Jürgen Ehlers untersucht die Bedingungen des kurdischen Befreiungskampfes nach dem Sturz des syrischen Diktators Assad.
Vor knapp zehn Jahren wurde im Nordwesten Syriens ein bemerkenswertes politisches Experiment gestartet. Die autonome Region ist unter dem Namen Rojava bekannt geworden. Der Anspruch der politischen Akteure von Selbstverwaltung und Gleichberechtigung aller dort lebenden Ethnien und von Männern und Frauen, löste nicht nur in Deutschland eine Welle von Solidarität mit dem ständig von außen bedrohten Experiment aus. Heute sind die dort lebenden Menschen mehr denn je davon bedroht, zum Spielball von politischen Interessen zu werden, die sie nicht ausreichend beeinflussen können, um das Experiment fortzuführen.
Der Arabische Frühling löste auch in Syrien zunächst friedliche Proteste gegen das Assad-Regime aus, die der Diktator mit Unterstützung Russlands brutal unterdrückte und damit einen über zehn Jahre währenden blutigen Bürgerkrieg auslöste. Ohne diesen Bürgerkrieg gäbe es das kurdische Autonomiegebiet im Nordwesten des Landes an der Grenze zur Türkei nicht. Die Region ist inzwischen weltweit unter dem Namen Rojava bekannt geworden. Das Assad-Regime, das jahrzehntelang alle kurdischen Autonomiebestrebungen unterdrückt hatte, war 2012 so in Bedrängnis geraten, dass es seine Truppen aus diesem Gebiet abzog, weil diese an anderer Stelle zur Bekämpfung der verschiedenen Bürgerkriegsparteien eingesetzt werden sollten. Dieser Rückzug eröffnete der kurdischen YPG (Volksverteidigungseinheit) die Chance, eine Selbstverwaltung der Region unter ihrer Kontrolle zu etablieren.
Der YPG gelang es 2014 mit Hilfe der USA und den kurdischen Peschmerga aus dem Irak einen massiven Angriff des Islamischen Staates (IS) auf die Grenzstadt Kobanê im Norden von Rojava abzuwehren. Ein entscheidender militärischer Sieg, der für das politische Gewicht der YPG in Rojava von großer Bedeutung gewesen ist und zu einem Bündnis mit anderen Organisationen in dem Gebiet führte. »Mit dem territorialen Vorstoß gegen den IS, der sich auf arabischem Gebiet befand, und dem Zusammenschluss der kurdischen mit den anderen Kräften unter dem Schirm der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) wurde aus der ursprünglich mehrheitlich kurdischen Autonomie ein multiethnisches Projekt (…).« (Dastan Jasim in: Aus Politik und Zeitgeschichte am 6.6.2025)
Unterschiedliche Interessen
Weder den USA noch den irakischen Peschmerga ging es dabei um die Unterstützung der politischen Intention, die mit der autonomen Region Rojava seitens der YPG verbunden wird. Ihnen ging es ausschließlich um den Kampf gegen den IS, weil der ihre eigenen Interessen zu gefährden drohte. Die USA wollen mit Hilfe der Kurden ihren Einfluss auf die weitere Entwicklung in Syrien sicherstellen und hinter den Peschmerga, die von Deutschland mit Waffen und Ausbildern unterstützt worden sind, stehen die beiden sehr einflussreichen und sehr reichen kurdischen Herrscherfamilien Talabani und Bazani, die nicht nur im Irak eine wichtige Rolle spielen. Auch die hatten ein starkes Eigeninteresse den IS zu bekämpfen, um den eigenen Einfluss zu sichern. Die Unterstützung der YPG war für sie lediglich ein nicht zu vermeidendes, notwendiges Übel.
Die politische Intention der YPG ist identisch mit der Vision für eine Befreiung aller Kurden von Unterdrückung und für Selbstbestimmung, die Abdullah Öcalan 2010 unter dem Titel Jenseits von Staat, Macht und Gewalt veröffentlicht hat. Öcalan ist 1978 der wichtigste Mitbegründer der PKK gewesen, der bis heute ihre politische Richtung bestimmt, obwohl er seit 1999 in einem türkischen Gefängnis sitzt. Heute kritisiert er die stalinistische Vergangenheit der PKK, während der immer wieder brutale Säuberungen in den eigenen Reihen durchgeführt wurden. Das Ziel der PKK war ein kurdischer Staat, der stellvertretend für die Volksmassen durch den bewaffneten Kampf erzwungen werden sollte.
