von Sonder- und normalen Gerichten wegen Widerstand gegen das Regime zum Tode verurteilt, dazu vollstreckten Militärgerichte bei 25.000 Soldaten der Wehrmacht Todesurteile wegen »Defätismus«, Desertion oder Wehrkraftzersetzung.
Das Ausmaß des Terrors nach innen drückt die Unsicherheit des Nazi-Regimes über den Rückhalt in der Bevölkerung aus. Hitler war politisch geprägt durch die Novemberrevolution 1918, die er als Katastrophe empfand. 1918 hatte ein allgemeiner Aufstand den Krieg beendet – für Hitler und das gesamte deutschnationale Milieu ein »Dolchstoß der Heimat« Wie präsent diese Tatsache der Nazi-Elite war, zeigt eine Rede Hitlers vor Wehrmachtgenerälen kurz vor dem Angriff auf Frankreich: »Ich werde mit dieser Schlacht stehen oder fallen. Keine Kapitulation! Keine Revolution in der Heimat!«
Um einen neuen November 1918 zu vermeiden, arbeitete das Regime mit »Zuckerbrot und Peitsche«: Die Peitsche war der Terror gegen abweichende Gesinnungen. Das Zuckerbrot hingegen entsprach den Anstrengungen, die Versorgungslage für die Bevölkerung nicht zu schlecht werden zu lassen. Bis 1944 blieb der durchschnittliche Lebensstandard in Deutschland höher als in Großbritannien. Nach dem Fall Frankreichs wurde die Militärproduktion erst einmal heruntergefahren um Versorgungsengpässe zu vermeiden. Zur Aufrechterhaltung der Moral zahlte das Deutsche Reich höhere Trennungsbezüge an die Frauen von Frontsoldaten (85 Prozent des vorherigen Durchschnittslohnes des Mannes) als jedes andere Land im Zweiten Weltkrieg.
Diese Bemühungen um die Sympathien der Bevölkerung widersprechen Deutungen von Historikern wie Daniel Jonah Goldhagen, dass die Nazi-Herrschaft schon ausreichend durch einen breiten antisemitischen Konsens in der Bevölkerung abgesichert gewesen wäre. Antisemitismus war ein tiefgehendes gesellschaftliches Phänomen, vor allen in bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schichten. Dennoch scheiterten die Nazis bei dem Versuch, die breite Teile der Bevölkerung für antisemitische Aktionen zu begeistern. Der am 1. April 1933 begonnene Boykott jüdischer Geschäfte wurde am 4. April wegen Passivität und Ablehnung durch die Bevölkerung wieder abgebrochen. Selbst Wolfgang Wippermann, unter den deutschen Historikern einer der wenigen Verteidiger Goldhagens, kommt angesichts des Scheiterns des Boykotts zum Schluss, man könne unmöglich »für diese Zeit von einer weit verbreiteten aggressiven Antipathie gegen die Juden in der deutschen Bevölkerung […] sprechen«. Hans Mommsen und Dieter Obst sprechen in ihrem Buch »Die Reaktion der deutschen Bevölkerung auf die Verfolgung der Juden 1933-1943« davon, dass die Aktion ein eklatanter Fehlschlag gewesen sei.
Fünf Jahre hat sich dies nicht wesentlich geändert. Und auch die Hoffnung der Nazi-Führung, durch die »Reichspogromnacht« am 9. November 1938 einen antisemitischen Flächenbrand zu entfachen erfüllte sich nicht. Im Gegenteil: Der Hitler-Biograph Ian Kershaw kommt bei einer Untersuchung über politische Einstellungen in Bayern von 1933-45 zum Schluss, dass die Nazis im Nachgang des Pogroms mehr Probleme mit empörten Bürgern hatten als vorher. Die angestrebte breite Beteiligung von Nicht-Parteimitgliedern an der Aktion – als Ausdruck des vermeintlichen »Volkszorns« – fand jedenfalls nicht statt. Hermann Göring regte sich darauf hin über die »verdammte Sentimentalität« der Deutschen auf.
Nach dem Kriegsbeginn am 1. September 1939 stützen die anfänglichen Erfolge das Regime – doch nur für kurze Zeit, wie Shoah.de, ein Informationsportal zu Holocaust, Drittem Reich und Zweitem Weltkrieg, zusammenfasst: »Wurden Hitler nach dem deutschen Sieg über ›Erbfeind‹ Frankreich im Sommer 1940 von den meisten Deutschen geradezu abgöttische Sympathien zuteil, so zweifelten im weiteren Kriegsverlauf – als die Gefallenenlisten bisher unbekannte Ausmaße annahmen – immer mehr ›Volksgenossen‹ am ›Geschick des Führers‹. Nach der Kapitulation der 6. Armee in Stalingrad im Februar 1943 und der sich unmittelbar anschließenden deutsch-italienischen Niederlage im Afrikafeldzug veränderte sich die Stimmungslage im Deutschen Reich dramatisch. Die Moral in der Bevölkerung sank rapide, und Zweifel am ›Endsieg‹ wurden laut, die – wenn sie in der Öffentlichkeit fielen – mit drakonischen Strafen belegt wurden. Kriegsmüdigkeit und Defätismus nahmen spürbar zu, zugleich aber auch die Angst, dafür denunziert und drastisch bestraft zu werden. Missstimmungen gegen die als privilegiert geltenden ›Parteibonzen‹ der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) nahmen zu, und auch Adolf Hitler wurde davon nun nicht mehr ausgenommen.«
Die Flächenbombardierungen deutscher Städte haben es jedoch erschwert, in Opposition zum Regime zu treten. Denn in einer solchen Mangelsituation wurde der Staat für die ausgebombte Bevölkerung wichtiger – denn er teilte lebensnotwendige Ressourcen wie Feuerholz, Wohnraum, Tee, Brot und ähnliches zu.
