Nicht belehren, sondern ermutigen, die Welt zu verändern – das ist die verschüttete Tradition linker Bildungspolitik. Nicole Gohlke stellt sie vor.
Eine andere Bildung, ein anderes Bildungssystem ist möglich. Die Geschichte der linken Bewegung bietet dafür fruchtbares Anschauungsmaterial: Ein Beispiel war der Versuch der Dessauer Bauhaus-Kunstschule, die Mauern zwischen Kunst und Handwerk einzureißen, um einen politisch bewussten Handwerker-Künstler hervorbringen, der seine Schaffenskraft in den Dienst einer lebenswerteren Gesellschaft stellt. Ein anderes lieferte der brasilianische Pädagoge Paolo Freire, der Anfang der 1970er die so genannte Befreiungspädagogik entwickelte – eine Pädagogik, die Schüler nicht als Objekte der Belehrung sah, sondern als gleichberechtigte Partner in einem Dialog. Ein besonders inspirierendes Beispiel lieferte die Russische Revolution von 1917, in deren Folge das gesamte Bildungssystem des bis dahin zaristischen Staats umgewälzt wurde.
Mit der Entstehung moderner Gesellschaften im Europa des 18. Jahrhunderts kam auch die Debatte über eine neues Bildungssystem auf. Die Vorkämpfer der Aufklärung setzten darauf, dass Menschen mittels Vernunft und Verstand die Welt begreifen und verändern. Deshalb plädierten sie für ein staatliches Schulsystem, das sich an wissenschaftlichen Leitlinien orientieren sollte. Bis dahin standen Schulen und Universitäten zumeist unter kirchlicher Kontrolle. Der Klerus predigte die Unterordnung unter das bestehende Feudalsystem und stand wissenschaftlichen Welterklärungen oft feindselig gegenüber, weil diese theologische Dogmen in Frage stellten.
Zunächst wurde jede Bemühung zur allgemeinen Volksbildung durch die massive Kinderarbeit der beginnenden Industrialisierung untergraben. Kinder ab vier, sechs oder acht Jahren arbeiteten nicht nur als Hilfskräfte und Dienstboten, sondern zu einem großen Teil zehn bis 16 Stunden täglich in der Textilindustrie, in Kohlengruben und Minen. Zu manchen Arbeiten im Bergbau wurden wegen ihrer geringen Körpergröße sogar nur Kinder herangezogen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war ein Drittel der Fabrikarbeiter in den USA zwischen sieben und zwölf Jahren alt. Kinder, die arbeiteten, waren nicht nur hohen Gesundheitsbelastungen ausgesetzt, sie kamen auch kaum in den Genuss schulischer Bildung.
Die Kinderarbeit wurde bald zu einem sozialen Problem. Die Armee hatte wegen der vielen kranken Kinder zunehmend Probleme, gesunde Rekruten zu finden. Preußen erließ deshalb 1839 ein Gesetz (Preußisches Regulativ), das Kindern unter neun Jahren die Arbeit in Fabriken verbot. Die neun- bis 16-Jährigen durften nicht mehr als zehn Stunden täglich arbeiten, nicht mehr an Sonntagen und nicht mehr nachts. 1853 wurde das Mindestalter für die Fabrikarbeit auf zwölf Jahre angehoben. Dennoch arbeiteten noch im Jahr 1858 12.500 Kinder im Alter von acht bis 14 Jahren in preußischen Fabriken.
