Das revolutionäre Russland im Jahr 1921: Alexandra Kollontai hält Vorlesungen vor tausenden Arbeiterfrauen, die vorher noch nie eine Universität von innen gesehen haben. Es geht um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie – Themen, die auch zum 100. Jubiläum des Internationalen Frauentags aktuell sind. Von Katrin Schierbach
Sie ist die erste Ministerin der Welt. Im Jahr 1917, als Frauen in den meisten Ländern der Welt noch nicht einmal wählen dürfen, wird Alexandra Kollontai Kommissarin für Volkswohlfahrt im revolutionären Russland. Seit ihrer Jugend ist sie als Sozialistin aktiv und engagiert sich für die Gleichberechtigung der Frauen. Nun eröffnet sich tatsächlich die Möglichkeit, die gesellschaftliche Stellung der Frau grundlegend zu verbessern.
Hieran arbeitet die neue russische Regierung in den ersten Monaten nach der Revolution. Sie erlässt zahlreiche Gesetze und Verordnungen zugunsten der Frauen. Beispielsweise erhalten diese nun den gleichen Lohn wie Männer. Überhaupt werden Frauen dazu aufgefordert, arbeiten zu gehen und am gesellschaftlichen Leben gleichberechtigt teilzunehmen. Nur so können sie in wirtschaftlicher Unabhängigkeit von Mann und Familie leben. Dazu drängt Kollontai als Ministerin darauf, dass Frauen eine qualifizierte Berufsausbildung erhalten. Arbeitsschutzgesetze für schwangere Frauen und ein 18-wöchiger Mutterschutz erleichtere den Arbeitsalltag. Staatliche Einrichtungen, die die Frauen bei der Hausarbeit und der Kinderbetreuung entlasten, werden aufgebaut. Der Staat zahlt Frauen eine Unterstützung, bis sie Arbeit und eine Betreuungsmöglichkeit für ihre Kinder gefunden haben. Auch die Homosexualität wird legalisiert, Verhütungsmittel sind nun kostenlos erhältlich und Schwangerschaftsabbrüche sind nicht mehr strafbar. Scheidungen sind möglich. Dies alles sind keine Selbstverständlichkeiten in dieser Zeit.
Vier Jahre später steht Kollontai im Auditorium der Sverdlov-Universität und hält mehrere Vorträge. Ihre Zuhörerinnen sind einfache Arbeiterinnen und Bäuerinnen. Kollontai möchte ihnen »einen grundlegenden Überblick über den marxistischen Standpunkt in der Frauenfrage« geben. Außerdem will sie über »die Revolutionierung der Lebensbedingungen und die neue Stellung der Frau im Arbeiterstaat« berichten. Mit ihren Vorträgen will sie politische Weggefährtinnen dazu ausbilden, in den Frauenkommissariaten zu arbeiten und so den Prozess zur vollen Gleichstellung der Frau im revolutionären Russland voranzutreiben.
Den Frauen berichtet Kollontai in einer mehrteiligen Vorlesungsreihe über die gesellschaftliche Stellung der Frauen, über ihre Geschichte und über ihre Kämpfe. Obwohl sie sich an einer Universität befinden, hält die engagierte Rednerin keinen wissenschaftlichen Vortrag. Vielmehr bedient sie sich einer einfachen, klaren Sprache.