Autonome Verwaltung
Heute tritt Öcalan und mit ihm die PKK und auch die PYD für eine Gesellschaft ein, in der »das Volk sowohl auf lokaler als auch auf allgemeiner Ebene in regelmäßigen Abständen für die gemeinsamen gesellschaftlichen Bedürfnisse, vor allem ökonomische, soziale und politische, nach Antworten sucht und die Personen wählt und kontrolliert, die sie finden sollen. Demokratie geht den Staat nichts an. (…) Der Staat kann allenfalls dessen demokratischen Willen respektieren. Er ist lediglich für die Erbringung notwendiger Dienstleistungen zuständig.« (Öcalan 2010, S. 461-462)
Dahinter steht seine Theorie, nach der das Privateigentum an Produktionsmitteln eine Folge der Herausbildung von Staaten ist und sich mit einer Demokratisierung dieser Staaten auch die Verfügung über die Produktionsmittel demokratisieren lässt. Das ist genau das Gegenteil der Analyse von Friedrich Engels, der in »Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats« zu der Schlussfolgerung kommt: »Da der Staat entstanden ist aus dem Bedürfnis, Klassengegensätze im Zaum zu halten, da er aber gleichzeitig mitten im Konflikt dieser Klassen entstanden ist, so ist er in der Regel Staat der mächtigsten, ökonomisch herrschenden Klasse, die vermittelst seiner auch politisch herrschende Klasse wird und so neue Mittel erwirbt zur Niederhaltung und Ausbeutung der unterdrückten Klasse.«
Das ist keine akademische Diskussion, denn die Schlussfolgerungen aus diesen beiden Sichtweisen können unterschiedlicher nicht sein. Öcalan schreibt: »Ich finde die Fragen nach einer alternativen Wirtschafts-, Klassen- und Sozialstruktur nicht besonders bedeutsam. (…) Freiheit stellt sich dort ein, wo man das Arbeiter- und Bauerntum, wenn schon nicht ökonomisch, so doch zumindest mental und in der demokratischen Politik überwindet. (…) Eine Gesellschaft, der es gelingt, demokratisch zu sein, kann keine Arbeitslosigkeit produzieren.« (Öcalan 2010, S 298) Damit wird eine Illusion geschürt, die es der YPG in Rojava gegenwärtig erlaubt, die Besitzverhältnisse und damit die Verfügungsgewalt über Rohstoffquellen und Großgrundbesitz nicht anzutasten und trotzdem die Hoffnung auf ein besseres Leben für alle aufrecht zu erhalten. Diese Illusion droht früher oder später in einem bösen Erwachen zu enden.
Wessen Staat
Engels hat sich keinen Illusionen in der Frage hingegeben, ob sich ein Staat gegen die Interessen der herrschenden Klasse zur Demokratisierung von ökonomischen Entscheidungen und den damit verbundenen Profitinteressen einsetzen lässt. Er hat sich der harten Realität gestellt und daraus die Schlussfolgerung gezogen, dass eine Demokratisierung von ökonomischen Entscheidungen im Interesse aller Menschen nur nach dem Sturz des Kapitalismus möglich ist. Davon sind wir gegenwärtig noch weit entfernt, aber die große Unzufriedenheit mit den nach dem Arabischen Frühling unverändert schlechten sozialen Verhältnissen in allen arabischen Ländern und der wachsenden Unzufriedenheit in der Türkei infolge der neoliberalen Wirtschaftspolitik der AKP unter Recep Erdoğan, bietet eine Chance den Kampf gegen die politische Unterdrückung mit dem für soziale Verbesserungen zu verbinden.
Mit dem Sturz Assads im Dezember 2024 haben sich die politischen Rahmenbedingungen für Rojava grundlegend verändert. Die Führung der SDF unter dem Kommando von Mazlum Abdi hat mit dem gegenwärtigen Machthaber Syriens Ahmed al-Scharaa (Führer der Hayet Tahrir al-Scham, kurz HTS) im März 2025 ein sehr weitgehendes Abkommen geschlossen. Die HTS wurde 2017 als Zusammenschluss der Al-Nusrah-Front (ANF), eines Al-Qaida-Ablegers, und mehrerer anderer Gruppen gegründet. Das Abkommen sieht vor, dass die 100.000 Soldat:innen der SDF in die im Aufbau befindliche neue syrische Armee integriert werden, nachdem das bereits mit der Syrisch Nationalen Armee (SNA) geschehen ist. Diese ist bisher von der Türkei im Kampf gegen die Kurden in Syrien unterstützt worden. Damit ist ein äußerst fragiles Zweckbündnis geschlossen worden, um den bewaffneten Arm des neuen syrischen Staatsapparates aufzubauen, in dem die widersprüchlichen Interessen der daran Beteiligten fortleben.