Das war die Situation, in der die neu entstehende Arbeiterbewegung über die Bildungsfrage diskutierte. Ihr Ausgangspunkt war eine Analyse und Kritik des Kapitalismus. Millionen Landbewohner wurden zu dieser Zeit in die Städte und Fabriken gesogen – und wurden so von Bauern zu Arbeitern. In der Fabrik wurden sie »gebildet« – um Produktionsabläufe zu beherrschen. Für Sozialisten stellt die Übernahme der Produktion durch Arbeiter die ökonomische Grundlage der Demokratisierung der Wirtschaft dar. Deshalb standen Denker wie Karl Marx und Friedrich Engels dieser Tendenz, einschließlich der Einbindung von Kindern in die Produktion, grundsätzlich positiv gegenüber. Marx formulierte in einem Vorschlag für das Programm der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA): »Wir betrachten die Tendenz der modernen Industrie, Kinder und Jugendliche beiderlei Geschlechts zur Mitwirkung an dem großen Werk der gesellschaftlichen Produktion heranzuziehen, als eine fortschrittliche, gesunde und berechtigte Tendenz, obgleich die Art und Weise, auf welche diese Tendenz unter der Kapitalherrschaft verwirklicht wird, eine abscheuliche ist.«
Die »abscheuliche Tendenz« der Arbeit im Kapitalismus – das sind extrem langen Arbeitszeiten, Hungerlöhne und die Teilung der Arbeit in eintönige, sich ewig wiederholende Schritte. Deshalb forderte Engels unter Bezug auf die Schriften der sogenannten utopischen Sozialisten Charles Fourier und Robert Owen »die möglichst große Abwechslung der Beschäftigung für jeden Einzelnen, und dementsprechend die Ausbildung der Jugend für möglichst allseitige technische Tätigkeit.« Beide entwarfen die Vision, dass sich der Mensch universell entwickeln solle durch universelle praktische Betätigung, und dass die Arbeit den ihr durch die Teilung abhanden gekommenen Reiz der Anziehung wieder erhalten solle, zunächst durch diese Abwechslung und die ihr entsprechende kurze Dauer jeder einzelnen Arbeit.
Marx prägte den Begriff der »polytechnischen Ausbildung«. Gemeint war eine enge Verzahnung von Theorie und Praxis, »die die allgemeinen Prinzipien aller Produktionsprozesse vermittelt und gleichzeitig das Kind und die junge Person einweiht in den praktischen Gebrauch und die Handhabung der elementaren Instrumente aller Arbeitszweige«.
Genauer ausgearbeitet wurden die Vorstellungen über die Zukunft des Bildungssystems dann innerhalb der immer stärker werdenden SPD. Parteichef August Bebel widmete in seinem viel beachteten Werk »Die Frau und der Sozialismus« (1879) ein Kapitel der Grundstruktur des Bildungssystems in einer befreiten Gesellschaft: »Bildungs- und Lehrmittel, Kleidung, Unterhalt stellt die Gesellschaft; kein Zögling wird gegen den anderen benachteiligt (…). Entsprechend dem total veränderten Erziehungssystem, das die körperliche wie die geistige Entwicklung und Ausbildung der Jugend im Auge hat, muss die Zahl der Lehrkräfte wachsen. Auch wird die Einführung in die mechanischen Tätigkeiten in den aufs Vollkommenste eingerichteten Lehrwerkstätten, in die Garten- und Feldarbeiten einen wesentlichen Teil der Jugenderziehung bilden.« Man würde dies, so Bebel weiter, »alles mit Abwechslung und ohne Überanstrengung durchzuführen wissen, um möglichst vollkommen ausgebildete Menschen zu erziehen. Nicht nur der Unterricht, sondern auch die Lehrmittel sind unentgeltlich, einschließlich der Gegenstände für die Handarbeit und den Kochunterricht, für den Unterricht in der Chemie und Physik und die Gegenstände, die der Schüler am Experimentier- und Arbeitstisch nötig hat. Mit den meisten Schulen sind Turnhallen, Badeeinrichtungen, Schwimmbassins, Spielhallen verbunden.«
Diese Utopie fand ihre Umsetzung in konkreten Forderungen der Partei – die SPD stritt für Lernmittelfreiheit, freien Zugang zu Schulen und Hochschulen und die Einstellung von mehr Lehrkräften. Doch die konservativen Eliten im deutschen Kaiserreich blockierten umfassende Bildungsreformen.
Umgesetzt werden konnten die sozialistischen Bildungsvorstellungen hingegen woanders. Im vergleichsweise rückständigen Russland war 1917 der Zar durch eine Revolution gestürzt worden und wenige Monate später kam eine auf Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte gestützte Regierung an die Macht, die in zahlreichen gesellschaftlichen Bereichen tiefgreifende Änderungen durchführte –auch im Bildungswesen.
