Auch in Portugal wehren sich die Menschen gegen die Folgen der Eurokrise. Catarina Príncipe zeichnet die Entwicklung nach und gibt einen Ausblick
Am ersten Oktober kam es zur ersten großen Demonstration gegen das vom Internationalen Währungsfonds IWF entworfene und von der rechten Koalitionsregierung beschlossene massive Kürzungsprogramm. Dazu hatte der größte Gewerkschaftsdachverband CGTP aufgerufen. 130.000 Menschen folgten dem Aufruf in Lissabon, in Porto waren es 50.000.
Der Zeitpunkt war gut gewählt. Am gleichen Tag wurde die Mehrwertsteuer für Gas und Strom auf das Vierfache, von 6 auf 23 Prozent erhöht. Die Fahrpreise waren zuvor bereits um durchschnittlich 20 Prozent angehoben worden, während die Angriffe auf Bildung und Arbeitsrechte noch bevorstanden.
Ein Jahr der Proteste
Die Protestwelle hat ihren Anlauf am 24. November 2010 genommen, als es zum größten Generalstreik seit der Revolution 1974 kam und 80 Prozent aller Betrieben still standen. Der von den beiden größten Dachverbänden ausgerufene Ausstand richtete sich gegen die damals mit absoluter Mehrheit regierende Sozialistische Partei PS.
Am 12. März dieses Jahres wurde das Land wieder von Massendemonstrationen erschüttert. Dazu hatten Aktivisten über Facebook mobilisiert. 300.000 Menschen beteiligten sich – bei einer Bevölkerung von insgesamt 10 Millionen. Sie richteten sich gegen die zunehmende Prekarisierung der Arbeit. Vor allem aber entwickelten sie ganz neue Organisationsformen.
Neue Gruppen entstehen
Im Mai wurden zahlreiche Stadtzentren besetzt, wie in Spanien. Es entstanden neue Gruppen, die eine offene Kritik am Demokratiedefizit und der wachsenden kapitalistischen Krise übten. Sie standen im Mittelpunkt der Organisierung der Massenproteste am 15. Oktober.
Diese vielfältigen Mobilisierungen schlugen sich allerdings nicht in einem entsprechenden Wahlverfahren nieder. Der Linksblock rutschte von 10 Prozent im Jahr 2009 auf 5 Prozent im Juli diesen Jahres. Nur die Kommunistische Partei, die gegen jede Regierungskoalition mit Kürzungsparteien ist, konnte ihren Stimmanteil verteidigen. 40 Prozent der Wahlberechtigten enthielten sich, weil sie die Kürzungen für unabwendbar hielten, was einer rechten Koalition den Weg ebnete. Dennoch haben die Gewerkschaften und sozialen Bewegungen aus den positiven Erfahrungen der vergangenen Monaten neue Kraft schöpfen können, um den Kampf um die Zukunft des portugiesischen Sozialstaates aufnehmen zu können.
Gewerkschaften und soziale Bewegungen
Der größte Gewerkschaftsdachverband ist links orientiert und eng mit der Kommunistischen Partei verbunden. Ihre Strukturen sind veraltet und bürokratisch. Jahrelang fand sie keinen Zugang zur neuen Wirklichkeit der Arbeitswelt, in der ein Drittel aller Portugiesen prekär beschäftigt sind. Erst die massenhaften Kämpfe der prekär Beschäftigten um den 1. Mai 2007 und in den Folgejahren und die daraus entstehenden neuen Organisationen öffneten ihnen die Augen für ihre Lage.
Ihre Bereitschaft, den Gewerkschaften beizutreten und sich an den 1. Mai-Demonstrationen zu beteiligen bahnten den Weg für ein neues Verhältnis zwischen den sozialen Bewegungen und den Gewerkschaften. Das Verhältnis ist viel offener geworden und es ist heute möglich, gemeinsam zu Aktionen und Mobilisierungen aufzurufen.