Befürchtungen
Die Kurd:innen in Syrien sollen im Gegenzug zu gleichberechtigten Staatsbürger:innen werden, die ihre Kultur und Sprache pflegen dürfen, verzichten dafür aber zukünftig auf alle Autonomiebestrebungen. Das Misstrauen in den Reihen der YPG, die Teil der SDF gewesen ist, könnte nicht größer sein. Vor allem die Frauen fürchten um ihre zukünftige Stellung in der syrischen Gesellschaft. Der Journalist Philippe Pernot lässt in einem doppelseitigen Artikel der Frankfurter Rundschau am 14.6.2025, stellvertretend für viele andere, eine der Frauen zu Wort kommen: »In Rojava bilden Frauen die Speerspitze der Freiheits- und Umweltbewegung. Viele Bauerntöchter haben studiert oder mitgekämpft. Hier hätte es ohne sie keine Revolution gegeben.« Die starke Stellung der Frauen ist, bei aller berechtigten Kritik an dem Projekt, eine der größten Errungenschaften in Rojava. Das Projekt übte bisher auf viele Frauen in der ganzen Region eine große Anziehung aus, die nicht nur in Syrien unter sehr strengen patriarchalen Familienstrukturen leiden.
Zeitgleich mit der Entwicklung in Syrien hat die PKK in der Türkei angekündigt, den bewaffneten Kampf einzustellen und sich aufzulösen, ohne dass es bisher feste Zusagen seitens der Regierung unter Erdoğan gegenüber den Kurden gegeben hätte. Dem Entschluss der PKK gingen Gespräche der faschistischen MHP, dem Koalitionspartner der AKP, mit Öcalan im Gefängnis voraus. Die Pressemitteilung der PKK, die von Zeit-online am 12.5.2025 veröffentlicht worden ist, liest sich zwischen den Zeilen wie das Eingeständnis eines politischen Scheiterns, darin heißt es: »Der Kampf der PKK [hat] die Sache der Kurden an einen Punkt einer Lösung durch demokratische Politik geführt.« Und das ausgerechnet mit der Regierung von Erdoğan.
Autokrat unter Druck
Die ganzen Hoffnungen auf eine bessere Zukunft für die Kurden in der Türkei ruhen auf dem politischen Druck, dem sich der Autokrat Erdoğan ausgesetzt sieht. Die Unzufriedenheit vieler Menschen mit der schlechten Wirtschaftslage und ihre enttäuschten Erwartungen in die AKP haben die Opposition so stark gemacht, dass er sie jetzt ins Gefängnis werfen lässt. Das prominenteste, aber längst nicht das einzige Beispiel, ist der Oberbürgermeister von Istanbul Ekrem Imamoğlu, der auch die Unterstützung vieler Kurd:innen genießt. Erdoğans Kalkül besteht in dem durchsichtigen Versuch die Oppositionsbewegung zu spalten, in dem er den Kurden vage Zugeständnisse in Aussicht stellt, um so ihre Unterstützung bei den nächsten Wahlen und einer diskutierten Verfassungsänderung zu gewinnen, die ihm eine dritte Amtszeit ermöglichen würde. Ein sehr ähnliches Vorgehen führte bereits vor etwa zehn Jahren zu einem kurzfristigen Tauwetter zwischen AKP und den kurdischen Organisationen. Als der Plan zur parlamentarischen Mehrheitsbeschaffung nicht auf ging, brach der Konflikt mit unverminderter Härte erneut auf.
Hoffnung
Eine sich über Monate hinziehende große Protestwelle der politisch unterdrückten armen Bevölkerung zusammen mit Studenten, erschütterte ab 2010 die nordafrikanischen Staaten, den Nahen Osten und in der Folge auch die Türkei. Dieser sogenannte Arabische Frühling brachte alte diktatorische Regime zum Einstürzen, ohne die Herrschaftsverhältnisse in den verschiedenen Ländern grundlegend zu verändern. Die Folge war in den meisten Fällen eine Restauration der alten Verhältnisse mit neuem Personal, manchmal verbunden mit Veränderungen im politischen System. Die wichtigen Erfahrungen, die die Oppositionsbewegung während des Arabischen Frühlings sammeln konnte, sind die Basis, irgendwann einen erneuten, erfolgreicheren Versuch zu unternehmen, die Forderungen nach Demokratie und Bekämpfung der Armut durchzusetzen.
Auch für die kurdische Befreiungsbewegung mit ihren vielen unterschiedlichen Strömungen und teilweise gegensätzlichen Interessen, kann damit ein erfolgversprechender Weg im Kampf gegen die Unterdrückung verbunden sein. Die gegensätzlichen Klasseninteressen unter den Kurden lassen sich nicht wegdiskutieren oder durch besonders entschlossenes Handeln, wie dem bewaffneten Kampf, beiseite schieben. Zu der Unterdrückung und Bedrohung von außen ist so immer die Schwächung des Widerstandes von innen gekommen. Daraus müssen Schlussfolgerungen gezogen werden, die eine Verknüpfung des nationalen Befreiungskampfes mit den Kämpfen für Demokratisierung und Verbesserung der sozialen Lage der Syrer und Türken gegen die eigene Regierung ermöglichen.