Das erste Bildungsgesetz von 1918 manifestierte diese Neuerungen. Im Vorspann verkündete das Gesetz den Geist und die Ideale der Revolution: »Die Persönlichkeit soll das höchste Gut der sozialistischen Kultur bleiben. Diese Persönlichkeit kann allerdings ihre üppigsten Blüten nur in einer harmonischen Gesellschaft von Gleichgestellten treiben. Wir vergessen nicht das Recht des Individuums auf seine eigene besondere Entwicklung. Wir haben es nicht nötig, an der Persönlichkeit herumzudoktern, sie zu betrügen, sie in eiserne Formen zu gießen, denn die Stabilität der sozialistischen Gemeinschaft beruht nicht auf der Uniformität von Kasernen, nicht auf künstlichem Drill, nicht auf religiösen und ästhetischen Täuschungen, sondern auf der tatsächlichen Solidarität der Interessen.«
Es folgten weitreichende Veränderungen im öffentlichen Bildungswesen. Trotz der katastrophalen Zustände infolge des Bürgerkriegs (1918–1920) und trotz des Widerstands der Mehrheit der Lehrenden wurden die Schulen durch die revolutionäre Aktion der Schüler und Schülerinnen und eines Teils des Lehrkörpers mit Unterstützung durch die lokalen Arbeiterräte und die Zentralregierung vollkommen umgekrempelt. Die treibende Philosophie war die von Marx übernommene Idee der polytechnischen Bildung. Die am weitesten verbreitete Methode war die der Projektarbeit, in der Kinder gemeinsam eine sozial nützliche Aufgabe übernahmen, durch die sie sowohl das Handwerkszeug und die Theorien erlernten, als auch die schöpferischen Fertigkeiten erwarben, die aus der jeweiligen Tätigkeit gewonnen werden konnten.
Universitäten und Schulen arbeiteten eng zusammen. Arbeiter sollten ein umfassendes wissenschaftliches Verständnis ihrer Tätigkeit erlangen können. Niemand sollte aufgrund von Unwissenheit seine Arbeit wie ein Rädchen in einer Maschine ausführen müssen. Elektriker besuchten Universitätskurse in Physik, und die besten Agrarexperten der Hochschulen dozierten für die Bauern. Diese Kurse wurden landesweit von tausenden Menschen besucht – trotz klirrender Kälte in den unbeheizten Hörsälen.
Prüfungen und Klausuren wurden abgeschafft und allen die Möglichkeit eines kostenlosen Studiums an der Universität eröffnet. Im ersten Jahr seit Verabschiedung des Bildungsgesetzes von 1918 verdoppelte sich die Zahl der Studierenden. Alle Schulkinder sollten bis zu ihrem 17. Lebensjahr die Schule besuchen – aufgrund der Rückständigkeit des Landes, der Zerstörungen durch den Ersten Weltkrieg und angesichts des Bürgerkriegs ein schwieriges Vorhaben, vor allem in den ländlichen Gegenden. Gleichzeitig wurde auch das Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden vollkommen umgekrempelt – die kollektive Basis, auf der die Schulen betrieben wurden, erforderte eine allumfassende Demokratisierung.
Der sowjetische Pädagoge Albert Pinkewitsch beschrieb die neue Beziehung zwischen Lehrern und Schülern: »Weder die Überantwortung aller schulischen Angelegenheiten ausschließlich den Kindern, noch, im Gegensatz dazu, die Übertragung von monopolartigen Privilegien auf die Erwachsenen, stellen einen vernünftigen Weg dar (…) der Lehrer spielt die Rolle eines Organisators, Helfers, Ausbilders und älteren Kameraden, aber nicht die eines Offiziers.« Der Lehrende war angehalten, einfache, kameradschaftliche Beziehungen mit den Schülern zu pflegen, und es wurde selbstverständlich für die Kinder, ihre Lehrkräfte beim Vornamen anzureden.
Die Schülerselbstverwaltung war ein wichtiger Schritt in Richtung zu mehr Demokratie. Ein internes Komitee von Schülern, Lehrern und Küchenpersonal wählte den Schulleiter bzw. die Leiterin, die bei Fehlleistung auch abgewählt werden konnten. Ein Schulrat bestehend aus Schülern, Angestellten, Eltern, dem örtlichen Sowjet und Gewerkschaften übte eine allgemeine Aufsicht über die Schule aus.