Offensichtlich gab es gen Kriegsende keine Bewegung wie im November 1918. Das war verschiedenen Faktoren geschuldet: Der Zerschlagung der Linken, dem Unterdrückungsapparat des Regimes, der Beschäftigung der Mehrheit mit dem täglichen Überlebenskampf in den zerbombten Städten und vor allem der weitverbreiteten Angst vor dem, was nach der Niederlage des Nazi-Regimes komme. Durch die Heimkehrer von der Ostfront war bekannt, wie barbarisch die Wehrmacht im Osten gewütet hatte. Man fürchtete im Falle der Niederlage ein ebenso furchtbares Strafgericht durch die russischen Truppen. Nazi-Funktionäre nahmen diese Ängste mit dem zynischen Spruch »Genießt den Krieg, der Frieden wird schrecklich« auf.
Obige Beispiele sollten deutlich machen, dass die »Kollektivschuldthese« wenig Erklärungskraft für die innere Dynamik des Dritten Reichs liefert. Dafür öffnet sie dem Geschichtsrevisionismus Tür und Tor: Die Verantwortung für das NS-Regime wird einfach in das große Kollektiv »die Deutschen« aufgelöst. Aber wenn alle ein bisschen schuld sind, ist es niemand mehr so richtig. Das war und ist sehr bequem für die Funktionseliten der NS-Bürokratie, für willfährige Wehrmachtgeneräle, und vor allem für die Unternehmer, die Hitler hochfinanziert haben und von Krieg, Enteignung und Sklavenarbeit profitierten.
Deshalb sollten Linke diesen Ton gegenüber dem Gedenken in Dresden nicht anschlagen. Dafür kann sie einen anderen wichtigen Beitrag leisten: Nämlich Anklage erheben gegen ein mörderisches System, in dem Menschen nichts zählen.
Denn die militärische Strategie der Bombardierung dicht besiedelter Städte ist die barbarische Folge moderner Kriegsführung im Kapitalismus. Moderne Kriege zwischen Industriestaaten werden wesentlich durch das einsetzbare beziehungsweise vernichtbare Industriepotential entschieden. Was der Zeppelin des Ersten Weltkrieges noch nicht vermochte, das vermochten die Flugzeuge des Zweiten Weltkrieges: enorme Bombenlasten schnell über weite Entfernungen zu transportieren, um damit das kriegswichtige Industriepotential des Gegners zu treffen. Ein anderer Weg, die Kriegsindustrie zu beschädigen, ist die Vernichtung der Arbeiterschaft als Quelle der industriellen Produktion – so die perfide Logik. Damit wird die Zivilbevölkerung als konstitutives Element der industriellen Produktion zum Angriffsziel.
Die Nazis sind die Pioniere dieser Art der Kriegsführung gewesen. Eine Serie von Bombenangriffen auf London, von den Briten »The Blitz« genannt, tötete bis Dezember 1940 rund 14.000 Menschen. Mindestens 250.000 Einwohner verloren ihre Wohnung. Am 14. November 1940 und noch einmal am 8. April 1941 wurde die Industriestadt Coventry fast vollständig zerstört, 2000 Menschen starben.
Die Alliierten übernahmen diese Strategie. In den Anweisungen zum Flächenbombardement (»Area Bombing Directive«) der Royal Air Force war festgeschrieben, dass die Einsätze auf die Moral der feindlichen Zivilbevölkerung zu konzentrieren seien – insbesondere auf die der Industriearbeiter. Dies unterstrich auch Sir Charles Portal, Stabschef der britischen Luftwaffe, als er 1942 betonte: »Es ist klar, dass die Zielpunkte Siedlungsgebiete sein sollen.«
Mit der Umsetzung der Area Bombing Directive begann die britische Luftwaffe mit dem Nachtangriff auf Essen am 8. und 9. März 1942. Weitere 150 Städte folgten. Vorsichtigen Schätzungen zufolge wurden in diesen Feuerwalzen 570.000 Menschen getötet. 10 Millionen wurden obdachlos.
Es ist keine Relativierung, wenn man zur Feststellung gelangt, dass die beabsichtige Tötung von möglichst vielen Zivilisten des Kriegsgegners ein Akt der Barbarei ist. Coventry, Dresden und natürlich auch die Auslöschung Hiroshimas sind Warnungen der Geschichte. Sie erinnern uns daran, dass der Kapitalismus enorme Zerstörungskräfte in die Welt gebracht hat – und Herrscher, die nicht zögern, diese ohne Rücksicht auf die Menschen einzusetzen.
Zum Autor:
Stefan Bornost ist leitender Redakteur von marx21.
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