Staatshaushalt und Generalstreik
Der Staatshaushalt für 2012 umfasst folgende Maßnahmen:
- Beibehaltung der Lohnkürzung von 5 Prozent im öffentlichen Dienst und Einfrierung der Löhne in den Jahren 2012 und 2013, was sich bei einer Inflationsrate von 4 Prozent auf weitere Lohneinbußen von circa 8 Prozent summiert
- Einfrieren der Rentenzahlungen, was ebenfalls einer Kürzung gleichkommt
- Streichung von Feiertagen; 30 Minuten unbezahlte Mehrarbeit täglich
- Kürzung des Weihnachtszuschlags um 50 Prozent bereits dieses Jahr und Streichung des Weihnachtsgeldes und des Urlaubsgeldes ab 2012, was sich auf eine Lohnkürzung in Höhe von zwei Monatsgehältern im Jahr summiert
- Kürzung der Überstundenzuschläge um 50 Prozent
- Kürzung des Arbeitslosengeldes sowie der Bezugsdauer; bereits heute erhält nur jeder fünfte Arbeitslose staatliche Unterstützung
- Privatisierung des Sozialwesens, der Wasser- und Energieversorgung, der staatlichen Fluggesellschaft TAP, der Post, der Bahn und des Staatsfernsehens
- Ausdehnung von befristeten Arbeitsverträgen und weitere Öffnung für Subunternehmen, wobei schon heute 2 von 5,5 Millionen Arbeitern prekär beschäftigt sind
- Reduzierung der Ausgaben für Bildung um über 11 Prozent und Kürzung des Bafögs, so dass bereits jetzt 30.000 Studenten ihre Stipendien verloren haben; Erhöhung der Studiengebühren; das Recht von Universitäten, Professoren zu entlassen
Die meisten dieser Maßnahmen wurden von Premierminister Coelho am Abend des 13. Oktober verkündet. Zu der Demonstration am 15. Oktober war, wie in anderen Städten der Welt auch, bereits einige Wochen zuvor aufgerufen worden. Circa 100.000 Menschen versammelten sich in Lissabon, und 15.000 in Porto. Die Demonstranten umzingelten das Parlament und hielten eine Versammlung über die ganze Nacht ab. Der Ruf nach wirklicher Demokratie, nach einem Ende prekärer Beschäftigung und einem Stopp der Rückzahlung von Schulden, die nicht die Menschen gemacht hatten, wurde laut und deutlich von allen Seiten aufgenommen. Es war ein organisatorischer Kraftakt, der von Menschen bewerkstelligt wurde, von denen viele noch keine politische oder organisatorische Erfahrung besaßen.
Als Antwort auf das Budget, und ähnlich wie bereits letztes Jahr, riefen die beiden großen Gewerkschaftsdachverbände zusammen mit der Bewegung des 15. Oktobers zu einem Generalstreik am 24. November auf – eine ganz andere Ausgangslage als in Spanien, wo die Bewegung den Gewerkschaften mit großem Misstrauen begegnet.
Mehr Arbeitslose als Gewerkschafter
In Portugal übersteigt die Zahl der Arbeitslosen die der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter. Und angesichts der großen Zahl der prekär Beschäftigten, die aus vielerlei Gründen nicht organisiert oder nicht organisierbar sind, muss dieser Generalstreik zu einem Tag des allgemeinen Widerstands ausgebaut werden, der das Fundament für ein noch viel mächtigeres und breiteres Gesellschaftsbündnis gegen Kürzungen, Arbeitslosigkeit, Prekariat und soziale Entmündigung legt.
Die Vorbereitungen für den Streik sind in vollem Gang. Die CGTP hatte eine ganze Woche der Mobilisierung, und am 12. November demonstrieren die Staatsangestellten. Für den 10. November ruft die 15. Oktober-Bewegung zu einem Massenprotest gegen das Budget 2012 vor dem Parlament, und, zusammen mit den Gewerkschaften, zu einer weiteren Demonstration am Streiktag selbst auf.
Die Kürzungen schmerzen bereits. Aber das Gefühl, sie seien unabwendbar, schwindet. Die Proteste im Oktober haben dem Schweigen ein Ende gesetzt und den Menschen eine neue Stimme gegeben. Neue Kräfte sind zu der Bewegung gestoßen. Der Streik steht auf einer viel breiteren Grundlage als letztes Jahr. Der Oktober war erst der Anfang.
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