Kollontai weist stolz auf die Ergebnisse der Umwälzung von 1917 hin: »In den ersten drei Jahren unserer Revolution haben wir die Voraussetzungen für eine neue Produktionsweise geschaffen. An die Stelle des Kapitalismus, des Privateigentums und der Ausbeutung von Lohnarbeit tritt das sozialistische Wirtschaftssystem.« Man sei noch lange nicht am Ziel, aber es habe sich schon vieles verbessert: »Zwar existiert die Lohnarbeit noch, doch wandert der von den Arbeitern geschaffene Mehrwert nicht länger in die Taschen von irgendwelchen Privatunternehmern, sondern wird zur Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse verwandt.«
Die Sowjetregierung hat Institutionen aufgebaut, die Frauen von der Last der Hausarbeit befreien sollten: kommunale Restaurants, Wäschereien, Kinderkrippen und Kindergärten. In den Jahren 1919 und 1920 wurden fast 90 Prozent der Bevölkerung von Petrograd (heute St. Petersburg) und 60 Prozent der Bevölkerung in Moskau durch öffentliche Volkskantinen versorgt. Für Kinder- und Jugendliche war das Mittagessen kostenlos, wie Kollontai später berichtet. »In keinem anderen Land gibt es so viele kollektive Wohnformen wie in unserer Arbeiterrepublik. Kollektive Wohnkommunen, Familienheime und besonders auch die Wohnungen für alleinstehende Frauen sind bei uns weit verbreitet.« Weiter erklärt sie: »Die notwendigen Reinigungsarbeiten werden von bezahlten Putzkräften erledigt und in einigen Wohnkommunen gibt es eine zentrale Wäscherei, eine Kinderkrippe und einen Kindergarten.«
Kollontai beschreibt ihren Zuhörerinnen, wie sich durch diese veränderten Bedingungen auch die menschlichen Beziehungen untereinander wandeln. Schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Frau vom Mann wirtschaftlich und finanziell unabhängiger, »weil sie sich durch eigene Arbeit ernährte. Genau seit diesem Zeitpunkt hat sich auch die Einstellung der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber dem unehelichen Kind etwas geändert.« Weiter erklärt sie: »Heute gibt es in unserer Arbeiterrepublik (zumindest in den Städten) die Tendenz, den privaten Haushalt durch neue gesellschaftliche Formen des kollektiven Lebens und Konsums (…) zu ersetzen. Die berufstätige Frau erhält ihre eigene Lebensmittelkarte, und ein dichtes Netz von sozialen staatlichen Einrichtungen ist im Entstehen. Deshalb hat sich der Charakter der Ehe verändert, die Partnerschaft beruht auf gegenseitiger Sympathie und nicht mehr auf wirtschaftlicher Berechnung.«
In ihren Vorlesungen benennt Kollontai aber auch die zahlreichen Baustellen, die noch angegangen werden müssen. Sie berichtet von den Schwierigkeiten einer Revolution in einem sehr armen, industriell nicht flächendeckend entwickelten und vom Krieg gebeutelten Land. An allen Ecken und Enden fehlen die materiellen Voraussetzungen, um Ausbeutung und Unterdrückung zu beenden.
Dieser Notstand spiegelt sich auch in Kollontais Argumenten nieder. Streckenweise begründet sie die durchgeführten Maßnahmen sehr funktional: »Wir müssen die Frauen von der unproduktiven Arbeit im Dienste der Familien befreien, damit sie endlich auf eine vernünftige Art und Weise – auch im Interesse der Familie – arbeiten können. Die Gesundheit der Frauen muss besonders geschützt werden, weil nur so eine positive Entwicklung des Bevölkerungswachstums in unserer Arbeiterrepublik garantiert werden kann.«
Hier wird die Tragik einer Revolution, die isoliert bleibt, deutlich. In anderen Ländern waren revolutionäre Bewegungen zu dieser Zeit nicht erfolgreich. Die Russische Revolution starb im Laufe der folgenden Jahre ab und das Land verwandelte sich in eine Diktatur. Die Bedürfnisse der Menschen gerieten wieder in den Hintergrund. Die Errungenschaften der revolutionären Jahre wurden zunichte gemacht.
Dieser Tragik zum Trotz: Kollontais Ausführungen machen deutlich, was alles möglich ist, wenn in einer Gesellschaft Menschen wichtiger sind als Profite. Sie entzündet einen Funken und zeigt, wie viel mehr Befreiung in der heutigen, unermesslich reicheren Welt möglich wäre.
Das Buch:
Alexandra Kollontai: »Die Situation der Frau in der gesellschaftlichen Entwicklung. Vierzehn Vorlesungen vor Arbeiterinnen und Bäuerinnen an der Sverdlov-Universität 1921« (Verlag Neue Kritik, 1977, 264 Seiten, 10,- Euro).
Zur Autorin:
Katrin Schierbach ist Mitglied der LINKEN in Berlin und Mitautorin von »Marxismus und Frauenbefreiung« (Edition Aurora, 1999, 122 Seiten, 6,- Euro).