In der wichtigen Frage der Schuldisziplin – an unseren Schulen Anlass für unendliche Regeln und Vorschriften sowie Quelle vielerlei Spannungen – erklärt Pankewitsch: »Wir machen uns nicht übermäßig viele Sorgen darüber, welche Gesetze und Regeln das Kollektiv verabschiedet. Obwohl nach unserer Ansicht gelegentlich Fehler gemacht werden, ist es von zentraler Bedeutung, dass alle Regelungen von den Schülern selbst unter aktiver Beteiligung der Lehrer beschlossen und vom Kollektiv in die Tat umgesetzt werden. Es sollte jedoch (…) so wenig Regeln und Gesetze wie möglich geben.«
Die beinahe vollständige Zerstörung der Industrie ließ allerdings vielerorts die Forderung nach einer eingeschränkten Berufsausbildung auf Kosten der Allgemeinbildung aufkommen. Dem widersetzten sich ganz heftig revolutionäre Pädagogen wie Bildungskommissar Anatoli Lunatscharski und die Pädagogin und Frau Lenins, Nadeschda Krupskaja. Lunatscharski schrieb: »Es ist unverständlich, dass es zu einer Art Kampf kommt zwischen jenen Marxisten, die die Schwierigkeiten der gegenwärtigen Zeit verstehen, die Notwendigkeit, all unsere Kräfte zu bündeln und angesichts der momentanen Anforderungen Abstriche an unseren Idealen vorzunehmen – und jenen anderen Marxisten, die, trotz allem, es nicht dulden können, dass diese harten Zeiten die Blüten der ersten Hoffnungen der proletarischen Jugend zertrampeln, ihre erste Chance auf eine vielseitige Entwicklung.« Krupskaja drückte es wie folgt aus: »Die Berufsausbildung darf nicht einen Menschen zum Krüppel machen, indem sie aus ihm im frühen Alter einen engstirnigen Spezialisten macht.«
Mit Aufstieg des Stalinismus in den späten 1920er Jahren wurde dieses außerordentliche Bildungsexperiment zerstört. Die Bildung wurde bald wieder in ihre alte autoritäre Zwangsjacke gepresst. Nachdem Russland die Ausweitung der Revolution auf andere europäische Länder, insbesondere Deutschland, misslungen war, setzten Stalin und seine Anhänger auf den Aufbau des »Sozialismus in einem Land«. Dahinter verbarg sich ein Programm zur industriellen Entwicklung: »Wir liegen 50 bis 100 Jahre hinter den entwickelten Ländern.
Wir müssen diese Distanz in zehn Jahren überbrücken. Entweder wir schaffen es, oder wir werden vernichtet,« sagte Stalin. Auch das Bildungssystem wurde dementsprechend wieder umgestaltet – nicht mehr die Entfaltung der Persönlichkeit stand im Vordergrund, sondern die Ausbildung von staatstreuen Fachpersonal für die ökonomische und militärische Konkurrenz mit den entwickelten kapitalistischen Ländern.
Die Schülerselbstverwaltung wurde aufgehoben, und, analog zur Zentralisierung der Macht bei Stalin und seinen Getreuen, der Schuldirektor die maßgebliche Autorität in der Schule. Bis Anfang der 1930er Jahre hatten Schüler und Lehrer noch Mitspracherecht bei der Besetzung des Direktorpostens. 1935 wurde ihnen auch dieses genommen.
Ab 1929 wurde die freie polytechnische Projektarbeit über Bord geworfen und das alte System mit festen Schulklassen und festen Stundenplänen wieder eingefügt. Mitte der 1930er Jahre wurden Prüfungen wieder eingeführt – die Kernelemente des alten zaristischen Bildungssystems waren wiederhergestellt. Mit dem Scheitern der Revolution ging also auch die Reform des Bildungswesens unter. Trotzdem haben die ersten Jahre nach 1917 einen Blick darauf eröffnet, wie eine andere Bildung aussehen könnte.
Zur Person:
Nicole Gohlke ist hochschulpolitische Sprecherin der LINKEN im Bundestag.
- »Das dreigliedrige Schulsystem ist unsozial«: Wie funktioniert die Selektion in Wirtschaft, Politik und im Bildungssystem? marx21 sprach mit dem Eliteforscher Michael Hartmann
- Geistige Enteignung: Zehntausende Studierende und Lehrende protestierten gegen gravierende Mängel an den Universitäten. Im Juni werden die Proteste fortgesetzt. Nicole Gohlke und Janine Wissler über die Hintergründe und den neoliberalen Umbau der Hochschulen
-
Mehr Bafög statt Taschengeld für die Elite: Von Merkels »Bildungsrepublik« profitiert vor allem Kinder von Reichen, meint Nicole Gohlke, hochschulpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE. Hier ihre Rede im Bundestag als Video ansehen